- 2020 sollte die EU-Zukunftskonferenz beginnen; stattdessen kam Corona. Das muss im neuen Jahr besser werden!
Als ich auf diesem Blog vor einem Jahr darüber geschrieben habe, was die EU im Jahr 2020 erwartet, ging es um die politische Agenda der frisch gewählten Von-der-Leyen-Kommission, den Brexit, den mehrjährigen Finanzrahmen und andere Themen. Knapp zwei Wochen später, am 31. Dezember 2019, bestätigten chinesische Behörden, dass einige Dutzend Menschen in Wuhan an einer neuartigen Lungenentzündung erkrankt waren. Mitte Februar traf die Corona-Pandemie Europa, der Rest ist bekannt (oder kann hier nachgelesen werden).
Was also erwartet die EU im Jahr 2021?
Corona
Die gute Nachricht zuerst: Noch vor dem Jahreswechsel will die Europäische Arzneimittelagentur EMA über die Zulassung des ersten Corona-Impfstoffs entscheiden; ab dem 27. Dezember soll nach den Plänen der Kommission europaweit mit den Impfungen begonnen werden. Um dabei Wettläufe zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden, hat die EU zentral Impfdosen angekauft, die sie entsprechend der Bevölkerungsgröße auf die Mitgliedstaaten verteilt. Die Priorisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen und die organisatorische Umsetzung, zum Beispiel der Aufbau von Impfzentren, sind dann allerdings Sache der Mitgliedstaaten.
Sobald sich die Situation zu bessern beginnt, muss auch der Ausstieg aus den derzeitigen innereuropäischen Reiseeinschränkungen auf die Tagesordnung rücken. Die schlechte Nachricht: Da die Produktion und Verteilung der Impfungen Zeit benötigt, dürfte es mindestens mehrere Monate dauern, bis wirklich ein Ende der Pandemie in Sicht kommt.
Wirtschaftlicher Wiederaufbau
Zum Jahreswechsel tritt auch der neue mehrjährige Finanzrahmen 2021-27 in Kraft, auf den sich die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament jüngst geeinigt haben. Der neue Langfrist-Haushalt bringt unter anderem mehr Mittel für Erasmus+, für die Gesundheitspolitik, für Maßnahmen zum Klimaschutz und für die Digitalisierung.
Die wichtigste Neuerung aber ist der Corona-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU, für den die EU erstmals in großem Stil eigene Anleihen begeben wird. Die dadurch aufgetriebenen Mittel werden dann – teils als Darlehen, teils als Zuschuss – an die Mitgliedstaaten weitergereicht, die zu diesem Zweck bis April sogenannte Aufbau- und Resilienzpläne mit konkreten Projekten vorlegen müssen. Auch hier werden Klima- und Digitalisierungsziele wieder eine zentrale Rolle spielen.
Dass die EU in dieser Form Kredite aufnimmt, um die Konjunktur anzukurbeln, ist ein historisches Novum und vorerst auf den besonderen Fall des Corona-Wiederaufbaus beschränkt. Der Erfolg oder Misserfolg von NextGenerationEU wird wohl darüber entscheiden, ob es ein einmaliges Experiment bleibt oder ein Modell für den Umgang mit künftigen europäischen Wirtschaftskrisen wird.
Rechtsstaatsmechanismus
Erkauft wurde die Einigung über den neuen Finanzrahmen und NextGenerationEU allerdings auch mit einer Entschärfung des Rechtsstaatsmechanismus, nach dem EU-Mittel nur noch an Mitgliedstaaten gehen sollen, die sich an Rechtsstaatsprinzipien halten. Der Mechanismus wird zwar wie geplant zum 1. Januar in Kraft treten, doch schnelle Maßnahmen gegen autoritäre Regierungen wird es auf seiner Grundlage eher nicht geben. Vielmehr will die Kommission nach einer Einigung im Europäischen Rat erst einmal „Leitlinien“ für seine Anwendung erarbeiten und zudem das Ergebnis einer (noch einzureichenden) Nichtigkeitsklage Polens und Ungarns vor dem Europäischen Gerichtshof abwarten.
Im Europäischen Parlament hat diese Verzögerung allerdings zu einigem Unmut und einer scharf formulierten Resolution geführt, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) hervorzuheben veranlasste, dass die Kommission jedenfalls keine Fälle von Rechtsstaatsverstößen unter den Tisch fallen lassen werde. Die Diskussion darüber, wie die Kommission den Rechtsstaatsmechanismus anwendet, dürfte auch im neuen Jahr weitergehen. Erst einmal aber richten sich alle Augen auf den Europäischen Gerichtshof und die erwartete Nichtigkeitsklage, zu der in einem beschleunigten Verfahren eine Entscheidung noch 2021 fallen könnte.
Rechtsstaatlichkeit vor dem EuGH und in der EVP
Und das ist nicht das einzige Verfahren, mit dem der Europäische Gerichtshof im neuen Jahr in die Rechtsstaatsfrage eingreifen wird. Auch im langen Streit um die polnische Disziplinarkammer ist 2021 mit einem Urteil zu rechnen. Eine einstweilige Verfügung, mit der der EuGH eine Einstellung der Tätigkeit der Disziplinarkammer anordnete, hat Polen bereits ignoriert. Sollte das Land auch das endgültige Urteil missachten, käme die Kommission kaum umhin, als nächsten Eskalationsschritt vor dem EuGH ein Zwangsgeld zu beantragen.
Weiterer Druck könnte von den Niederlanden ausgehen: Deren Parlament hat jüngst die eigene Regierung aufgefordert, eine eigene Klage nach Art. 259 AEUV gegen Polen zu prüfen. Und dann gibt es natürlich immer noch die anhängigen Artikel-7-Verfahren gegen Polen und Ungarn, die der Rat allerdings bereits seit mehreren Jahren verschleppt. Ob es hier 2021 Fortschritte gibt, darf bezweifelt werden.
Bewegung könnte hingegen in die ebenfalls schon lang andauernde Diskussion um die Mitgliedschaft der ungarischen Regierungspartei Fidesz in der Europäischen Volkspartei kommen. Nachdem die Entscheidung über einen Ausschluss zuletzt mehrmals verschoben wurde, soll nun ein EVP-Treffen Anfang Februar Klarheit bringen. Als entscheidender Faktor gilt dabei die Positionierung der deutschen CDU, die im Januar 2021 einen neuen nationalen Parteivorsitzenden wählt. Von den drei Kandidaten hat bislang allerdings noch keiner offen Stellung zur Fidesz-Frage bezogen.
Nationale Wahlen in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten
Die Wahl des neuen CDU-Vorsitzenden ist zugleich auch der informelle Auftakt für den deutschen Bundestagswahlkampf. Die Wahl am 26. September wird auch für die EU insgesamt eine Zäsur sein, markiert sie doch das Ende der Ära Angela Merkel (CDU/EVP), die seit anderthalb Jahrzehnten den Europäischen Rat und damit auch die Europäische Union insgesamt geprägt hat wie keine andere. Welche Kanzler:in in welcher Regierungskonstellation Merkel nachfolgen wird und was das für die künftige Ausrichtung der deutschen Europapolitik bedeutet, ist derzeit noch sehr offen – mehr dazu in den nächsten Monaten auf diesem Blog.
Aber auch andere nationale Wahlen werden im neuen Jahr gesamteuropäische Bedeutung haben. Bereits im Frühling wird in Bulgarien gewählt, wo die Regierung unter Bojko Borissow (GERB/EVP) zuletzt zunehmend autoritäre Züge angenommen hat. Die insgesamt recht volatilen Umfragen lassen ein knappes Rennen erwarten. Im März muss in den Niederlanden die liberal-christdemokratische Regierungskoalition unter Mark Rutte (VVD/ALDE) ihre Mehrheit verteidigen. Voraussichtlich im Mai ist das zyprische Parlament an der Reihe, wo jedoch nur wenig Änderungen zu erwarten sind; Präsident Nikos Anastasiades (DISY/EVP) ist ohnehin direkt gewählt und noch bis 2023 im Amt. Und schließlich findet im Herbst 2021 die tschechische Abgeordnetenhauswahl statt, bei der die Regierungspartei ANO (ALDE) wohl erneut stärkste Kraft wird, aber mit einer schwierigen Koalitionsbildung konfrontiert sein könnte.
Klima, Digitales, Soziales, Migration
Und natürlich werden auch die großen Langzeitthemen wieder auf der politischen Agenda stehen. Bei seinem letzten Treffen im Dezember hat sich der Europäische Rat auf ambitioniertere EU-Klimaziele geeinigt; im kommenden Jahr muss nun darüber diskutiert werden, wie diese erreicht werden sollen und welches Mitgliedsland wie viel dazu beitragen wird. Für den digitalen Binnenmarkt plant die Kommission zwei große Gesetzgebungspakete, die die Marktmacht von Internetgiganten wie Facebook, Google und Amazon einhegen und den digitalen Wettbewerb sowie Verbraucherrechte stärken sollen. Die sozialistische Regierung in Portugal, die in der ersten Jahreshälfte den Vorsitz im Ministerrat übernimmt, will einen Aktionsplan für die europäische Säule sozialer Rechte auf die Tagesordnung eines „Sozialgipfels“ setzen, zu dem sich der Europäische Rat Anfang Mai in Porto treffen wird.
In der Asyl- und Migrationspolitik schließlich liegt über fünf Jahre nach der Krise von 2015 noch immer vieles im Argen. Das Sterben im Mittelmeer auf der einen und die rechtspopulistische „Umvolkungs“-Demagogie auf der anderen Seite haben zwischen den Parteien und zwischen den Mitgliedstaaten tiefe Gräben aufgerissen. Im September hat die Kommission ein neues Konzept vorgelegt, das einen Kompromiss darstellen sollte, aber von fast allen Seiten auf Kritik stieß. Im neuen Jahr werden die Diskussionen darüber weitergehen – während durch Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie die Versorgungslage in den Flüchtlingslagern im Libanon so schlecht geworden ist, dass eine mögliche neue große Fluchtbewegung nach Europa niemanden überraschen sollte.
Brexit
Bereits seit 31. Januar 2020 ist das Vereinigte Königreich kein Mitglied der Europäischen Union mehr, doch bis jetzt verhinderte das Übergangsabkommen allzu dramatische Folgen. Das könnte sich mit dem Jahreswechsel schlagartig ändern – wenn die Verhandlungen über ein Handelsabkommen nicht noch an diesem Wochenende zu einer Einigung führen (die dann zur Ratifikation über Weihnachten durch das britische und das Europäische Parlament gepaukt werden müsste), steht ein No-Deal-Brexit vor der Tür.
Wenn es dazu kommt, wäre das für allem für Großbritannien mit starken wirtschaftlichen Verwerfungen verbunden, die zu der durch die Corona-Pandemie ausgelöste Rezession hinzukämen. Offen sind allerdings die politischen Folgen: Werden Großbritannien und die EU einfach weiterverhandeln, um möglichst schnell doch noch ein Handelsabkommen zu erzielen? Wird es zu einer Phase der Abkühlung kommen, in der beide Seiten sich vorübergehend mit den neuen Handelshemmnissen arrangieren, aber mit der Möglichkeit, später wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren? Oder wird die Situation eskalieren, die britische Öffentlichkeit die Schuld für die Wirtschaftskrise bei der EU suchen, die Nordirland- und die Schottland-Frage neu aufbrechen?
Außenpolitik
Außenpolitisch dürften sich viele europäische Augen in den nächsten Monaten auf den neuen US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden (D/PA) richten. Nach den turbulenten Trump-Jahren weckt Biden Hoffnung auf eine Normalisierung des transatlantischen Verhältnisses. Aber was soll eine solche Normalisierung eigentlich bedeuten? Schon wenige Tage nach der US-Präsidentschaftswahl im vergangenen November stritten die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU/EVP) und der französische Präsident Emmanuel Macron (LREM/ALDE-nah) öffentlich darüber, wie nah sich die EU-Außenpolitik künftig an die USA anlehnen soll – eine Diskussion, die mit Sicherheit auch im neuen Jahr weitergehen wird.
Darüber hinaus werden auch die EU-Afrika-Beziehungen 2021 stärker in den Mittelpunkt rücken. Ein ursprünglich für vergangenen Oktober geplanter und dann wegen der Corona-Pandemie abgesagter Gipfel soll im März nachgeholt werden. Es gibt viel zu besprechen, insbesondere zur Handels- und zur Migrationspolitik. Zudem übernimmt mit Portugal im ersten Halbjahr 2021 ein Land die Ratspräsidentschaft, in dessen Außenpolitik die Afrika-Beziehungen traditionell einen hohen Stellenwert einnehmen.
Und natürlich wird es auch im neuen Jahr nicht an außenpolitischen Krisen vor der Haustür der EU mangeln – von den angespannten Beziehungen zur Türkei über die anhaltenden Proteste gegen die gefälschten Wahlen in Belarus bis zu der schwierigen Lage in der Ukraine.
Konferenz zur Zukunft Europas
Und was wird bei alledem aus der Konferenz zur Zukunft Europas, die doch eigentlich schon seit Mai 2020 neuen Schwung für die europäische Demokratie bringen sollte? Der nächste Schritt müsste nun eigentlich eine gemeinsame Erklärung sein, in der Kommission, Parlament und Rat Zusammensetzung, Zeitplan und Mandat der Konferenz festlegen. Doch die Gespräche dafür kommen nicht voran – vordergründig aufgrund der Uneinigkeit zwischen den Institutionen über den Vorsitzende:n der Konferenz und der logistischen Probleme einer Konferenz unter Corona-Bedingungen. Tatsächlich dürfte das wichtigste Hindernis allerdings eher der Unwille zahlreicher Regierungen sein, sich überhaupt auf grundsätzliche EU-Reformen einzulassen.
Klar ist jedoch: Wenn die Konferenz nicht 2021 beginnt, wird kaum genug Zeit bleiben, um ihre Ergebnisse vor der Europawahl 2024 umzusetzen. Schon jetzt ist absehbar, dass Dossiers wie die EU-Wahlrechtsreform aus Zeitgründen vorgezogen und nicht mehr im Rahmen der Konferenz behandelt werden. Sollte die Konferenz ganz scheitern, wäre das ein fatales Zeichen für die Reformfähigkeit der EU. Nach einem Jahrzehnt, in dem im Namen des Krisenpragmatismus intergouvernementale Strukturen immer weiter an Bedeutung gewonnen haben, ist es an der Zeit, wieder über Demokratie zu sprechen.
Erst einmal aber geht dieses Blog in seine alljährliche Winterpause. Allen Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein glückliches und gesundes neues Jahr!
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