„Europa
erwacht“, „Europas
Bürger erheben sich“, „Die
schweigende Mehrheit hat jetzt eine Stimme“: Die Schlagzeilen,
mit denen Pulse of Europe in
den letzten Tagen bedacht wurde, könnten kaum euphorischer sein.
Gleichzeitig regt sich allerdings auch Kritik an der wachsenden
Bürgerbewegung, die in den letzten Wochen jeden Sonntag mehrere
zehntausend Menschen auf die Straßen brachte: Von links wird zum
Beispiel der Vorwurf laut, dass
Pulse of Europe die
sozialen Spaltungen in Europa nicht anprangere und damit implizit
eine wirtschaftsliberale Politik unterstütze. Von Freunden der
europäischen Demokratie wiederum (etwa von
Ulrike
Guérot oder zuvor schon
von
mir selbst) ist die
Forderung zu hören, dass Pulse of Europe in
Sachen EU-Reform konkreter werden müsse.
Nur
ein Treffen des Bildungsbürgertums?
Interessant
ist schließlich aber
auch die Kritik, die Clara
Stinshoff, Studentin an der Hertie School of Governance, vor
einigen Tagen formulierte, nachdem sie an einer der
Sonntagsdemonstrationen teilgenommen hatte. Das Problem an Pulse
of Europe sei, so Stinshoff,
dass „alle dort mir so ähnlich sind. Es war ein Treffen des
liberalen Bildungsbürgertums, der Studierten und Kultivierten.“
Die Reden, die auf der
Demonstration gehalten wurden, seien akademisch gewesen; die
Erfahrungen,
über die sich die Teilnehmer identifiziert hätten, typische
Merkmale der
oberen Mittelschicht: Auslandsaufenthalte, Fremdsprachenkenntnisse,
eine Vorliebe für Wein und Käse aus
anderen europäischen Ländern.
Auf
diese Weise erreiche Pulse
of Europe letztlich
nur jene, die ohnehin schon für Europa begeistert seien, und
gefährde dadurch sein eigenes politisches Ziel:
Wir leben in einer Zeit, in der der sogenannte „Bildungsgrad“ das Wahlverhalten bestimmen kann, eine Zeit, in der Kulturkämpfe Nationen teilen. Die obere Mittelschicht wird Wahlen nicht alleine gewinnen. Wir sollten aufpassen, nicht die berüchtigte Filterblase aus den sozialen Medien auf die Straße hinauszutragen.Wenn wir Europa „retten“ wollen, dann sollten wir Menschen einschließen und verstehen, die nicht notwendigerweise das Gefühl haben, dass sie davon profitieren. Wir sollten mit jenen Kontakt aufnehmen, die nicht den Enthusiasmus für das Erasmus-Programm teilen und offene Grenzen eher als Bedrohung denn als Privileg wahrnehmen. Wir sollten versuchen, diese Menschen davon zu überzeugen, dass Europa auch für sie von Bedeutung ist, und warum liberale Werte es wert sind, dass man an sie glaubt.
Demonstrationen
müssen nicht ausgewogen sein
Diese
Kritik hat einerseits einen richtigen Kern: Pulse of Europe
ist offensichtlich nicht
repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, sondern zunächst einmal
eine Bewegung von Menschen, die die europäische Integration als
persönliche Chance wahrnehmen. Die
mediale Stilisierung zu „den“ europäischen Bürgern, die
sich endlich für den geeinten Kontinent erheben, ist letztlich
nicht weniger populistisch als die
„Wir sind das Volk“-Parolen, die
auf Pegida-Märschen
zu hören sind.
Andererseits
lässt sich einwenden, dass politische Demonstrationen ohnehin
nicht den Zweck haben,
ein ausgewogenes Bild der
Gesamtbevölkerung zu
präsentieren
oder auch nur eine
Bühne für den
Dialog verschiedener
Positionen zu bieten. Vielmehr
geht es darum, ein Zeichen
zu setzen: Seht her, es gibt
uns! Gerade
bei Pulse of Europe ist
dieses Ansinnen offenkundig.
In einer Zeit, in der der gesellschaftliche Diskurs europaweit
nach rechts kippt und
Politiker
der „Mitte-Parteien“ die Schlagwörter von Nationalpopulisten und
Europaskeptikern übernehmen, geht von den Demonstrationen eine
Signalwirkung aus: Wir
Europafreunde sind nicht verschwunden, wir
sind viele,
und wir nehmen
unsere Ziele
wichtig genug, um dafür auf die Straße zu gehen.
Wer sind die Gewinner der europäischen Integration?
Allein
das kann schon eine positive
Rückwirkung auf die politischen Parteien haben, die in diesen Wochen
in Deutschland ihre Bundestagswahlprogramme
schreiben. Jedenfalls
aber können Demonstrationen
nur ein
Ausgangspunkt für die
politische
Debatte sein, nicht
diese Debatte vorwegnehmen
oder gar ersetzen. Dass
viele Teilnehmer von Pulse
of Europe dem Bildungsbürgertum
angehören,
macht die
Bewegung nicht
weniger legitim und ihre
Argumente nicht weniger
richtig.
Und
dennoch kann die Kritik von
Clara Stinshoff ein Anstoß
sein, um
über die gesellschaftliche
Basis der Europabewegung
nachzudenken.
Wer sind eigentlich die
Gewinner der europäischen Integration? Und
wie kann es
ihnen gelingen, neue soziale
Gruppen zu erreichen, um
dauerhaft mehrheitsfähig zu sein?
Frieden
nutzt allen – na und?
Je
nachdem, welchen Aspekt der europäischen Integration man betrachtet,
kann die Antwort auf die Frage nach
den Gewinnern sehr einfach ausfallen: Wenn
man die EU in erster Linie als ein Friedensprojekt versteht, dann
profitieren davon natürlich alle
Europäer. Es ist deshalb
wenig verwunderlich, dass zum
Beispiel die
Europäische Kommission, aber auch viele
Freunde des Pulse
of Europe so gerne auf das
Friedensnarrativ zurückgreifen.
Dieses
einfache Begründungsmuster hat allerdings zwei Haken: Zum einen ist
der Zusammenhang zwischen
der europäischen Integration und dem Frieden in Europa zwar
nicht falsch, aber auch nicht
ganz
so einfach, wie
gerne behauptet wird. Und
zum anderen ist die
Friedenswahrung schlicht ein zu großes, zu abstraktes und letztlich
auch zu triviales Ziel, um damit ein so vielschichtiges
Gebilde wie die EU im Alltag immer wieder neu zu begründen.
Der
Binnenmarkt schafft Wohlstand – aber wie ist der verteilt?
Noch
schwieriger
ist das zweite
traditionelle Integrationsargument,
nämlich dass Europa
wirtschaftlichen
Wohlstand schaffe.
Tatsächlich begünstigt ein
gemeinsamer Markt
die staatenübergreifende Arbeitsteilung, mehr Arbeitsteilung führt
zu höherer Produktivität, und eine höhere Produktivität bedeutet
mehr Reichtum. Anders
ausgedrückt: Durch den EU-Binnenmarkt
wird der wirtschaftliche Kuchen größer, und
zwar (wie
das berühmte Ricardo-Theorem
zeigt) in allen
beteiligten Ländern.
Damit
ist allerdings noch nichts darüber gesagt, wie die Anteile
am Kuchen unter den
verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb der einzelnen Länder
verteilt sind. Vor allem in
den reichen Ländern nutzt
der Binnenmarkt
besonders den
Kapitalbesitzern,
die neue Investitionsmöglichkeiten gewinnen. Es
wäre jedoch falsch, die EU
deshalb allein als ein Projekt der reichen Wirtschaftseliten
abzutun. Denn zu den
Gewinnern des Binnenmarkts
gehören auch jene
Arbeitnehmer aus
ärmeren Ländern, die in
einem anderen Mitgliedstaat eine Arbeit aufnehmen und denen
dort dank
der
europäischen
Freizügigkeitsrichtlinie
auch dann noch eine gewisse
soziale Abfederung bleibt, wenn sie arbeitslos oder krank werden.
Diese Menschen sind oft alles
andere als wohlhabend – und sie sind
es, die bei einer
Renationalisierung der
Wirtschafts- und Sozialpolitik am
meisten zu verlieren haben.
Gewinner
und Verlierer sind nicht so leicht zu erkennen
Insgesamt
sind die ökonomischen
Gewinner der europäischen
Integration also eine
durchaus heterogene Gruppe, und
es könnte der Europabewegung gut tun, das stärker herauszustellen.
Gleichzeitig ist
aber nicht
abzustreiten, dass die Wirtschaftspolitik ein Feld ist, in der die EU
auch Verlierer erzeugt hat. Und
häufig ist es für den Einzelnen gar
nicht so einfach zu erkennen, auf welcher Seite er selbst dabei
eigentlich steht: Wird
der Anteil meiner Steuern, der in das EU-Budget fließt, durch die
niedrigeren Verbraucherpreise
im Binnenmarkt wieder
ausgeglichen? Drückt die
europäische Konkurrenz
in meinem Sektor das
Lohnniveau? Gäbe
es meinen Arbeitsplatz ohne
die EU überhaupt
noch?
Und hat die
Euro-Einführung
mir persönlich jetzt eher genutzt oder geschadet?
Es braucht eine ganze Menge an ökonomischem Wissen, um diese Fragen auch nur
halbwegs vernünftig beantworten zu können. Und
zuletzt werden
die meisten Menschen wohl ohnehin nicht
die EU, sondern
eher persönliche Faktoren
(ihre eigenen Fähigkeiten, ihren
bösen
Arbeitgeber) dafür
verantwortlich machen, wie viel Geld sie am Monatsende auf dem Konto
haben. Allein aus
wirtschaftlichen Gründen
wird deshalb
wohl kaum jemand zum
leidenschaftlichen
Europafreund.
Kulturell
bereichert fühlen sich vor allem Akademiker
Was
die Begeisterung für Europa
tatsächlich schürt, scheint etwas
anderes zu sein: nämlich das
Erlebnis von Freiheit und
kultureller Bereicherung, das
mit den offenen Grenzen
einhergeht. Fragt
man Freunde der europäischen
Integration nach den
Erfahrungen, die für ihre Haltung prägend waren, dann sind
das meistens Aufenthalte
im europäischen Ausland oder länderübergreifende
Freundschaften.
Umgekehrt wirken
auch bei den Europagegnern die
Argumente um
Finanztransfers und
Bürokratie oft eher
konstruiert, während
Emotionen vor allem dann aufkochen, wenn
offene Grenzen als Bedrohung
für die eigene Lebensweise
wahrgenommen werden.
Und
an dieser Stelle verläuft die
gesellschaftliche
Trennungslinie (von
Ausnahmen abgesehen) nun
tatsächlich recht deutlich
entlang der
Bildungsschichten. Denn zum einen sind beispielsweise Fremdsprachenkenntnisse natürlich sehr
hilfreich, wenn es darum
geht, einen Zugang
zu Menschen aus anderen
Kulturen zu gewinnen. Und zum
anderen haben Akademiker
während ihres Studiums eine
Lebensphase, die besser als
jede andere dazu geeignet ist, eigene
Auslandserfahrungen zu sammeln –
was auch der Grund dafür ist,
dass das Erasmus-Programm der
EU sich anfangs
nur an Studierende richtete.
Azubis
Auslandserfahrung ermöglichen
Ist
Europa also dazu verdammt, eine
Herzensangelegenheit allein
der Bildungsbürger zu bleiben? Zu
Recht zielen seit
einigen Jahren viele Ansätze
darauf ab, größeren
Bevölkerungsschichten Auslandserfahrungen
zu ermöglichen. Die
wichtigste davon ist wohl der Ausbau des Erasmus-Programms, um
insbesondere
Auszubildenden
und Praktikanten mehr
Möglichkeiten zu bieten.
Auf
große Medienaufmerksamkeit stößt
auch die
Initiative Free
Interrail, die allen
18-Jährigen ein kostenloses Ticket
für Reisen durch Europa
verschaffen will. Wie
wirksam und
sinnvoll eine solche Maßnahme
im Einzelnen wäre, ist mit
gutem Grund umstritten: Eine Urlaubsreise ist nun einmal nicht dasselbe wie ein längerer Auslandsaufenthalt.
Jedenfalls aber kann es der Akzeptanz der EU in der Bevölkerung nur nutzen,
wenn es gelingt, künftig auch weniger Gebildeten
positive Erlebnisse
im kulturellen
Austausch zu
bieten.
Zur
Selbstverständlichkeit werden
Trotzdem: Ob auf diese Weise künftig wirklich eine Mehrzahl der Europäer zu glühenden
Integrationsfreunden werden, bleibt fraglich. Aber wahrscheinlich
ist das auch gar nicht notwendig. Denn auch auf nationaler Ebene
funktioniert unser politisches System ja nicht in erster Linie
deshalb, weil ein Großteil der Bevölkerung aus „begeisterten
Deutschen“ bestünde – sondern einfach deshalb, weil die
Existenz der Bundesrepublik Deutschland allgemein als normal und
selbstverständlich angesehen wird.
Kein Thüringer macht sich
Sorgen, dass es ohne Deutschland zu einem Krieg mit Bayern kommen
könnte. Kein Hesse denkt ernsthaft darüber nach, ob er vom
gemeinsamen Binnenmarkt mit Sachsen stärker profitiert, als er im
gemeinsamen Sozial- und Rentensystem draufzahlt. Und auch die
Begeisterung über den kulturellen Austausch zwischen
Baden-Württembergern und Niedersachsen hält sich in der Regel in
überschaubaren Grenzen. Dass es einen gemeinsamen deutschen Staat
gibt, muss im Alltag nicht weiter begründet werden, weil es auch
nicht weiter in Frage gestellt wird. Zu einer solchen
Selbstverständlichkeit zu werden, wäre auch für die EU wohl das
bestmögliche Ergebnis.
Der Schlüssel ist die gemeinsame Demokratie
Wie aber kommen wir dorthin? Wie
ich auf diesem Blog schon
an anderer Stelle geschrieben habe, scheint mir der Schlüssel dafür die gemeinsame Demokratie zu sein. Solange Europapolitik
in erster Linie als Verhandlung zwischen den nationalen Regierungen
im Europäischen Rat stattfindet, wird auch die öffentliche Debatte
immer wieder darum kreisen, welche Vorteile dabei für das eigene
Land herauskommen und ob man nicht ohne die EU noch viel besser
fahren könnte. Dadurch werden nationale Identitäten betont und
Nationalpopulisten ein Einfallstor geboten.
Wenn hingegen das Europäische
Parlament zum zentralen Entscheidungsorgan wird und das demokratische
Wechselspiel zwischen den verschiedenen europäischen Parteien im
Mittelpunkt steht, dann wird sich auch die öffentliche Wahrnehmung der
EU verändern. Die Konfliktlinien, die den politischen Alltag und
damit auch die politischen Identitäten in der Bevölkerung prägen,
wären nicht mehr national, sondern weltanschaulich definiert. Wer
mit dem Kurs der Europapolitik unzufrieden ist, würde nicht mehr
über einen Austritt nachdenken, sondern einfach bei der nächsten
Europawahl seine Stimme der Opposition geben. Und auch wenn dann
weniger Menschen stolz die Europafahne schwenken, würden mehr
Bürger die Politik der EU als ihre eigene erleben.
Bis
auf Weiteres bleibt die Europabewegung notwendig
Diese gemeinsame europäische
Demokratie muss natürlich erst einmal erreicht werden, und bis dahin
wird es noch einige Widerstände (nicht nur von Seiten der
Rechtspopulisten, sondern auch aus der zögerlichen „Mitte“)
zu überwinden geben. Bis auf Weiteres bleibt eine engagierte und
leidenschaftliche Europabewegung also notwendig, ob nun
bildungsbürgerlich oder nicht.
Aber wenn sie langfristig den
Erfolg des Integrationsprojekts sichern will, dann sollte sie nicht
allein auf die Menschen setzen, die sich für Europa begeistern
lassen – sondern demokratische Reformen anstreben, durch die die EU auch für
alle anderen zu einer solchen Selbstverständlichkeit wird, wie es
die Nationalstaaten heute schon sind.
Die Demonstrationen von Pulse of Europe finden jeweils sonntags um 14 Uhr in zahlreichen deutschen und europäischen Städten statt. Ein
Überblick über alle Orte findet sich hier.
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Bilder: clogsilk [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Pulse of Europe.