31 März 2017

Integrationsgewinner: Wen erreichen Pulse of Europe und die Europabewegung?

Wer trifft sich unter der blauen Fahne?
„Europa erwacht“, „Europas Bürger erheben sich“, Die schweigende Mehrheit hat jetzt eine Stimme“: Die Schlagzeilen, mit denen Pulse of Europe in den letzten Tagen bedacht wurde, könnten kaum euphorischer sein. Gleichzeitig regt sich allerdings auch Kritik an der wachsenden Bürgerbewegung, die in den letzten Wochen jeden Sonntag mehrere zehntausend Menschen auf die Straßen brachte: Von links wird zum Beispiel der Vorwurf laut, dass Pulse of Europe die sozialen Spaltungen in Europa nicht anprangere und damit implizit eine wirtschaftsliberale Politik unterstütze. Von Freunden der europäischen Demokratie wiederum (etwa von Ulrike Guérot oder zuvor schon von mir selbst) ist die Forderung zu hören, dass Pulse of Europe in Sachen EU-Reform konkreter werden müsse.

Nur ein Treffen des Bildungsbürgertums?

Interessant ist schließlich aber auch die Kritik, die Clara Stinshoff, Studentin an der Hertie School of Governance, vor einigen Tagen formulierte, nachdem sie an einer der Sonntagsdemonstrationen teilgenommen hatte. Das Problem an Pulse of Europe sei, so Stinshoff, dass „alle dort mir so ähnlich sind. Es war ein Treffen des liberalen Bildungsbürgertums, der Studierten und Kultivierten.“ Die Reden, die auf der Demonstration gehalten wurden, seien akademisch gewesen; die Erfahrungen, über die sich die Teilnehmer identifiziert hätten, typische Merkmale der oberen Mittelschicht: Auslandsaufenthalte, Fremdsprachenkenntnisse, eine Vorliebe für Wein und Käse aus anderen europäischen Ländern.

Auf diese Weise erreiche Pulse of Europe letztlich nur jene, die ohnehin schon für Europa begeistert seien, und gefährde dadurch sein eigenes politisches Ziel:
Wir leben in einer Zeit, in der der sogenannte „Bildungsgrad“ das Wahlverhalten bestimmen kann, eine Zeit, in der Kulturkämpfe Nationen teilen. Die obere Mittelschicht wird Wahlen nicht alleine gewinnen. Wir sollten aufpassen, nicht die berüchtigte Filterblase aus den sozialen Medien auf die Straße hinauszutragen.
Wenn wir Europa „retten“ wollen, dann sollten wir Menschen einschließen und verstehen, die nicht notwendigerweise das Gefühl haben, dass sie davon profitieren. Wir sollten mit jenen Kontakt aufnehmen, die nicht den Enthusiasmus für das Erasmus-Programm teilen und offene Grenzen eher als Bedrohung denn als Privileg wahrnehmen. Wir sollten versuchen, diese Menschen davon zu überzeugen, dass Europa auch für sie von Bedeutung ist, und warum liberale Werte es wert sind, dass man an sie glaubt.
Demonstrationen müssen nicht ausgewogen sein

Diese Kritik hat einerseits einen richtigen Kern: Pulse of Europe ist offensichtlich nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, sondern zunächst einmal eine Bewegung von Menschen, die die europäische Integration als persönliche Chance wahrnehmen. Die mediale Stilisierung zu „den“ europäischen Bürgern, die sich endlich für den geeinten Kontinent erheben, ist letztlich nicht weniger populistisch als die „Wir sind das Volk“-Parolen, die auf Pegida-Märschen zu hören sind.

Andererseits lässt sich einwenden, dass politische Demonstrationen ohnehin nicht den Zweck haben, ein ausgewogenes Bild der Gesamtbevölkerung zu präsentieren oder auch nur eine Bühne für den Dialog verschiedener Positionen zu bieten. Vielmehr geht es darum, ein Zeichen zu setzen: Seht her, es gibt uns! Gerade bei Pulse of Europe ist dieses Ansinnen offenkundig. In einer Zeit, in der der gesellschaftliche Diskurs europaweit nach rechts kippt und Politiker der „Mitte-Parteien“ die Schlagwörter von Nationalpopulisten und Europaskeptikern übernehmen, geht von den Demonstrationen eine Signalwirkung aus: Wir Europafreunde sind nicht verschwunden, wir sind viele, und wir nehmen unsere Ziele wichtig genug, um dafür auf die Straße zu gehen.

Wer sind die Gewinner der europäischen Integration?

Allein das kann schon eine positive Rückwirkung auf die politischen Parteien haben, die in diesen Wochen in Deutschland ihre Bundestagswahlprogramme schreiben. Jedenfalls aber können Demonstrationen nur ein Ausgangspunkt für die politische Debatte sein, nicht diese Debatte vorwegnehmen oder gar ersetzen. Dass viele Teilnehmer von Pulse of Europe dem Bildungsbürgertum angehören, macht die Bewegung nicht weniger legitim und ihre Argumente nicht weniger richtig.

Und dennoch kann die Kritik von Clara Stinshoff ein Anstoß sein, um über die gesellschaftliche Basis der Europabewegung nachzudenken. Wer sind eigentlich die Gewinner der europäischen Integration? Und wie kann es ihnen gelingen, neue soziale Gruppen zu erreichen, um dauerhaft mehrheitsfähig zu sein?

Frieden nutzt allen – na und?

Je nachdem, welchen Aspekt der europäischen Integration man betrachtet, kann die Antwort auf die Frage nach den Gewinnern sehr einfach ausfallen: Wenn man die EU in erster Linie als ein Friedensprojekt versteht, dann profitieren davon natürlich alle Europäer. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass zum Beispiel die Europäische Kommission, aber auch viele Freunde des Pulse of Europe so gerne auf das Friedensnarrativ zurückgreifen.

Dieses einfache Begründungsmuster hat allerdings zwei Haken: Zum einen ist der Zusammenhang zwischen der europäischen Integration und dem Frieden in Europa zwar nicht falsch, aber auch nicht ganz so einfach, wie gerne behauptet wird. Und zum anderen ist die Friedenswahrung schlicht ein zu großes, zu abstraktes und letztlich auch zu triviales Ziel, um damit ein so vielschichtiges Gebilde wie die EU im Alltag immer wieder neu zu begründen.

Der Binnenmarkt schafft Wohlstand – aber wie ist der verteilt?

Noch schwieriger ist das zweite traditionelle Integrationsargument, nämlich dass Europa wirtschaftlichen Wohlstand schaffe. Tatsächlich begünstigt ein gemeinsamer Markt die staatenübergreifende Arbeitsteilung, mehr Arbeitsteilung führt zu höherer Produktivität, und eine höhere Produktivität bedeutet mehr Reichtum. Anders ausgedrückt: Durch den EU-Binnenmarkt wird der wirtschaftliche Kuchen größer, und zwar (wie das berühmte Ricardo-Theorem zeigt) in allen beteiligten Ländern.

Damit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, wie die Anteile am Kuchen unter den verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb der einzelnen Länder verteilt sind. Vor allem in den reichen Ländern nutzt der Binnenmarkt besonders den Kapitalbesitzern, die neue Investitionsmöglichkeiten gewinnen. Es wäre jedoch falsch, die EU deshalb allein als ein Projekt der reichen Wirtschaftseliten abzutun. Denn zu den Gewinnern des Binnenmarkts gehören auch jene Arbeitnehmer aus ärmeren Ländern, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Arbeit aufnehmen und denen dort dank der europäischen Freizügigkeitsrichtlinie auch dann noch eine gewisse soziale Abfederung bleibt, wenn sie arbeitslos oder krank werden. Diese Menschen sind oft alles andere als wohlhabend – und sie sind es, die bei einer Renationalisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik am meisten zu verlieren haben.

Gewinner und Verlierer sind nicht so leicht zu erkennen

Insgesamt sind die ökonomischen Gewinner der europäischen Integration also eine durchaus heterogene Gruppe, und es könnte der Europabewegung gut tun, das stärker herauszustellen. Gleichzeitig ist aber nicht abzustreiten, dass die Wirtschaftspolitik ein Feld ist, in der die EU auch Verlierer erzeugt hat. Und häufig ist es für den Einzelnen gar nicht so einfach zu erkennen, auf welcher Seite er selbst dabei eigentlich steht: Wird der Anteil meiner Steuern, der in das EU-Budget fließt, durch die niedrigeren Verbraucherpreise im Binnenmarkt wieder ausgeglichen? Drückt die europäische Konkurrenz in meinem Sektor das Lohnniveau? Gäbe es meinen Arbeitsplatz ohne die EU überhaupt noch? Und hat die Euro-Einführung mir persönlich jetzt eher genutzt oder geschadet?

Es braucht eine ganze Menge an ökonomischem Wissen, um diese Fragen auch nur halbwegs vernünftig beantworten zu können. Und zuletzt werden die meisten Menschen wohl ohnehin nicht die EU, sondern eher persönliche Faktoren (ihre eigenen Fähigkeiten, ihren bösen Arbeitgeber) dafür verantwortlich machen, wie viel Geld sie am Monatsende auf dem Konto haben. Allein aus wirtschaftlichen Gründen wird deshalb wohl kaum jemand zum leidenschaftlichen Europafreund.

Kulturell bereichert fühlen sich vor allem Akademiker

Was die Begeisterung für Europa tatsächlich schürt, scheint etwas anderes zu sein: nämlich das Erlebnis von Freiheit und kultureller Bereicherung, das mit den offenen Grenzen einhergeht. Fragt man Freunde der europäischen Integration nach den Erfahrungen, die für ihre Haltung prägend waren, dann sind das meistens Aufenthalte im europäischen Ausland oder länderübergreifende Freundschaften. Umgekehrt wirken auch bei den Europagegnern die Argumente um Finanztransfers und Bürokratie oft eher konstruiert, während Emotionen vor allem dann aufkochen, wenn offene Grenzen als Bedrohung für die eigene Lebensweise wahrgenommen werden.

Und an dieser Stelle verläuft die gesellschaftliche Trennungslinie (von Ausnahmen abgesehen) nun tatsächlich recht deutlich entlang der Bildungsschichten. Denn zum einen sind beispielsweise Fremdsprachenkenntnisse natürlich sehr hilfreich, wenn es darum geht, einen Zugang zu Menschen aus anderen Kulturen zu gewinnen. Und zum anderen haben Akademiker während ihres Studiums eine Lebensphase, die besser als jede andere dazu geeignet ist, eigene Auslandserfahrungen zu sammeln – was auch der Grund dafür ist, dass das Erasmus-Programm der EU sich anfangs nur an Studierende richtete.

Azubis Auslandserfahrung ermöglichen

Ist Europa also dazu verdammt, eine Herzensangelegenheit allein der Bildungsbürger zu bleiben? Zu Recht zielen seit einigen Jahren viele Ansätze darauf ab, größeren Bevölkerungsschichten Auslandserfahrungen zu ermöglichen. Die wichtigste davon ist wohl der Ausbau des Erasmus-Programms, um insbesondere Auszubildenden und Praktikanten mehr Möglichkeiten zu bieten.

Auf große Medienaufmerksamkeit stößt auch die Initiative Free Interrail, die allen 18-Jährigen ein kostenloses Ticket für Reisen durch Europa verschaffen will. Wie wirksam und sinnvoll eine solche Maßnahme im Einzelnen wäre, ist mit gutem Grund umstritten: Eine Urlaubsreise ist nun einmal nicht dasselbe wie ein längerer Auslandsaufenthalt. Jedenfalls aber kann es der Akzeptanz der EU in der Bevölkerung nur nutzen, wenn es gelingt, künftig auch weniger Gebildeten positive Erlebnisse im kulturellen Austausch zu bieten.

Zur Selbstverständlichkeit werden

Trotzdem: Ob auf diese Weise künftig wirklich eine Mehrzahl der Europäer zu glühenden Integrationsfreunden werden, bleibt fraglich. Aber wahrscheinlich ist das auch gar nicht notwendig. Denn auch auf nationaler Ebene funktioniert unser politisches System ja nicht in erster Linie deshalb, weil ein Großteil der Bevölkerung aus „begeisterten Deutschen“ bestünde – sondern einfach deshalb, weil die Existenz der Bundesrepublik Deutschland allgemein als normal und selbstverständlich angesehen wird.

Kein Thüringer macht sich Sorgen, dass es ohne Deutschland zu einem Krieg mit Bayern kommen könnte. Kein Hesse denkt ernsthaft darüber nach, ob er vom gemeinsamen Binnenmarkt mit Sachsen stärker profitiert, als er im gemeinsamen Sozial- und Rentensystem draufzahlt. Und auch die Begeisterung über den kulturellen Austausch zwischen Baden-Württembergern und Niedersachsen hält sich in der Regel in überschaubaren Grenzen. Dass es einen gemeinsamen deutschen Staat gibt, muss im Alltag nicht weiter begründet werden, weil es auch nicht weiter in Frage gestellt wird. Zu einer solchen Selbstverständlichkeit zu werden, wäre auch für die EU wohl das bestmögliche Ergebnis.

Der Schlüssel ist die gemeinsame Demokratie

Wie aber kommen wir dorthin? Wie ich auf diesem Blog schon an anderer Stelle geschrieben habe, scheint mir der Schlüssel dafür die gemeinsame Demokratie zu sein. Solange Europapolitik in erster Linie als Verhandlung zwischen den nationalen Regierungen im Europäischen Rat stattfindet, wird auch die öffentliche Debatte immer wieder darum kreisen, welche Vorteile dabei für das eigene Land herauskommen und ob man nicht ohne die EU noch viel besser fahren könnte. Dadurch werden nationale Identitäten betont und Nationalpopulisten ein Einfallstor geboten.

Wenn hingegen das Europäische Parlament zum zentralen Entscheidungsorgan wird und das demokratische Wechselspiel zwischen den verschiedenen europäischen Parteien im Mittelpunkt steht, dann wird sich auch die öffentliche Wahrnehmung der EU verändern. Die Konfliktlinien, die den politischen Alltag und damit auch die politischen Identitäten in der Bevölkerung prägen, wären nicht mehr national, sondern weltanschaulich definiert. Wer mit dem Kurs der Europapolitik unzufrieden ist, würde nicht mehr über einen Austritt nachdenken, sondern einfach bei der nächsten Europawahl seine Stimme der Opposition geben. Und auch wenn dann weniger Menschen stolz die Europafahne schwenken, würden mehr Bürger die Politik der EU als ihre eigene erleben.

Bis auf Weiteres bleibt die Europabewegung notwendig

Diese gemeinsame europäische Demokratie muss natürlich erst einmal erreicht werden, und bis dahin wird es noch einige Widerstände (nicht nur von Seiten der Rechtspopulisten, sondern auch aus der zögerlichen „Mitte“) zu überwinden geben. Bis auf Weiteres bleibt eine engagierte und leidenschaftliche Europabewegung also notwendig, ob nun bildungsbürgerlich oder nicht.

Aber wenn sie langfristig den Erfolg des Integrationsprojekts sichern will, dann sollte sie nicht allein auf die Menschen setzen, die sich für Europa begeistern lassen – sondern demokratische Reformen anstreben, durch die die EU auch für alle anderen zu einer solchen Selbstverständlichkeit wird, wie es die Nationalstaaten heute schon sind.


Die Demonstrationen von Pulse of Europe finden jeweils sonntags um 14 Uhr in zahlreichen deutschen und europäischen Städten statt. Ein Überblick über alle Orte findet sich hier.

Bilder: clogsilk [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Pulse of Europe.

22 März 2017

Pulse of Europe: Errungenschaften verteidigen ist nicht genug

Was wollen all die Menschen mit den blauen Fahnen auf der Straße?
So viele Menschen, die für die europäische Integration auf die Straße gehen, hat man in Deutschland seit mindestens zwei Generationen nicht erlebt: Seit mehreren Wochen organisiert die Bürgerbewegung Pulse of Europe jeden Sonntag um 14 Uhr Kundgebungen, mit immer mehr Teilnehmern (zuletzt über 20.000) in immer mehr Städten (zuletzt 61, zwölf davon außerhalb von Deutschland). Während des gesamten Konstitutionalisierungsprozesses der EU in den 1990er und 2000er Jahren, der vom Vertrag von Maastricht über den gescheiterten Verfassungsvertrag bis zum Vertrag von Lissabon führte, gab es keine damit vergleichbare öffentliche Mobilisierung. Tatsächlich war es in Strategiedebatten unter deutschen Europa-Aktivisten bis vor kurzem noch weitgehend Konsens, dass Großdemonstrationen nicht besonders vielversprechend wären, da Europa doch ohnehin kein Thema sei, mit dem sich die Massen begeistern ließen. So ändern sich die Zeiten.

Wofür steht Pulse of Europe?

Doch wofür steht Pulse of Europe eigentlich genau? Von Teilnehmern der weitgehend dezentral organisierten Demonstrationen ist immer wieder zu hören, dass man „für etwas, nicht gegen etwas“ sein wolle. Das klingt sehr konstruktiv und optimistisch, ist aber erst einmal eine logische Leerformel – schließlich dreht sich politisches Handeln immer darum, einen bestimmten Zustand anzustreben und andere abzulehnen.

Auch die „zehn Grundthesen“, die den programmatischen Rahmen von Pulse of Europe bilden, helfen nur wenig weiter: In ihnen wird die Europäische Union als „Bündnis zur Sicherung des Friedens“ gelobt, das es gegen die „antieuropäischen Kräfte“ zu verteidigen gelte. Der „europäische Gedanke“ soll „wieder sichtbar und hörbar“ werden. „Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit“ sind in ganz Europa zu respektieren. Die vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts sind „historische Errungenschaften“, deren Beschneidung „dramatische wirtschaftliche und persönliche Folgen auslösen“ würde. Gleichzeitig soll die EU aber auch nicht zu viel machen, sondern sich auf „die wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit“ konzentrieren. Und natürlich muss die „Vielfalt innerhalb Europas“ erhalten werden, was „regionale und nationale Identitäten“ einschließt.

Auch für alle, die mit dem Status quo der Europäischen Union unzufrieden sind, haben die zehn Grundthesen etwas zu bieten: „Reformen sind notwendig“, damit Europa „wieder verständlicher und bürgernäher“ wird. Wie das genau gehen könnte, bleibt allerdings offen. Klar ist nur, dass die europäische Idee „von unten nach oben getragen“ werden soll. Und: „Wer austritt, kann nicht mitgestalten.“

Bewahrung des Erreichten

Insgesamt klingt der Sound von Pulse of Europe also weniger nach Fortschritt und Veränderung als nach Bewahrung des Erreichten. Unterstrichen wird das noch von einem Twitter-Hashtag, mit dem Europäer in der Zeit vor dem Brexit-Referendum 2016 an die Bürger Großbritanniens appellierten, und der sich jetzt auf den Demonstrationen in Zusammenhang mit den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich großer Beliebtheit erfreut: #staywithus.

Dass dieser Slogan sich anhört wie die Worte, mit denen man einen Schwerverletzten bei Bewusstsein zu halten versucht, ist womöglich kein Zufall. In der Darstellung von Pulse of Europe ist die Europäische Union von unmittelbarem Zerfall bedroht, dem sich die Zivilgesellschaft nun mit aller Kraft entgegenstemmen muss. Die Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland sind den zehn Grundthesen zufolge „von existenzieller Bedeutung“. Wer „untätig“ ist, stärkt „die antieuropäischen Kräfte“. „Jede und jeder ist für das Scheitern oder das Gelingen unserer Zukunft verantwortlich.“

Integrationsgewinner gegen Nationalpopulisten

Wofür steht Pulse of Europe also? Am besten versteht man die Bewegung wohl, wenn man sie als Gegenkraft zur Mobilisierung der Nationalpopulisten begreift, die in den letzten Jahren fast in allen EU-Mitgliedstaaten zu beobachten war: von Pegida in Deutschland über das Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich bis zum Aufschwung rechter Parteien in Frankreich und anderswo. Dabei besteht ein wesentliches Erfolgsrezept der Nationalpopulisten darin, die Europäische Union als eine Form von Fremdherrschaft durch eine kleine ungewählte Elite zu diskreditieren. Gerade der Pegida-Slogan „Wir sind das Volk“ unterstellte, dass die rechtspopulistische Bewegung für die gesamte Bevölkerung stünde, und blendete damit all jene aus, die die europäische Integration mit ihren offenen Grenzen nicht als Bedrohung, sondern als kulturelle Bereicherung und persönliche Chance erleben.

Diese Gewinner der europäischen Integration sind es nun, die mit Pulse of Europe auf sich aufmerksam machen. Mit den Demonstrationen wollen sie nicht so sehr Entscheidungsträger in der Politik beeinflussen, sondern in erster Linie die öffentliche Wahrnehmung verändern: Sie wollen zeigen, dass auch sie zum „Volk“ dazugehören und entschlossen sind, ihre Überzeugungen zu verteidigen. Dass die Bewegung dabei eher nicht an den Intellekt appelliert, sondern (wie es der Initiator Daniel Röder vor einigen Tagen in einem Interview formulierte) „auf der Herzblut-Seite der Debatte unterwegs“ ist, überrascht angesichts dieser Konstellation nicht.

Konservativ-affirmative Grundhaltung

Das erklärte Hauptziel, bei den Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland den Sieg „antieuropäischer Kräfte“ zu verhindern, kann zugleich auch erklären, warum die Forderung nach Reformen in der Agenda von Pulse of Europe nur so eine kleine Rolle spielt. Die Logik, der die Bewegung folgt, ist das Bewahren europäischer Errungenschaften gegen die Gefahr, die von rechten und nationalpopulistischen Parteien ausgeht. Dieser Wunsch nach Bewahren aber ist (für die Bewegung als Ganzes, nicht unbedingt für die einzelnen Demonstranten) implizit mit einer konservativ-affirmativen Grundhaltung verbunden, die wenig Kritik an der EU und ihrem institutionellen Status quo erlaubt.

Man kann das sympathisch finden – bessere Laune als Pegida und die anderen nationalpopulistischen Bewegungen verbreitet Pulse of Europe allemal! – und im Wahljahr 2017 vielleicht auch nützlich und notwendig. Auf Dauer aber ist es nicht genug.

Die EU braucht dringend Reformen

Denn zweifellos stellt die EU schon in ihrer heutigen Form eine immense Verbesserung gegenüber einem System unabhängiger Nationalstaaten dar, wobei die traditionellen, auch von Pulse of Europe immer wieder genannten Argumente von Frieden und Wohlstand nicht einmal die wichtigsten sind. Aber gleichzeitig lässt sich auch nicht abstreiten, dass sie uns neue Probleme geschaffen hat, die es ohne sie nicht gäbe. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Konstruktionsfehler in der europäischen Währungsunion haben dazu geführt, dass die südeuropäische Wirtschaftskrise der letzten Jahre schlimmer ausgefallen ist als nötig. Und dass durch die zunehmende Europäisierung der Politik nationale Parteien immer weniger allein entscheiden können, während zugleich die europäische Parteiendemokratie noch in den Kinderschuhen steckt, dürfte ein wesentlicher Grund für die wachsende Parlamentarismusverdrossenheit der europäischen Gesellschaften sein.

Für sich allein genommen ist die Europäische Union in ihrer heutigen Form deshalb nur schwer zu rechtfertigen. Sinn macht sie nur als Zwischenschritt auf dem Weg zu einem voll integrierten demokratischen Mehrebenensystem – und dass wir auf diesem Weg in den letzten Jahren kaum noch Fortschritte gemacht haben (vom Spitzenkandidaten-Verfahren bei der Europawahl einmal abgesehen), ist unser eigentliches Problem.

Mehr europäische Demokratie

Um das Legitimitätsdefizit der EU zu überwinden und den Aufstieg der Nationalpopulisten zu stoppen, genügt es deshalb nicht, allein diejenigen zu mobilisieren, die ohnehin schon von Europa begeistert sind. Vielmehr muss die EU auch jene Bürger einbinden, die sich nicht sehr für Politik interessieren und auch persönlich nicht besonders von den offenen Binnengrenzen profitieren. Dafür aber brauchen wir vor allem einfachere und demokratischere Verfahren auf europäischer Ebene, die es Menschen erlauben, das politische Geschehen ohne großen Aufwand zu verstehen und zu beeinflussen.

In den letzten Jahren wurden auch immer wieder konkrete Vorschläge gemacht, wie die nächsten Schritte bei einer solchen Demokratisierung der EU aussehen könnten (mehr dazu zum Beispiel hier oder hier). Nur die tatsächliche Umsetzung dieser institutionellen Reformen steht derzeit leider nicht auf der Agenda, wie erst vor wenigen Wochen das enttäuschende Weißbuch der Europäischen Kommission zur Zukunft Europas zeigte.

Wird es Pulse of Europe bei der nächsten Vertragsreform noch geben?

Aber das muss nicht so bleiben: Früher oder später wird wieder ein Europäischer Konvent tagen, der an einer neuen Vertragsreform arbeitet. Und erst dann wird die eigentliche Auseinandersetzung über „das Scheitern oder das Gelingen unserer Zukunft“ beginnen, von dem in den Grundthesen von Pulse of Europe die Rede ist.

Wird es die Bewegung dann noch geben? Wird sie den Übergang von einem Verteidigen der vergangenen Errungenschaften zu einem Angehen der heutigen Probleme schaffen? Wird sie bereit sein, nicht nur Rechtspopulisten zurückzuweisen, sondern auch öffentlichen Druck auf die Entscheidungsträger aus den Parteien der Mitte auszuüben, um eine bessere, demokratischere EU zu erreichen? Wenn ja, dann könnte Pulse of Europe genau die Bürgerinitiative sein, die die Europäische Union benötigt hat.

Und wenn nicht, hatten wir wenigstens in diesem Frühling ein bisschen Spaß damit, Europafahnen zu schwenken und die „Ode an die Freude“ zu singen.


Die Demonstrationen von Pulse of Europe finden jeweils sonntags um 14 Uhr in zahlreichen deutschen und europäischen Städten statt. Ein Überblick über alle Orte findet sich hier.
Unabhängig davon gibt es zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge am kommenden Samstag, 25. März, noch eine weitere Demonstration unter dem Motto March for Europe 2017, die explizit zu weiteren Integrationsschritten aufruft. Die Hauptdemonstration von March for Europe findet in Rom statt. Daneben gibt es aber auch kleinere Veranstaltungen in weiteren Städten, unter anderem in Berlin.

Bilder: Jon Worth [CC BY 2.0], via Flickr; Pulse of Europe; March for Europe 2017.

13 März 2017

Warum das Weißbuch der Kommission zur Zukunft Europas so enttäuschend ist

Zum 60. Geburtstag der EU hat die Europäische Kommission uns ein zweifelhaftes Weißbuch geschenkt.
Noch wenige Tage, dann jährt sich zum sechzigsten Mal der 25. März 1957, an dem sich einst die Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Italiens und der Benelux-Staaten in Rom trafen, um den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu unterschreiben – jenes Abkommen also, aus dem viele Jahre und Vertragsreformen später der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union wurde. Doch so ein runder Geburtstag ist in der Politik natürlich nicht nur Anlass zum Feiern, sondern immer auch eine Gelegenheit, um neue Vorhaben in Gang zu bringen: Am 25. März 2007 zum Beispiel verabschiedete der Europäische Rat die sogenannte Berliner Erklärung, die den Auftakt zu den Verhandlungen über den Vertrag von Lissabon bildete.

Für dieses Jahr ist nun ein Gedenkgipfel in Rom geplant, bei dem es wieder eine feierliche Erklärung der Staats- und Regierungschefs geben soll. Geht es nach dem italienischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni (PD/SPE), soll diese Erklärung nicht nur „das Projekt EU neu starten“, sondern auch gleich „die Perspektiven für die nächsten zehn Jahre legen“. Hinzu kommt, dass auch die britische Regierung in Kürze ihren Entschluss zum Austritt aus der EU offiziell machen wird – voraussichtlich wenige Tage nach dem Gipfel. Es weht also ein Wind der Veränderung. Aber wohin führt er uns?

Vorschläge von Parlament und Kommission

Die erste EU-Institution, die ihre Vorstellungen zur Zukunft der europäischen Integration vorgelegt hat, war das Europäische Parlament. Am 16. Februar verabschiedete es drei Berichte mit Reformvorschlägen, die teils kurzfristig und ohne allzu großen Aufwand umgesetzt werden könnten, teils ehrgeizige Vertragsänderungen zur Demokratisierung der EU enthalten.

Am 1. März zog nun auch die Europäische Kommission nach und präsentierte ein 30-seitiges „Weißbuch zur Zukunft Europas“ (Wortlaut), das auch in den Medien auf einige Aufmerksamkeit stieß. Wer indessen gehofft hatte, in diesem Weißbuch klare Zielvorstellungen der Kommission zu finden, wurde enttäuscht. Anstelle eines Fahrplans für die nächsten Jahre bot das Weißbuch nur einige recht allgemeine Aussagen über Trends in der demografischen, wirtschaftlichen, umwelt- und sicherheitspolitischen Entwicklung in Europa – sowie fünf „Szenarien“, wie die EU sich bis zum Jahr 2025 entwickelt haben könnte.

Die fünf Szenarien des Weißbuchs

Über diese fünf Szenarien wurde seitdem in den unterschiedlichsten Medien geschrieben, und sie lassen sich auch einfach im Original nachlesen. Deshalb hier nur eine kurze Zusammenfassung:

● Szenario 1, „Weiter wie bisher“, ist eine bloße Bestätigung des derzeitigen Kurses der EU, wie er in den politischen Leitlinien der Kommission Juncker nach der Europawahl 2014 und in der Bratislava-Erklärung der 27 Staats- und Regierungschefs nach dem Brexit-Referendum 2016 festgelegt wurde. Aus Sicht der Kommission würde diese „positive Agenda […] weiterhin zu konkreten Ergebnissen“ führen, wobei aber „ernsthafte Differenzen“ zwischen den Mitgliedstaaten nicht ausgeschlossen sind.

● Szenario 2, „Schwerpunkt Binnenmarkt“, wäre ein Rückbau der EU zu einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft. EU-Regulierungen würden massiv abgebaut; außen-, sicherheits-, umwelt- oder sozialpolitische Fragen wären allein Sache der Nationalstaaten oder müssten ad hoc in zwischenstaatlichen Verträgen geregelt werden.

● Szenario 3, „Wer mehr will, tut mehr“, würde es Gruppen von Mitgliedstaaten erlauben, in bestimmten Bereichen – etwa Verteidigungs-, Sicherheits- oder Steuerpolitik – enger zusammenzuarbeiten, während andere beim Status quo (Szenario 1) verbleiben. Das Ergebnis wäre also ein „Kerneuropa“ oder „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“.

● Szenario 4, „Weniger, aber effizienter“, beinhaltet eine starke Prioritätensetzung bei der Tätigkeit der EU, sodass es in manchen Bereichen deutlich mehr, in anderen deutlich weniger gemeinsame Regeln gäbe als heute. Als mögliche Schwerpunkte der Zusammenarbeit schlägt die KommissionInnovation, Handel, Sicherheit, Migration, Grenzmanagement und Verteidigung“, Exzellenz in Forschung und Entwicklung“, „Dekarbonisierung und Digitalisierung“ vor. Weniger aktiv wäre die EU hingegen in Bereichen wie „die Regionalentwicklung, die öffentliche Gesundheit oder Teile der Beschäftigungs- und Sozialpolitik“, „Kontrolle staatlicher Beihilfen“, „Verbraucher-, Umwelt- und Arbeitsschutz“.

● Szenario 5, „Viel mehr gemeinsames Handeln“, beschreibt die Maximallösung: Von der Außen- über die Sicherheits- und Umwelt- bis zur Wirtschaftspolitik „in allen Bereichen mehr Machtbefugnisse und Ressourcen zu teilen und Entscheidungen gemeinsam zu treffen“. Dabei sieht die Kommission allerdings „die Gefahr, dass sich Teile der Gesellschaft von der EU abwenden, die das Gefühl haben, der EU mangele es an Legitimität bzw. sie hätte den nationalen Behörden zu viel Macht abgenommen“.

Kritik am Weißbuch

Dass das Weißbuch nur Szenarien und keine klaren Richtungsvorgaben enthielt, führte nach der Veröffentlichung schnell zu Kritik. Josef Janning vom European Council on Foreign Relations etwa bemerkte etwas bissig, das Papier lese sich wie ein „Standard-Think-Tank-Bericht von vor zehn Jahren“; Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik äußerte sich ähnlich. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament, Gianni Pittella (PD/SPE), machte seiner „Enttäuschung“ Luft, der Parteichef der Europäischen Grünen, Reinhard Bütikofer (Grüne/EGP), bemängelte fehlenden Mut der Kommission, der liberale Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff (FDP/ALDE) kritisierte das Weißbuch als „Sammelsurium“.

Liest man etwas zwischen den Zeilen, fällt es allerdings gar so nicht schwer, die Präferenzen der Kommission zu erkennen. Für Szenario 1 hätte man das Weißbuch schließlich überhaupt nicht erst gebraucht, und die Szenarien 2 und 5 sind so deutlich als Extremvorschläge gekennzeichnet, dass sie in der politischen Debatte schnell vom Tisch gewischt werden können.

Alles sieht also danach aus, dass die Kommission unsere Aufmerksamkeit in Wirklichkeit vor allem auf die Szenarien 3 und 4 lenken will. Das ist nicht weiter verwunderlich, schließlich geistert das „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ schon seit längerem immer öfter durch die europäische Debatte. Und dass die EU konsequenter Prioritäten setzen müsse, predigen Kommissionschef Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) und sein Vize Frans Timmermans (PvdA/SPE) bereits seit ihrem Amtsantritt: „Groß in großen Dingen und klein in kleinen Dingen“ gehörte zu Junckers Slogans vor der Europawahl 2014.

Bloße Szenarien sind für eine politische Kommission zu wenig

Einige Beobachter sehen in dem Weißbuch deshalb auch eine geschickte Strategie der Kommission. Für Mark Dawson, Professor an der Hertie School of Governance in Berlin, spielt Juncker damit den Ball an die nationalen Regierungen zurück und zwingt sie so, den künftigen Kurs der EU selbst zu verantworten. Ähnlich sieht das Lüder Gerken vom Centrum für Europäische Politik.

Und dennoch scheint mir für das Weißbuch dasselbe zu gelten, das ich vor kurzem über die Komitologie-Reform geschrieben habe: Wenn Juncker, wie er 2014 ankündigte, eine „politische Kommission“ leiten will, dann darf er sich nicht auf diese Weise aus der Verantwortung stehlen. Die Kommission hat den Auftrag, im politischen Prozess das gesamteuropäische Interesse zu vertreten und in diesem Sinne Vorschläge zu machen. Szenarien zu skizzieren und sich ansonsten hinter den nationalen Regierungen zu verstecken – das ist eher das Verhalten eines „Generalsekretariat des Rates“, das Juncker vor seiner Wahl explizit nicht werden wollte.

Das Weißbuch umgeht die wichtigste Frage

Noch gravierender aber ist, dass auch die Szenarien selbst nicht gründlich durchdacht wirken und in vieler Hinsicht oberflächlich bleiben. Insbesondere finden sich darin keinerlei Erklärungen zu institutionellen Reformen. In dem Papier selbst wird das zwar mit der Behauptung verbrämt, man habe diese Aspekte „bewusst ausgespart – die Form wird der Funktion folgen“. Doch in Wirklichkeit umgeht die Kommission damit nur die wichtigste aller Zukunftsfragen der Europäischen Union: die Frage nach der europäischen Demokratie.

Entsprechend flach bleiben auch die Überlegungen der Kommission zur Legitimität und Akzeptanz der EU in der Bevölkerung. Geht es nach dem Weißbuch, so liegt das Hauptproblem in einer „Kluft zwischen Versprechen und Realität“ der EU. Diese Kluft entstehe zum einen dadurch, dass Europapolitik „nicht gut genug erklärt“ werde, zum anderen dadurch, dass die „tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten“ der EU nicht den an sie gestellten Erwartungen entsprächen.

Output-Legitimation ist nicht genug

Offensichtlich setzt die Kommission bei der Lösung des europäischen Akzeptanzproblems also allein auf das, was in der Politikwissenschaft als „Output-Legitimation“ bezeichnet wird: Die EU soll eine Politik betreiben, mit der die Menschen zufrieden sind. Nur so erklärt sich auch, dass die Bewertung von Szenario 1 in dem Weißbuch letztlich recht optimistisch ausfällt. Wenigstens nach ihrem eigenen Selbstbild hat die Kommission in den letzten Jahren ja bereits eine „positive Agenda“ eingeleitet – deren Fortsetzung dann natürlich irgendwann auch positive Resultate zeigen müsste.

Dabei ignoriert die Kommission jedoch, dass es bei komplexen politischen Fragen kein einfaches Richtig oder Falsch gibt. So zählen zu der „positiven Agenda“ in Szenario 1 explizit auch Themen wie Freihandel und Terrorismusbekämpfung, zu denen unterschiedliche Menschen legitimerweise sehr unterschiedliche Ansichten haben. Hier allein auf Output-Legitimation zu setzen, muss scheitern.

Ohne institutionelle Reform gibt es keine Lösung

Nötig ist stattdessen mehr Input-Legitimation: also Verfahren, durch die sich die Bürger selbst an der europäischen Politik beteiligen können und das Gefühl gewinnen, dass die zuletzt getroffene Entscheidung – ob sie sie im Einzelnen begrüßen oder nicht – das Ergebnis einer fairen demokratischen Willensbildung ist. Dieser Mangel an Input-Legitimation ist die wohl größte Schwäche der EU in ihrer heutigen Form, und ohne institutionelle Reformen wird sich dafür keine Lösung finden lassen.

Tatsächlich ist die Frage der institutionellen Ausgestaltung so wichtig, dass sich ohne sie auch über die fünf Weißbuch-Szenarien nicht sinnvoll diskutieren lässt. Ob zum Beispiel „viel mehr gemeinsames Handeln“ wie in Szenario 5 wünschenswert ist oder nicht, hängt wesentlich davon ab, ob dieses gemeinsame Handeln im Europäischen Parlament stattfindet oder im Europäischen Rat. Und mindestens ebenso wichtig wie die Frage, ob die EU wie in Szenario 4 Prioritäten setzen sollte, ist die Frage, wer darüber entscheidet, welche Prioritäten das sind. Dass die Kommission sich vor diesen Fragen drückt, macht ihr Weißbuch weitgehend unbrauchbar.

Von Demokratie wird in Rom wohl keine Rede sein

Besonders enttäuschend aber ist, dass das Europäische Parlament in seinen drei Berichten vom 16. Februar durchaus institutionelle Reformvorschläge gemacht hatte, etwa was die Überarbeitung des Europawahlrechts oder die Abschaffung nationaler Vetorechte im Rat betrifft. Indem die Kommission diese Vorschläge in keiner Weise aufgriff, gab sie den nationalen Regierungen eine Steilvorlage, sie auf dem Gipfel von Rom am 25. März ebenfalls zu ignorieren. In einem Entwurf für die Erklärung von Rom, der vor einigen Tagen bekannt wurde, findet sich zu institutionellen Fragen jedenfalls nur ein einzelner, kärglicher Satz mit dem Versprechen eines „effektiveren und transparenteren Entscheidungsprozesses“. Von Demokratie ist in dem ganzen Dokument hingegen kein einziges Mal die Rede.

In Rom wird ein Wind der Veränderung wehen. Doch mit ihrem Weißbuch hat die Kommission dazu beigetragen, dass es dort – wenigstens fürs Erste – in den entscheidenden Zukunftsfragen der EU wohl weiterhin keine Bewegung geben wird.

Bild: SilverStack [CC BY-NC 2.0], via Flickr.

06 März 2017

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (März 2017): Bewegung unter der Oberfläche

Stand: 6.3.2017.
Wenn in diesen Tagen in Deutschland von Wahlumfragen die Rede ist, dann geht es meistens um den „Schulz-Effekt“: den plötzlichen Aufschwung der Sozialdemokraten in der Wählergunst, seitdem Ende Januar bekannt wurde, dass der frühere Europaparlamentspräsident Martin Schulz bei der Bundestagswahl im September als Kanzlerkandidat antreten würde. Ein solch drastischer Zugewinn in den Umfragen macht sich in unserer Projektion natürlich auch auf europäischer Ebene bemerkbar. Die SPD, die in der letzten Projektion von Mitte Januar noch auf nur 20 Sitze im Europäischen Parlament kam, würde jetzt 29 Mandate erreichen. Und damit nicht genug: Auch in mehreren anderen Mitgliedstaaten, etwa in Ungarn, Österreich, Dänemark, Lettland und Litauen, können die Sozialdemokraten zulegen.

Trotzdem fällt der Gesamtzuwachs für die S&D-Fraktion in der Projektion eher mager aus, denn den deutlichen Zugewinnen in Deutschland stehen Verluste in mehreren anderen großen Ländern gegenüber. In Großbritannien lässt die innere Zerstrittenheit über den Brexit die Labour Party immer weiter zurückfallen. In Polen kommt die SLD nicht auf die Beine und würde nun wieder an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Und in Italien verlor der PD jüngst seinen linken Flügel, der sich nach langem Streit abspaltete und eine neue Mitte-Links-Partei gründete. Europaweit kämen die Sozialdemokraten deshalb nun auf 182 Sitze – das sind zwei mehr als im Januar, aber beileibe kein spektakulärer Anstieg.

Sollten sich die Entwicklungen der letzten Wochen verstetigen, könnte das allerdings das Kräftegleichgewicht innerhalb der S&D beeinflussen: Durch die Zugewinne in Deutschland und die Verluste in Italien überholt die SPD in der Projektion erstmals in dieser Wahlperiode den PD als stärkste nationale Einzelpartei. Gleichzeitig verliert die Labour Party innerhalb der Fraktion an relativem Gewicht – womit die S&D auch etwas weniger unter dem Brexit zu leiden hätte, als das noch vor einigen Monaten schien.

Unter der Oberfläche einer seit Januar kaum veränderten Gesamtsitzzahl in der Projektion ist bei den europäischen Sozialdemokraten demoskopisch also gerade Einiges in Bewegung.

In Polen gewinnt die EVP auf Kosten der ALDE

Ähnliches gilt auch für die christdemokratische EVP-Fraktion. Auch hier gibt es im Gesamtergebnis kaum Veränderungen gegenüber Januar (191 Sitze / ±0), dafür aber einige interne Verschiebungen: In einigen Ländern, vor allem Deutschland und Schweden, erfahren die Christdemokraten deutliche Verluste. In anderen, besonders in Polen, können sie hingegen deutlich zulegen.

Die polnische PO war nach ihrer Niederlage bei der polnischen Parlamentswahl 2015 in den Umfragen zunächst abgestürzt und von der neuen liberalen Partei Nowoczesna (ALDE) als stärkste Oppositionspartei überholt worden. Um den Jahreswechsel 2016/17 herum erlitt der Nowoczesna-Vorsitzende Ryszard Petru allerdings einen Imageschaden, als er inmitten einer schweren politischen Krise – die Opposition hatte aus Protest gegen die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat den Plenarsaal des Parlamentsgebäudes besetzt – auf einem Silvesterausflug nach Portugal beobachtet wurde. Darunter litten auch die Umfragewerte der Nowoczesna, während die PO durch die Parlamentsblockade in der Gunst der Oppositionswähler stieg.

Die deutlichen Umfrageverluste in Polen schlagen sich auch auf die europaweiten Werte der Liberalen nieder. Obwohl die ALDE in anderen Ländern auch zulegen kann, käme ihre Fraktion im Europäischen Parlament nun nur noch auf insgesamt 80 Sitze (–2) – ihr schlechtester Wert seit fast anderthalb Jahren. Der wohl wichtigste Trost für die Liberalen: In den Niederlanden, wo am 15. März das nationale Parlament gewählt wird, liegt die ALDE-Mitgliedspartei VVD jetzt wieder gleichauf mit der rechten PVV (ENF) auf dem ersten Platz.

Linke legen zu, Grüne mit deutlichen Einbußen

Etwas verbessern kann sich die Linksfraktion GUE/NGL (50 Sitze / +2). Sie profitiert unter anderem von leichten Zugewinnen in den Niederlanden und in Kroatien, wo ihre Mitgliedsparteien PvdD und ŽZ nun jeweils wieder den Sprung in das Europäische Parlament schaffen würden.

Deutliche Einbußen erleidet hingegen die grüne G/EFA-Fraktion (35 / –5). Dabei fallen die Grünen vor allem in einigen Ländern zurück, in denen die Sozialdemokraten in den letzten Wochen dazugewinnen konnten: in Deutschland, Ungarn und Dänemark. In den letzten beiden Ländern würden die grünen Mitgliedsparteien LMP und Alternativet den Einzug ins Parlament sogar ganz verpassen. Besonders gefährlich aber würde es für die Fraktion, wenn es vor der nächsten Europawahl zum Brexit kommt: Ohne ihre sechs Abgeordneten aus England und Schottland käme die G/EFA nur noch auf 29 Sitze – und läge damit gerade einmal vier Sitze über dem Minimum, das nach der Geschäftsordnung des Parlaments für die Gründung einer eigenen Fraktion erforderlich ist.

Rechts: EKR gewinnt, ENF verliert deutlich

Die größten Veränderungen aber sind im rechten Spektrum des Europäischen Parlaments zu beobachten: Wichtigster Gewinner in den Umfragen der letzten Wochen ist die rechtskonservative EKR-Fraktion, die nun 69 Sitze erreichen würde (+6). Entscheidend für diese Zugewinne sind die guten Werte der zwei größten EKR-Mitglieder, nämlich der britischen Conservatives und der polnischen PiS. Beide profitierten in den letzten Wochen als nationale Regierungsparteien von der Schwäche ihrer jeweiligen Opposition.

Demgegenüber ist die Rechtsaußen-Fraktion ENF der größte Umfrageverlierer der letzten Wochen (60 Sitze / –8). Die rechten Parteien wollten bei den nationalen Wahlen, die 2017 unter anderem in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland anstehen, eigentlich ihren endgültigen Durchbruch feiern. Nun aber fallen fast alle ENF-Mitglieder in der Wählergunst zurück – besonders deutlich die deutsche AfD und die niederländische PVV, aber auch die italienische Lega Nord und die slowakische SNS.

Kaum Veränderungen bei EFDD und Fraktionslosen

Wenig Neuigkeiten gibt es bei der dritten Fraktion des europaskeptisch-rechten Spektrums, der nationalpopulistischen EFDD, die unverändert auf 48 Sitze kommt (±0). Wenn jetzt Europawahl wäre, würde ihr litauisches Mitglied TT allerdings nicht mehr ins Parlament einziehen. Die EFDD käme damit aktuell nur noch auf Mitglieder aus drei verschiedenen Mitgliedstaaten – viel zu wenig, um nach der Geschäftsordnung des Parlaments als Fraktion weiterzubestehen.

Kaum Veränderungen gibt es auch bei den fraktionslosen Parteien, die großteils den rechtsextremen Rand des Parlaments bilden. Während die ungarische Jobbik leicht verliert, kann die slowakische ĽSNS hinzugewinnen, sodass die Fraktionslosen insgesamt bei 14 Sitzen bleiben (±0).

Neuzugang bei den „Weiteren“

Einen deutlichen Zuwachs gibt es hingegen bei den „weiteren“ Parteien, also jenen Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind und sich keiner Fraktion klar zuordnen lassen (22 Sitze / +5). Neu ist hier vor allem das Movimento Democratico e Progressista (MDP), das aus der schon erwähnten Abspaltung des linken Flügels der italienischen Sozialdemokraten entstand. Zum MDP gehören auch drei Europaabgeordnete, die vorläufig weiterhin der sozialdemokratischen Fraktion angehören und dies wohl auch künftig gerne täten. Allerdings hat der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Europas, Sergej Stanishev, die Abspaltung vor einigen Tagen mit scharfen Worten kritisiert, was die europäische Zukunft des MDP etwas ungewisser macht.

Hinzu kommt, dass das MDP eine enge Zusammenarbeit mit dem Campo Progressista (CP) anstrebt, einer anderen neu gegründeten Partei, die sich ihrerseits von der Linkspartei Sinistra Italiana (SI) abgespalten hat und vermutlich eine Mitgliedschaft in der GUE/NGL-Fraktion anstreben würde. Für die Projektion wird hier davon ausgegangen, dass es eine gemeinsame Europawahlliste von MDP und CP geben wird. Welcher Fraktion die Abgeordneten dieser gemeinsamen Liste sich letztlich anschließen würden, muss aber bis auf Weiteres offen bleiben.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Projektion für die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen im nächsten Europäischen Parlament nach nationalen Einzelparteien auf. Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert sie auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht und nach welchen Kriterien die nationalen Parteien den europäischen Fraktionen zugeordnet wurden, ist im Kleingedruckten unter der Tabelle erläutert. Mehr Informationen zu den europäischen Parteien und Fraktionen im Europäischen Parlament gibt es hier.



GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
EP heute 52 51 189 68 217 74 42 40 18
Jan. 17 48 40 180 82 191 63 48* 68 14 17
März 17 50 35 182 80 191 69 48* 60 14 22
DE 8 Linke
1 Tier
7 Grüne
1 Piraten
1 ödp
29 SPD 6 FDP
1 FW
30 Union 1 Familie
9 AfD 1 Partei
1 NPD
FR
2 EELV 18 PS 7 MD-UDI 23 LR

24 FN

GB 1 SF 3 Greens
3 SNP
13 Lab 1 LibDem
28 Cons
1 UUP
22 UKIP
1 DUP
IT

22 PD
9 FI
1 SVP

22 M5S 10 LN
4 FdI

5 MDP-CP
ES 11 UP 1 ERC
1 Comp
1 ICV
12 PSOE 7 Cʼs
1 PDeCAT
20 PP




PL


6 .N 15 PO 24 PiS


6 Kʼ15
RO

16 PSD 2 ALDE 7 PNL
2 PMP
2 UDMR




3 USR
NL 2 SP
1 PvdD
3 GL 2 PvdA 5 VVD
3 D66
1 50plus
3 CDA 1 CU
5 PVV
EL 6 Syriza
2 Pasok
8 ND 1 ANEL

2 XA
2 KKE

BE 2 PTB 1 Groen
1 Ecolo
2 sp.a
2 PS
2 OpenVLD
2 MR
2 CD&V
1 cdH
1 CSP
4 N-VA
1 VB

PT 2 CDU
2 BE

9 PS
8 PSD-CDS




CZ 3 KSČM
5 ČSSD 8 ANO 1 TOP09
2 KDU-ČSL
2 ODS



HU

4 MSZP
1 DK

11 Fidesz


5 Jobbik
SE 2 V 1 MP 6 S 2 C
1 L
4 M
4 SD


AT
2 Grüne 6 SPÖ 1 Neos 3 ÖVP

6 FPÖ

BG

6 BSP 1 DPS 6 GERB
1 RB




2 OP
1 Volya
DK 1 FmEU
5 S 3 V
1 RV
1 LA

2 DF



FI 1 Vas 2 Vihr 3 SDP 3 Kesk 3 Kok 1 PS



SK

4 SMER
1 KDH
1 M-H
1 OĽ-NOVA
2 SaS

1 SNS 2 ĽSNS 1 SR
IE 3 SF

5 FF 3 FG




HR 1 ŽZ
3 SDP
6 HDZ



1 Most
LT
5 LVŽS 2 LSDP 1 LRLS
1 DP
2 TS-LKD




LV

3 SDPS 1 ZZS 1 V 1 NA


1 LRA
1 KPV
SI 1 ZL
1 SD 1 SMC
1 DeSUS
3 SDS
1 NSi-SLS





EE

1 SDE 2 KE
2 RE





1 EKRE
CY 2 AKEL
1 DIKO
3 DISY




LU

1 LSAP 1 DP 4 CSV




MT

3 PL
3 PN





Verlauf


GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
06.03.2017 50 35 182 80 191 69 48 60 14 22
16.01.2017 48 40 180 82 191 63 48 68 14 17
14.11.2016 48 38 182 91 194 65 47 61 13 12
13.09.20164738181911896253631413
26.07.20164839185901925954611310
25.05.20165540174851876351701412
05.04.20165237179851927250531516
07.02.20165134183821967051551217
14.12.20155233185871926852531217
17.10.20155133193752046651541212
21.08.20155635190742047047491115
30.06.201561341887320569 43471120
03.05.201560321938020562 4451159
10.03.201560311967721660 4349127
12.01.201565401907021259 4743178
18.11.201460421956921259 4743168
23.09.20145339196672236147401510
28.07.2014564719175215664440134
EP 01.07.14525019167221704837
15

Die Zeile „EP 01.07.14“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 1. Juli 2014, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2014. Die Spalte für die ENF-Fraktion gibt bis Mai 2015 die Werte der Europäischen Allianz für Freiheit (EAF) bzw. der Bewegung für ein Europa der Nationen und Freiheiten (BENF) und ihr nahestehender Parteien an, die bis zur Fraktionsgründung im Juni 2015 fraktionslos waren.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Bei den „weiteren“ Parteien ist zudem die ungefähre politische Ausrichtung angegeben, um ihre Bündnismöglichkeiten auf europäischer Ebene anzudeuten. Da die betreffenden Parteien allerdings oft erst vor kurzer Zeit gegründet wurden, befindet sich ihre Programmatik zum Teil noch im Fluss, sodass die Angabe lediglich zur groben Orientierung dienen kann.

Fraktionszuordnung

Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Wahl erklärt oder ein Fraktionswechsel erscheint aus anderen Gründen sehr wahrscheinlich. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören oder ihr in der politischen Ausrichtung sehr nahe stehen, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind und bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden als „Weitere Parteien“ eingeordnet. Diese Zuordnungen folgen zum Teil natürlich auch einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung der Parteien. Jeder Leserin und jedem Leser sei es deshalb selbst überlassen, sie nach eigenen Kriterien zu korrigieren.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden diese Bedingungen nach der Projektion derzeit nicht erfüllen. Sie müssten deshalb gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete (z. B. aus der Spalte „Weitere“) für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Datengrundlage

Soweit verfügbar, wurde bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. In Ländern, wo es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder wo die letzte solche Umfrage mehr als ein Jahr zurückliegt, wurde stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament verwendet. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wurde der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet. Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wurde auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel wurden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. In Ländern, wo die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (Frankreich, Vereinigtes Königreich, Belgien, Irland), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen. Nationale Sperrklauseln werden, soweit vorhanden, in der Projektion berücksichtigt.
In Belgien entsprechen die Wahlkreise bei der Europawahl den Sprachgemeinschaft, während Umfragen üblicherweise auf Ebene der Regionen durchgeführt werden. Für die Projektion wurden für die französischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Wallonien, für die niederländischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Flandern genutzt. Für die deutschsprachige Gemeinschaft wird das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen.
In Ländern, in denen es üblich ist, dass Parteien zu Wahlen in Listenverbindungen antreten, werden der Projektion jeweils die am plausibelsten erscheinenden Listenverbindungen zugrunde gelegt. Insbesondere werden für Spanien folgende Listenverbindungen angenommen: Unidos Podemos, Compromís und ICV (mit Compromís auf dem 3., ICV auf dem 6. Listenplatz); PDeCAT und PNV (mit PNV auf dem 2. Listenplatz).
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, FW, Familienpartei, PARTEI und NPD).
In Großbritannien haben wegen der Unterschiede im Wahlrecht einige Parteien nur bei Europawahlen echte Chancen, Mandate zu gewinnen. In Umfragen zu nationalen Wahlen schneiden diese Parteien deshalb strukturell deutlich schlechter ab als bei der Europawahl. Dies gilt vor allem für UKIP und Greens. Um dies zu kompensieren, wird in der Projektion für die Greens stets das Ergebnis der Europawahl herangezogen (3 Sitze). Für UKIP und LibDem werden die aktuellen Umfragewerte für nationale Wahlen verwendet, aber für die Projektion mit dem Faktor 3 (UKIP) bzw. 1,33 (LibDem) multipliziert.
In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb jeweils mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.

Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf:
Deutschland: nationale Umfragen, 17.2.-1.3.2017, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: nationale Regionalwahl-Umfragen, 23.11.-3.12.2015 (29.3.2015 für LR, MD-UDI), Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, England: nationale Umfragen,16.-28.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Wales: Umfragen für Regionalwahl, 6.1.2017, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Schottland: Umfragen für Regionalwahl, 29.11.2016, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Nordirland: Ergebnisse der Regionalwahl, 2.3.2017.
Italien: nationale Umfragen, 19.2.-3.3.2017, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 22.2.-3.3.2017, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 17.-22.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 12.12.2016.
Niederlande: nationale Umfragen, 20.2.-5.3.2017, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 3.-15.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Belgien, niederländischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Flandern) für die nationale Parlamentswahl, 17.1.2017, Quelle: Wikipedia.
Belgien, französischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Wallonien) für die nationale Parlamentswahl, 17.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Portugal: nationale Umfragen, 8.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 6.-19.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Ungarn: nationale Umfragen, 7.-20.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Schweden: nationale Umfragen, 7.-20.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 4.3.2017, Quelle: Wikipedia.
Bulgarien: nationale Umfragen, 21.-26.2.2017, Quelle: Electograph.
Dänemark: nationale Umfragen, 19.-26.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Finnland: nationale Umfragen, 11.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 14.-25.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Irland: nationale Umfragen, 16.-23.2.2017, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 18.2.-3.3.2017, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 15.2.2017, Quelle: Electograph.
Lettland: nationale Umfragen, 28.2.2017, Quelle: Electograph.
Slowenien: nationale Umfragen, 16.-24.2.2017, Quelle: Electograph.
Estland: nationale Umfragen, 13.-25.2.2017, Quelle: Electograph.
Zypern: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 22.5.2016.
Luxemburg: nationale Umfragen, Dezember 2016, Quelle: Luxemburger Wort.
Malta: nationale Umfragen, 13.11.2016, Quelle: Malta Today.

Bilder: Eigene Grafiken.