- Um eine eigene Fraktion zu bilden, muss Emmanuel Macron europafreundliche Liberale für sich gewinnen – zum Beispiel die luxemburgische DP um Xavier Bettel.
Zu
den großen Unbekannten der kommenden Europawahl 2019 zählt die
Frage, wie sich Emmanuel Macrons La République En Marche (LREM/–)
im Europäischen Parlament positionieren wird. Die französische
Regierungspartei, erst vor knapp zwei Jahren gegründet, kann nach
den jüngsten Umfragen mit rund zwei Dutzend Europaabgeordneten
rechnen und wäre damit neben der deutschen CDU/CSU (EVP) und dem
italienischen M5S (–) eine der drei größten nationalen
Einzelparteien. LREM wird also auf jeden Fall zu einem Schwergewicht
im Parlament werden – aber in welcher Fraktion?
Ausschließen
lässt sich wohl, dass Emmanuel Macron eine Mitgliedschaft in einer
der beiden größten Fraktionen, der christdemokratischen EVP oder
der sozialdemokratischen S&D, anstrebt. Denn EVP und S&D (und
ihre jeweiligen französischen Mitgliedsparteien LR und PS)
repräsentieren den klassischen Gegensatz zwischen einem
Mitte-Rechts- und einem Mitte-Links-Lager, mit dem Macron sich
ausdrücklich nicht identifizieren will. Stattdessen stellt sich LREM
als eine Kraft der Mitte dar, die die Links-Rechts-Spaltung
überwinde.
Beitritt
zur ALDE?
Wenn
LREM sich einer bestehenden Fraktion anschließt, so wäre das also
wohl die liberale ALDE, die im Europäischen Parlament schon heute
die Mitte-Position zwischen EVP und S&D einnimmt und der auch die
Abgeordneten von Macrons engstem französischem Verbündeten, dem
MoDem, angehören. Außer der strategischen Positionierung im Zentrum
sprechen auch einige inhaltliche Übereinstimmungen für ein solches
Bündnis: So setzt Macron in Frankreich eine im
Wesentlichen liberale Wirtschaftspolitik um, und auf
institutioneller Ebene unterstützt die ALDE viele der von Macron
angestrebten institutionellen Reformen der EU (etwa europaweite
Wahllisten).
Und
auch die ALDE möchte gerne wachsen und bemüht sich offenbar sehr
darum, LREM für sich zu gewinnen: Erst gestern veröffentlichte
ALDE-Parteichef Hans van Baalen auf Twitter das Foto eines
„produktiven und herzlichen Treffens“ mit dem LREM-Vorsitzenden
Christophe Castaner und warb für ein „starkes Bündnis ALDE/En
Marche im Europäischen Parlament 2019“.
Macron
will eine eigene Fraktion
Macron
selbst hat allerdings wiederholt deutlich gemacht, dass er mit seiner
Partei eigentlich noch größere Ambitionen hat – nämlich nicht
weniger als eine „Neuordnung
der Parteigrenzen“ im Europäischen Parlament durch die
Konstituierung einer ganz neuen, eigenen Fraktion. Dafür dürfte er
verschiedene Gründe haben:
●
Erstens war der himmelstürmende
Bruch mit dem Bestehenden auch bisher zentral für Macrons
überraschenden Aufstieg. Das Versprechen auf etwas ganz Neues war
ein wesentlicher Teil der Wahlkampfstrategie, die ihn in den
Elysée-Palast brachte. Ein bloßer Beitritt zur schon existierenden
ALDE würde diesen Nimbus in Frage stellen.
●
Zweitens bezeichnet sich die ALDE
selbst als „liberal“ – ein Begriff, der im französischen
politischen Diskurs sehr negative Konnotationen von
Entsolidarisierung und Egoismus hat. Auch das MoDem gehört deshalb
nur der Fraktion, nicht der Partei ALDE an, und achtete zudem darauf,
dass die offizielle französische Version des Fraktionsnamens
„Alliance
des démocrates et des libéraux pour l’Europe“
(mit dem D vor dem L) lautet. Macron selbst ging dem L-Wort bisher
meist aus dem Weg und akzeptierte
es nur zögerlich als Selbstbeschreibung.
●
Drittens und wohl am wichtigsten:
Bei einem Beitritt zur ALDE müsste Macron auch mit deren internen
Spannungen leben. Das starke Wachstum der europäischen Liberalen
führte in den letzten Jahren auch zu einer steigenden internen
Heterogenität der ALDE-Fraktion. Während einige Mitglieder
(einschließlich Fraktionschef Guy Verhofstadt) entschieden
pro-europäisch auftreten, vertreten andere (einschließlich
Parteichef Hans van Baalen) einen gemäßigt europaskeptischen Kurs.
Mit Letzteren sieht Macron wenig inhaltliche Überschneidungen: Eine
Regierungsbeteiligung des deutschen ALDE-Mitglieds FDP bezeichnete er
im letzten Herbst bekanntlich sogar als
eine „tödliche“ Gefahr für sein politisches Projekt.
Nötig sind Abgeordnete aus sieben Ländern
Mit
der Gründung einer eigenen Fraktion im Europäischen Parlament
könnte Macron all diese Probleme umgehen und eine europäische Kraft
nach seinen eigenen Vorstellungen schaffen – gewissermaßen ein
„Europe En Marche“. Nach der Geschäftsordnung
des Parlaments sind dafür allerdings Abgeordnete aus „mindestens
einem Viertel der Mitgliedstaaten“, das heißt aus sieben
verschiedenen Ländern notwendig. Kann es Macron gelingen, so viele
Verbündete um sich zu sammeln?
Auf
den ersten Blick scheint ein solches Unterfangen nicht einfach: Die
meisten nationalen Parteien aus anderen Ländern sind ja bereits
Mitglied einer existierenden Fraktion. Und die Parteien, die bei der
Europawahl 2019 zum ersten Mal ins Parlament einziehen könnten und
sich noch nicht auf eine Fraktion festgelegt haben (die „weiteren
Parteien“ in der Wahlumfragen-Projektion
auf diesem Blog), sind großenteils
rechtspopulistisch-europaskeptisch ausgerichtet und haben wenig mit
LREM gemein.
Und
dennoch könnten die Chancen für Macron gar nicht so schlecht stehen
– wenn es ihm gelingt, die internen Spaltungen der ALDE geschickt
für sich zu nutzen. Hier ist ein Weg, der zur Gründung von „Europe
En Marche“ führen könnte.
Sichere
Partner: Ciudadanos und USR
Ein
erster sicherer Partner für LREM wäre die spanische Partei
Ciudadanos, die 2014 erstmals ins Europäische Parlament einzog, sich
der ALDE-Fraktion anschloss und heute in einigen Umfragen als
stärkste nationale Partei in Spanien erscheint. Wie LREM sieht sich
Ciudadanos zunächst als eine zentristische Partei und übernahm nur
zögerlich die Selbstbezeichnung als „liberal“. Zudem kritisierte
ein Ciudadanos-Sprecher zuletzt, dass die ALDE nicht
europafreundlich genug sei, und forderte einen „Neuaufbau“ der
Fraktion, der vor allem über eine enge Zusammenarbeit mit Macron
führen müsse. Vor die Wahl gestellt, würde Ciudadanos sich deshalb
wohl eher für „Europe En Marche“ als für einen Verbleib in der
ALDE entscheiden.
Ebenfalls
fest verlassen kann sich Macron auf die rumänische Partei USR, die
2016 als proeuropäische Bürgerrechts- und Antikorruptionspartei
gegründet wurde und bei der nationalen Parlamentswahl im selben Jahr
mit 8,9 Prozent der Stimmen zur drittstärksten Kraft aufstieg. In
einem Euractiv-Interview
bezeichnete Parteichef Dan Barna die USR vor wenigen Wochen selbst
als das rumänische Pendant zu LREM. Zudem hat Barna auch ein Problem
mit der ALDE-Fraktion, deren derzeitige rumänische Mitgliedspartei
(die ebenfalls den Namen ALDE trägt) ein wichtiger nationaler Gegner
der USR ist.
Verschiedene Optionen in Italien
Etwas
schwieriger gestaltet sich Macrons Partnersuche in Italien: Auch dort
hat Macron Unterstützer, und insbesondere das vor wenigen Monaten
geschlossene Wahlbündnis Più Europa (+E) um Emma Bonino und
Benedetto Della Vedova würde sich wohl ohne Zögern einer „Europe
En Marche“-Fraktion anschließen. Allerdings erreichte +E bei der
italienischen
Parlamentswahl vor drei Wochen nur 2,5 Prozent der Stimmen –
was nicht genügen würde, um bei der Europawahl die nationale
Vierprozenthürde zu überspringen.
Alternativ
wurde in den letzten Monaten
immer wieder darüber
spekuliert, dass die bisherige Regierungspartei PD unter Führung von
Matteo Renzi zu
einem Wechsel von der sozialdemokratischen S&D-Fraktion zu
„Europe En Marche“ bereit sein könnte. Nach
der Niederlage bei der nationalen Parlamentswahl befindet sich der PD
nun in einer Neuorientierungsphase; Renzi selbst trat als
Parteichef zurück. Was das
für Macron bedeutet, muss
sich allerdings noch zeigen: Sollte es
zu einer Spaltung des PD kommen, könnte das die Sache für „Europe
En Marche“ womöglich sogar
erleichtern.
Cinque
Stelle als Partner für Macron?
Und
schließlich könnte sich auch noch eine dritte, etwas überraschende
italienische Option eröffnen: Nach italienischen
Medienberichten strebt auch das Movimento Cinque Stelle (M5S),
der wichtigste Gewinner der nationalen Wahl, für die Zukunft eine
gemeinsame Fraktion mit Macron an. Unter Führung von Beppe Grillo
verfolgte das M5S traditionell eine eher nationalpopulistische Linie
und gehört im Europäischen Parlament bislang der europaskeptischen
EFDD-Fraktion an. In den letzten Monaten wechselte
Spitzenkandidat Luigi Di Maio allerdings den europapolitischen Kurs:
Er kritisiert zwar weiterhin den Status quo der EU, fordert diesen
nun aber durch mehr, nicht weniger Integration zu überwinden –
eine Linie, die durchaus mit Macrons Positionen vereinbar sein
könnte.
Wie
Macron zu diesen Avancen aus Italien steht, ist allerdings noch nicht
bekannt. Schließlich ist Di Maios Kurswechsel eine recht junge
Entwicklung und es bleibt unklar, wie weit er tatsächlich führen
wird: Die ALDE jedenfalls lehnte erst Anfang 2017 einen
Beitritt des M5S ab, da der Fraktionsvorstand die proeuropäische
Kehrtwende der Partei als unglaubwürdig einschätzte. Problematisch
könnte für Macron außerdem sein, dass das M5S in Umfragen auf etwa
ebenso viele Europaabgeordnete hoffen darf wie LREM, sodass er den
Führungsanspruch in „Europe En Marche“ teilen müsste. Und
dennoch: An fehlender Unterstützung aus Italien wird die neue
Fraktion wohl eher nicht scheitern.
D66,
Liberalerna, Radikale Venstre
Darüber
hinaus wäre es für Macron naheliegend, vor allem kleinere
proeuropäische ALDE-Mitgliedsparteien für sich zu gewinnen, die in
ihrem Land im Schatten einer anderen, eher europaskeptischen
ALDE-Partei stehen. Dies trifft beispielsweise auf die D66 zu, eine
linksliberale Partei aus den Niederlanden, die auf nationaler Ebene
mit der größeren rechtsliberalen VVD konkurriert. In Schweden sind
die sozialliberalen Liberalerna deutlich europafreundlicher
ausgerichtet als die etwas größere, ebenfalls zur ALDE gehörige
Centerpartiet.
Und
auch in Dänemark gibt es zwei ALDE-Mitglieder, von denen die
linksliberale Radikale Venstre (RV) einen proeuropäischeren Kurs
vertritt als die liberal-konservative Regierungspartei Venstre. Zudem
ist die RV auch die Partei der derzeitigen europäischen
Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, die Macron
gerne als Kommissionspräsidentin sähe.
Chance
auf einen Schneeball-Effekt
Nach
den aktuellen Umfragen steht zwar sowohl für die Liberalerna als
auch für die RV der Einzug ins Europäische Parlament 2019 auf
Messers Schneide. Ob sie Macron bei der Fraktionsbildung weiterhelfen
könnten, ist also offen. Aber auch ohne die eine oder andere dieser
Parteien käme „Europe En Marche“ mit dieser Strategie auf fünf
bis sechs Mitglieder – und damit in Griffweite einer eigenen
Fraktion.
Wenn
es so weit kommt, wäre „Europe En Marche“ zugleich größer und pro-europäischer ausgerichtet als die
Rest-ALDE. Dies könnte einen Schneeball-Effekt auslösen, der noch
zahlreiche weitere europafreundliche ALDE-Parteien mitreißt, etwa
die österreichischen Neos und die luxemburgische DP oder auch die
beiden belgischen liberalen Parteien Open-VLD und MR. Mit Xavier
Bettel (DP) und Charles Michel (MR) stellen zwei dieser Parteien in
ihren jeweiligen Ländern zudem die nationalen Regierungschefs, die beide bereits
jetzt eng mit Macron zusammenarbeiten. Hinzu könnten einige weitere ALDE- oder ALDE-nahe Parteien kommen, die sich nicht so sehr als liberal, sondern als zentristisch verstehen: etwa die slowenische SMC oder die griechische EK.
„Europe
En Marche“ könnte drittstärkste Fraktion werden
Das
Ergebnis wäre dann also eine Spaltung der ALDE, bei der sich der
europafreundliche Teil der Fraktion als „Europe En Marche“ neu
konstituiert – und einen deutlich geschwächten,
gemäßigt-europaskeptischen Rest um die niederländische VVD, die
deutsche FDP und die tschechische ANO zurücklässt. Diese Rest-ALDE
wäre zwar zahlenmäßig sicher weiterhin in der Lage, auch selbst
eine eigene Fraktion zu bilden. Sie käme aber nur noch auf rund
40-50 Abgeordnete.
„Europe
En Marche“ hingegen würde zur drittstärksten Fraktion im
Europäischen Parlament aufsteigen. Je nach italienischem Partner
könnte sie mit 50-80 Sitzen rechnen – womöglich noch mehr, falls
es ihr gelingt, noch einzelne weitere Parteien aus anderen
Fraktionen, etwa EVP und S&D, für sich zu gewinnen (etwa die
sozialliberal-europafreundliche DK aus Ungarn, die derzeit der S&D
angehört).
Hält
die ALDE der Zerreißprobe stand?
Anders
als bei der ALDE ist ein Massenübertritt aus diesen Fraktionen
allerdings weniger wahrscheinlich, da beide selbst im äußersten
Fall mit einiger Sicherheit stärker bleiben werden als „Europe En
Marche“ – und für ihre Mitglieder deshalb schon aus rein
machtpolitischen Gründen attraktiver sind. Zudem sind die
Sozialdemokraten und auch die Europäischen Grünen ideologisch
homogener als die Liberalen, was es für Macron schwieriger machen
dürfte, einzelne Parteien aus diesen Gruppen herauszulösen.
Die
eigentliche Auseinandersetzung um „Europe En Marche“ wird also
zwischen Emmanuel Macron und der heutigen ALDE stattfinden. Die
spannende Frage wird dabei sein, ob die institutionellen Strukturen
der ALDE stark genug sind, um der anstehenden Zerreißprobe
standzuhalten – oder ob Macron die existierenden inneren
Widersprüche der Fraktion für sich nutzen und eine Spaltung
zwischen europafreundlichen und europaskeptischen Liberalen
herbeiführen kann.
Bild: European Council [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.