Zu den größten
politischen Errungenschaften dieses Jahres zählte ohne Zweifel die
Demokratisierung
der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten. Lange Zeit war der Chef
der europäischen Exekutive von den nationalen Staats- und
Regierungschefs in undurchsichtigen Hinterzimmer-Vereinbarungen
ausgesucht und vom Europäischen Parlament lediglich bestätigt
worden. Diesmal hingegen stellten die europäischen Parteien schon
vor der Europawahl Spitzenkandidaten auf und ermöglichten so den
Bürgern selbst ein indirektes Mitspracherecht über dieses
wichtigste Amt der EU. Allerdings fiel dieses neue Verfahren
natürlich nicht vom Himmel: Es war nicht zuletzt das Ergebnis
langjährigen Drucks aus der Zivilgesellschaft, besonders der Union
Europäischer Föderalisten, die bereits vor der vorherigen
Europawahl 2009 eine
Kampagne gestartet hatte, die unter dem Slogan Who is your
candidate? die europäischen Parteien zu einem transparenteren
Wahlverfahren aufforderte.
Von der europäischen zur
globalen Ebene: Auch bei den Vereinten Nationen wird in Kürze der
Chef der Exekutive neu gewählt. Die Amtszeit des derzeitigen
UN-Generalsekretärs Ban Ki-Moon dauert zwar noch bis Ende 2016,
doch die diplomatischen Mühlen in New York mahlen bekanntlich eher
langsam, und so zirkulieren bereits die
ersten Listen mit Namen möglicher Kandidaten. Inoffiziell,
natürlich. Denn die Wahl des UN-Generalsekretärs zählt wohl zu den
intransparentesten Ernennungsverfahren, die es überhaupt in einer
überstaatlichen Organisation gibt. Aber immerhin gibt es auch hier
inzwischen erste Bemühungen, um das zu ändern.
Der unmöglichste Job
der Welt
Generalsekretär der
Vereinten Nationen zu sein ist nach einem bekannten Bonmot des ersten
Amtsinhabers Trygve Lie der „unmöglichste Job der Welt“. Gemäß
der UN-Charta
ist der Generalsekretär „der höchste Verwaltungsbeamte der
Organisation“; die Homepage
der Vereinten Nationen beschreibt ihn als „Fürsprecher für
die Interessen der Völker der Welt“. Wie der Präsident der
Europäischen Kommission übt er seine Tätigkeit in voller
politischer Unabhängigkeit aus. Seine genauen Zuständigkeiten
bleiben in der Charta allerdings eher vage: Er kann „die
Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf jede Angelegenheit lenken, die
nach seinem Dafürhalten geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens
und der internationalen Sicherheit zu gefährden“ und nimmt zudem
„alle sonstigen […] Aufgaben wahr“, die ihm von einem der
anderen UN-Hauptorgane zugewiesen werden.
Der Generalsekretär hat
also nur wenig konkrete Macht,
um eigene Entscheidungen gegen den Willen anderer Akteure
durchzusetzen: Für große inhaltliche Beschlüsse ist er stets auf
die Unterstützung des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung
angewiesen. Durch seine zentrale Koordinierungsfunktion übt er aber
sehr viel Einfluss auf die politische Agenda aus. So bildet er nicht
nur die kommunikative Schaltstelle zwischen den 193 Mitgliedstaaten,
sondern auch zwischen den zahlreichen Einzelprogrammen, Fonds und
Agenturen, die das UN-System heute umfasst. Insbesondere leitet er
das UN System Chief Executives Board
for Coordination (UNSCEB), in dem die Chefs der einzelnen
UN-Sonderorganisationen ihre Tätigkeiten aufeinander abstimmen.
Versteht man diese
Sonderorganisationen, die jeweils für einen konkreten inhaltlichen
Bereich wie Arbeit, Landwirtschaft, Gesundheit, Kultur oder Handel
zuständig sind, als die „Ministerien“ der Vereinten Nationen, so
bildet das UNSCEB gewissermaßen das Regierungskabinett. Dieser
Vergleich hinkt zwar insofern, als nicht jede Sonderorganisation
sämtliche UN-Mitgliedstaaten umfasst. Die Präsidenten der
Sonderorganisationen werden deshalb jeweils einzeln von den
nationalen Regierungen ihrer jeweiligen Mitgliedstaaten ernannt und
sind dem Generalsekretär gegenüber nicht politisch verantwortlich.
Außerdem leidet das Völkerrecht auch an
seiner starken Fragmentierung, was ohnehin jede Parallele
zwischen den UN und einem klassischen Verfassungsstaat schwierig
macht. Klar ist aber: Wenn es jemals so
etwas wie einen Welt-Regierungschef geben wird, dann wird sich
sein Amt aus dem des UN-Generalsekretärs entwickeln.
Persönlichkeit der
Amtsinhaber
Diese herausgehobene
Position des UN-Generalsekretärs bei gleichzeitig weitgehender
Offenheit seiner formalen Zuständigkeiten führt natürlich auch
dazu, dass hier noch stärker als bei anderen politischen Ämtern die
Persönlichkeit des Amtsinhabers eine wesentliche Rolle spielt.
Entsprechend unterschiedlich wurde es auch im
Lauf seiner Geschichte ausgeübt: von Aktivisten wie Dag
Hammarskjöld (1953-1961), der die Aufstellung der ersten bewaffneten
Blauhelmtruppen vorantrieb und posthum den Friedensnobelpreis
erhielt, und von eher passiven Vermittlern wie Kurt Waldheim
(1972-1981), der „weltferne Visionen“ explizit ablehnte und in
erster Linie auf die Interessen der Supermächte Rücksicht nahm.
Auch die letzten
zweieinhalb Jahrzehnte zeigten ganz unterschiedliche Charaktere an
der Spitze der UN-Exekutive. Zunächst versuchte Boutros
Boutros-Ghali (1991-1996), den UN die globale Führungsrolle für die
Zeit nach dem Kalten Krieg zu sichern, scheiterte aber an den
Machtansprüchen der USA. Erfolgreicher war Kofi Annan (1997-2006),
der nicht nur die UN-Verwaltung effizienter machte, sondern mit dem
Konzept der „Schutzverantwortung“
auch eine Debatte über die Grenzen nationaler Souveränität
anstieß. Durch sein Charisma und seine geschickte Rhetorik gewann
Annan zudem auch in der globalen Medienöffentlichkeit mehr
Aufmerksamkeit als die meisten seiner Vorgänger und wurde letztlich
ebenfalls mit dem Friedensnobelpreis belohnt. Sein Nachfolger Ban
Ki-Moon (2007-2016) hingegen blieb ein weitgehend blasser Diplomat,
der kaum mit eigenen Initiativen auffiel.
Maximale Intransparenz
Doch gerade angesichts
dieser großen Bedeutung der Persönlichkeit des Generalsekretärs
spielt natürlich auch das Verfahren, nach dem er (oder sie) gewählt
wird, eine zentrale Rolle: Da der Generalsekretär bei der Umsetzung
seiner Ziele auf die Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsrat und der
Generalversammlung angewiesen ist, soll es zum einen sicherstellen,
dass er das Vertrauen der Mitgliedstaaten genießt. Zum anderen
könnte das Wahlverfahren aber auch dazu beitragen, ihm gerade jene
moralische Autorität zu verschaffen, die er als „Fürsprecher der
Weltbevölkerung“ benötigt, um sich auch einmal gegen den
Widerstand einzelner mächtiger Regierungen durchzusetzen.
Doch wenn die UN-Charta
schon bei den Aufgaben des Generalsekretärs vage bleibt, so erst recht bei seinem Ernennungsverfahren. Art. 97 widmet
diesem lediglich einen einzigen Satz, nämlich: „Der
Generalsekretär wird auf Empfehlung des Sicherheitsrats von der
Generalversammlung ernannt.“ Die Einzelheiten dazu (die im
Wesentlichen bis
heute gelten) legte die Generalversammlung erst 1946 in einer
ihrer ersten Resolutionen fest – wobei die Mitgliedstaaten
bedauerlicherweise nicht nur einen Großteil ihrer Macht an den
Sicherheitsrat abgaben, sondern sich zudem auch noch für maximale
Intransparenz aussprachen:
Es wäre wünschenswert, dass der Sicherheitsrat der Generalversammlung nur einen einzigen Kandidaten zur Berücksichtigung vorschlägt und eine Debatte über die Nominierung in der Generalversammlung vermieden wird. Sowohl die Nominierung als auch die Ernennung sollten bei nicht-öffentlichen Sitzungen besprochen werden, und falls im Sicherheitsrat oder in der Generalversammlung eine Abstimmung erfolgt, sollte diese geheim sein.
Nur ein Kompromiss
zwischen Russland und den USA?
Die
Absicht hinter
dieser Regelung ist
natürlich, öffentliche Auseinandersetzungen über die Ernennung des
Generalsekretärs nach
Möglichkeit zu vermeiden –
was aus einer rein diplomatischen
Perspektive durchaus
Sinn ergibt. Wenn man sich
den Generalsekretär
in erster Linie als eine Art
Chefvermittler zwischen den
globalen Großmächten
vorstellt, dann
kann es seiner
Aufgabe durchaus zuträglich
sein, wenn er
und seine eigene
politische Agenda
möglichst wenig
öffentliche Aufmerksamkeit
finden. Und
tatsächlich hatten
fast alle bisherigen
Generalsekretäre bei ihrer
Nominierung noch kaum
politisches Profil,
sondern entwickelten
dieses allenfalls im
Verlauf ihrer Amtszeit.
In
jüngster Zeit jedoch gerät das Verfahren zunehmend in
die Kritik. Das liegt zum
einen daran, dass es sehr
viel Macht bei den wenigen
Mitgliedern des
UN-Sicherheitsrats ballt –
insbesondere bei jenen fünf Staaten,
die dort einen ständigen
Sitz einnehmen:
die USA, Russland, China,
Großbritannien und Frankreich. Da
sie mit ihrem
Vetorecht
jeden Kandidaten blockieren
können, sind es vor
allem diese permanent
five, auf
die es bei der Nominierung des Generalsekretärs ankommt. Und
da die
Konflikte in
Syrien und der Ukraine in den
letzten Jahren vor allem Russland und die USA immer
wieder in geopolitische
Konkurrenz zueinander
brachten, zeichnet sich jetzt
schon ab, dass die Wahl
des nächsten
UN-Generalsekretärs
im Wesentlichen als
Kompromiss zwischen den
Regierungen dieser beiden Staaten zustande
kommen wird – was für den
Rest der Welt natürlich
eine etwas frustrierende Perspektive ist.
Intransparenz schwächt
die nötige Führungsrolle
Zum
anderen führt das
intransparente
Ernennungsverfahren letztlich auch
zu einer strukturellen
Schwäche, die
sich die Vereinten Nationen
angesichts der zunehmenden
Transnationalisierung
politischer Herausforderungen
immer weniger leisten können. Die
Rolle des Generalsekretärs
als Vermittler
zwischen den Großmächten
mag angemessen gewesen sein,
solange sich Weltpolitik noch
im Wesentlichen auf die
Beziehungen zwischen weitgehend
geschlossenen Nationalstaaten beschränkte.
Durch
das grenzüberschreitende Zusammenwachsen der Weltgesellschaft gehen
jedoch viele
der Themen,
mit denen die Vereinten
Nationen sich heute
beschäftigen müssen,
darüber weit hinaus: Fragen
wie der Klimawandel,
Migration oder der
Kampf gegen Epidemien
lassen sich nicht mehr auf
ein einfaches Muster nationaler Interessen herunterbrechen,
sondern brauchen genuin
globale Antworten.
Um diese zu finden, sollte
der
UN-Generalsekretär
stärker als früher in
der Lage sein, eine gewisse
politische Richtung
vorzugeben. Die moralische
Autorität und Legitimität dazu wird er jedoch nur haben, wenn seine
Agenda schon vor seiner
Wahl
öffentlich bekannt und
diskutiert worden ist.
Einige
Reformvorschläge
Wie
also ließe sich das Ernennungsverfahren des UN-Generalsekretärs
reformieren? Von einem
wirklich demokratischen Verfahren, wie es die EU für den
Kommissionspräsidenten gefunden hat, sind
die Vereinten Nationen natürlich noch weit entfernt. Aber
auch ohne sich
in Utopien zu verlieren, gibt
es eine
Reihe von Verbesserungsvorschlägen, die zu
einer höheren Transparenz des
Verfahrens und einer
größeren politischen Unabhängigkeit
des Generalsekretärs führen
könnten.
Hierzu zählen unter anderem:
● eine
öffentliche Ausschreibung des Amtes,
mit klaren Auswahlkriterien
und einem
vorab bekannt gegebenen
Zeitplan für das
Ernennungsverfahren,
● eine
öffentliche Bekanntgabe der Namen der Kandidaten
durch den UN-Sicherheitsrat,
● öffentliche
Debatten zwischen den Kandidaten, bei denen sie ihre
politischen Ziele für
die Amtszeit darstellen,
● die
Nominierung von zwei oder
mehr Kandidaten durch den
UN-Sicherheitsrat, sodass die
endgültige Entscheidung über
die Wahl erst in
der Generalversammlung fällt,
● die
Verlängerung der Amtszeit von fünf auf sieben Jahre bei
gleichzeitigem Verbot der Wiederwahl.
Die
Verwirklichung dieser Ziele
wäre ohne
großen institutionellen
Aufwand möglich, wenn
es gelingt, im Sicherheitsrat
und der Generalversammlung die nötigen Mehrheiten zu finden. Dafür
haben das
World Federalist Movement, die
United Nations Association UK
und das Netzwerk Avaaz eine
Kampagne namens One
for Seven Billion gestartet.
Ob sie damit
bis 2016 tatsächlich
erfolgreich sein
werden, ist natürlich offen.
Immerhin aber
haben sie schon einmal erreicht, dass sich die
New
York Times und der Guardian
für das Thema zu
interessieren beginnen.
Und
die EU wurde ja bekanntlich
auch nicht an einem Tag errichtet.
Bilder: by World Economic Forum [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons; by 1 for 7 Billion Campaign.