26 Juni 2019

Wie weiter mit den Spitzenkandidaten? (2): Welche Schritte zur Parlamentarisierung der EU jetzt folgen müssen

Spitzenkandidaten allein sind nicht genug: Der Weg zu einer parlamentarischen Demokratie in der EU muss weitergehen.
Die Verhandlungen über die Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten dauern an – und scheinen, wenigstens auf den ersten Blick, in den letzten zwei Wochen kaum vorangekommen zu sein. Noch immer gibt es eine Mehrheit im Europäischen Parlament, um für dieses Amt nur einen Spitzenkandidaten zu akzeptieren, aber keine Mehrheit für einen bestimmten dieser Kandidaten. Noch immer lauern einige Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat, die das Spitzenkandidaten-Verfahren lieber heute als morgen begraben würden. Aber noch immer weiß das Parlament, dass ein Einknicken jetzt zu einer dauerhaften Schwächung führen könnte, und warnt vor Rückschritten bei der Demokratisierung der EU.

Erfolge und Unzulänglichkeiten des Spitzenkandidaten-Verfahrens

Aber welche Rolle spielt das Spitzenkandidaten-Verfahren eigentlich für die europäische Demokratie? Im ersten Teil dieses Artikels ging es hier vor einigen Tagen um die Erfolge, die das Verfahren jetzt schon erreicht hat: Durch die Spitzenkandidaten ist die Diskussion über die Kommissionspräsidentschaft transparenter geworden. Die europäischen Parteien wurden gestärkt, indem sie als politische Machtzentren an Bedeutung gewannen. Transnationale Netzwerke wurden wichtiger, wodurch auch die Spitzenkandidaten selbst ein stärker supranationales Profil haben als frühere Kommissionspräsidenten. Und schließlich gewannen die europäischen Parteien auch an medialer Sichtbarkeit, was nicht zuletzt dazu beitrug, dass autoritäre nationale Mitgliedsparteien wie die ungarische Fidesz in der EVP oder die rumänische PSD in der SPE stärker unter Druck gerieten.

Aber natürlich ist das Spitzenkandidatenverfahren nur ein kleiner Schritt auf dem langen Weg zu einer parlamentarischen Demokratie auf europäischer Ebene. In seiner jetzigen Form stößt es immer wieder auch auf Grenzen und inhärente Widersprüche, die sein Potenzial zur Demokratisierung der EU beschränken. An dieser Stelle soll es deshalb um die Unzulänglichkeiten des Spitzenkandidatenverfahrens gehen – und um die nächsten Schritte, die nötig sind, um diese zu überwinden.

Künstliche Engführung der Personalauswahl

Ein erster solcher Widerspruch entsteht schon durch die Festlegung des Parlaments, dass in jedem Fall nur ein Spitzenkandidat Kommissionspräsident werden dürfe. Gegenüber der Praxis in nationalen Demokratien stellt dieses Prinzip eine ungewöhnliche Verengung des Verhandlungsspielraums für die parlamentarische Mehrheitsbildung dar. Zwar ist es auch auf nationaler Ebene gängig, dass Parteien vor der Wahl Kandidaten für das Amt des Regierungschefs ernennen. Doch wenn es dann unklare Mehrheitsverhältnisse gibt und es zu schwierigen Koalitionsverhandlungen kommt, geht dieses Amt immer wieder auch an Nicht-Spitzenkandidaten. Zahlreiche Beispiele dafür bietet Italien, wo seit dem Abtritt von Silvio Berlusconi (FI/EVP) 2011 bereits fünf verschiedene Premierminister regierten, von denen kein einziger zuvor Spitzenkandidat bei einer nationalen Wahl gewesen war.

Dass das Europäische Parlament sich dennoch auf die künstliche Engführung festgelegt hat, liegt natürlich an der latent destruktiven Haltung des Europäischen Rates. Dessen formale Rolle bei der Ernennung des Kommissionschefs ist grundsätzlich mit der eines nationalen Staatschefs zu vergleichen, der ebenfalls oft ein Vorschlagsrecht für das Amt des Regierungschefs hat.

Kommt es auf nationaler Ebene zu schwierigen Mehrheitsverhältnissen, so versucht ein Staatschef allerdings üblicherweise, als neutraler Schlichter zwischen den Parteien zu vermitteln. Der Europäische Rat ist hingegen kein neutrales Organ, sondern politisch zusammengesetzt (zudem mit etwas anderen Mehrheiten als das Parlament). Er verfolgt deshalb seine eigene Agenda, und viele seiner Mitglieder haben bis heute nicht akzeptiert, durch die Spitzenkandidaten in ihrem Entscheidungsspielraum eingeschränkt zu werden. Die Festlegung darauf, dass nur ein Spitzenkandidat Kommissionspräsident werden kann, war für das Parlament deshalb notwendig, damit die Spitzenkandidaten überhaupt als Anwärter für das Amt ernstgenommen werden.

Das Risiko der „Spitzenteams“

Daraus ergibt sich allerdings sofort die durchaus umstrittene Frage, wer überhaupt als Spitzenkandidat gelten darf – konkret: ob Margrethe Vestager (RV/ALDE), die nur eines von sieben Mitgliedern des liberalen „Spitzenteams“ war, als Kommissionspräsidentin in Frage kommt. Zu einem gewissen Grad ist das zwar eine bloße Scheindebatte: Ob Vestager als Spitzenkandidatin gilt, hängt letztlich nur davon ab, ob eine Mehrheit im Parlament bereit ist, sie als solche anzuerkennen.

Doch haben die kritischen Einwände durchaus ihre Berechtigung: Wenn sich die ALDE-Strategie durchsetzt, hätten auch die anderen Parteien einen Anreiz, künftig nicht mehr mit einzelnen Spitzenkandidaten, sondern mit einem Spitzenteam anzutreten und dadurch ihren Spielraum nach der Wahl zu erhöhen. Zugleich aber würde die Spitzenkandidatennominierung dadurch an politischer Relevanz verlieren, und die jüngsten Fortschritte in Sachen Transparenz und Öffentlichkeit wären wieder dahin.

Reform 1: Gesamteuropäische Listen

Eine Lösung für dieses Problem hat die ALDE selbst im Angebot: Mit gesamteuropäischen Wahllisten, wie sie im Europäischen Parlament schon länger diskutiert und zuletzt besonders prominent von Emmanuel Macron (LREM/ALDE-nah) gefordert wurden, hätte jede europäische Partei automatisch genau einen Spitzenkandidaten: eben die Person, die auf dem ersten Platz der transnationalen Wahlliste antritt. Zugleich wäre die Existenz von Spitzenkandidaten mit gesamteuropäischen Listen unmittelbar im Wahlrecht verankert, sodass das Überleben des Verfahrens auch dann nicht gefährdet wäre, wenn einmal doch ein Nicht-Spitzenkandidat zum Kommissionspräsidenten gewählt wird.

Und auch sonst stellen gesamteuropäische Listen gewissermaßen eine logische Fortsetzung des Spitzenkandidatenverfahrens dar: Dessen wichtigste Vorteile wie der Bedeutungs- und Sichtbarkeitsgewinn der europäischen Parteien, die größere Relevanz länderübergreifender Netzwerke und die stärker supranationale Ausrichtung des politischen Personals würden mit transnationalen Listen weiter vorangetrieben. Dass sich im Ringen um die Spitzenkandidaten inzwischen auch die deutsche CDU (EVP) für gesamteuropäische Listen geöffnet hat, ist deshalb eine sehr positive Entwicklung.

Nur ein Kommissionsmitglied von 28

Wenn man es mit der Parlamentarisierung der Europäischen Kommission ernst meint, sind Spitzenkandidaten und gesamteuropäische Wahllisten allerdings weiterhin nicht genug. Denn der Präsident ist schließlich nur eines von 28 Kommissionsmitgliedern, und auch wenn Art. 17 Abs. 6 EUV ihm eine Leitlinienkompetenz zugesteht, fallen Beschlüsse der Kommission nach Art. 250 AEUV grundsätzlich im Kollegialprinzip, wobei alle Mitglieder gleichberechtigt sind. Um die politische Ausrichtung der Kommission tatsächlich an das Europäische Parlament zu binden, müsste deshalb nicht nur der Kommissionspräsident, sondern auch der Rest der Kommission von einer Mehrheit im Parlament abhängig sein.

Tatsächlich gilt nach Art. 17 Abs. 7 EUV schon heute, dass die Kommission nur nach Zustimmung des Parlaments ins Amt kommen kann. Ganz ähnlich wie beim Kommissionspräsidenten wird auch die Liste der übrigen Kommissare vom Rat vorgeschlagen und dann vom Parlament gewählt.

In der politischen Praxis nimmt das Parlament hier bislang allerdings nur geringen Einfluss: In den allermeisten Fällen bestätigt es schlicht die Vorschläge der nationalen Regierungen; nach den letzten Europawahlen wurden jeweils nur einzelne vorgeschlagene Kommissare zurückgewiesen. Und selbst in diesen Fällen erhielten die nationalen Regierungen jeweils die Chance zu einem Alternativvorschlag. Versuche des Parlaments, stattdessen eigene Kandidaten zu lancieren, blieben zaghaft und erfolglos.

Reform 2: Wahl der gesamten Kommission durch das Parlament

Infolgedessen spiegelt die parteipolitische Zusammensetzung der Europäischen Kommission auch nicht die Mehrheiten im Europäischen Parlament wider. Wer Kommissar werden will, braucht dafür vor allem Rückhalt bei seiner nationalen Regierung, nicht in seiner europäischen Partei – ganz so wie die Kommissionspräsidenten in der Zeit vor dem Spitzenkandidatenverfahren. Das schwächt nicht nur das Europäische Parlament und die europäischen Parteien, sondern nimmt auch der Europawahl einen guten Teil der politischen Bedeutung, die nationale Wahlen besitzen.

Um die parlamentarische Demokratie auf europäischer Ebene voranzutreiben, wäre deshalb die Wahl der Kommission allein durch das Europäische Parlament ein wichtiger nächster Reformschritt. Diese Reform wäre gegebenenfalls auch ohne eine formale Vertragsänderung möglich. So wie das Spitzenkandidatenverfahren ist sie lediglich eine Frage der politischen Praxis: Würden die europäischen Parteien außer den Spitzenkandidaten künftig auch eine Art Schattenkabinett nominieren (also Kandidaten für jedes einzelne Ressort, das in der Kommission zu vergeben ist), so könnte das das Vorschlagsrecht des Rates zur bloßen Formalie machen – vorausgesetzt natürlich, die europäischen Parteien und das Parlament hätten den öffentlichen Rückhalt, um diese Veränderung gegenüber den nationalen Regierungen durchzusetzen.

Reform 3: Ein konstruktives Misstrauensvotum

Ein weiteres Hemmnis für eine die Parlamentarisierung der Europäischen Kommission betrifft die zeitliche Dimension. Durch das Spitzenkandidatenverfahren (und gegebenenfalls durch die Wahl der übrigen Kommissionsmitglieder) hat die Parlamentsmehrheit zwar die Möglichkeit, die Kommission am Anfang der Wahlperiode auf ihre Agenda zu verpflichten. Wenn die Kommission später davon abweicht, etwa indem sie vom Parlament gewünschte Gesetzgebungsvorschläge einfach nicht einbringt, so haben die Abgeordneten kaum Möglichkeiten, dies zu sanktionieren: Nach Art. 234 AEUV kann die Kommission nur durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament zum Rücktritt gezwungen werden. Und wenn es dazu kommt, so ist es nach dem Verfahren in Art. 17 Abs. 7 EUV wiederum der Europäische Rat, der einen neuen Kommissionspräsidenten vorschlägt.

Für eine volle parlamentarische Verantwortlichkeit der Kommission ist deshalb eine Reform des Misstrauensvotums im Europäischen Parlament notwendig. Wie in anderen parlamentarischen Demokratien sollte die Kommission bereits dann zurücktreten müssen, wenn sie von einer absoluten Mehrheit im Parlament abgelehnt wird. Gleichzeitig sollte ein solches Misstrauensvotum konstruktiv sein – das Parlament also das Recht und die Pflicht bekommen, mit dem Sturz des alten Kommissionspräsidenten zugleich einen neuen zu wählen.

Mit einer solchen Regelung wäre die Kommission dauerhaft und direkt auf das Vertrauen einer Mehrheit im Europäischen Parlament angewiesen, so wie das auch in den parlamentarischen Demokratien der meisten EU-Mitgliedstaaten der Fall ist. Zugleich würde dadurch das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates bei der Wahl des Kommissionspräsidenten endgültig zur Formalie, da das Parlament über ein konstruktives Misstrauensvotum jederzeit seinen eigenen Kandidaten ins Amt bringen könnte.

Die ewige GroKo setzt Fehlanreize für Spitzenkandidaten

Mit diesen drei Reformen wäre eine sehr enge Verbindung zwischen Parlamentsmehrheit und Exekutive hergestellt – so wie sie auch in anderen parlamentarischen Demokratien üblich ist. Dennoch bliebe noch ein wichtiger Faktor übrig, der im Zusammenhang mit dem Spitzenkandidatenverfahren für Probleme sorgt: die faktische Unvermeidbarkeit einer permanenten Großen Koalition auf europäischer Ebene.

Dass auf europäischer Ebene bislang kein Weg an einer Zusammenarbeit der größten Parteien (EVP, SPE, ALDE) vorbeiführt, reduziert nicht nur die Relevanz der Europawahl als demokratische Richtungsentscheidung, sondern führt auch im Kontext des Spitzenkandidatenverfahrens zu problematischen Anreizen: Da alle drei Parteien wissen, dass sie ohnehin keine Alternative zur Zusammenarbeit haben, spielt die Koalitionsfähigkeit auch bei der Auswahl des Spitzenkandidaten nur eine untergeordnete Rolle.

Deutlich wurde dies zuletzt bei der Nominierung des EVP-Kandidaten Manfred Weber: Dieser war innerparteilich sehr geschickt darin, Brücken zwischen dem liberalen und dem rechten Flügel zu bauen; bei den anderen Fraktionen stieß er jedoch von Beginn an auf massive Ablehnung. Allerdings hielt das die EVP nicht davon ab, ihn trotzdem zu aufzustellen – offenbar in der Erwartung, die anderen Fraktionen würden sich nach der Wahl schon in die Personalie fügen, um das Spitzenkandidatenverfahren als solches zu retten. Dass das bislang nicht eingetreten ist, sondern Sozialdemokraten und Liberale bei ihrer Ablehnung Webers geblieben sind, ist ein wesentlicher Grund für die derzeitige „Spitzenkandidaten-Krise“.

Reform 4: Weniger Blockademöglichkeiten im Rat

Aber wie ließe sich das ändern? Die Unvermeidbarkeit der Großen Koalition liegt zum Teil am Wahlverhalten der europäischen Bürger, die sich ein sehr heterogenes Parlament mit derzeit sieben Fraktionen und zahlreichen europafeindlichen Systemoppositionellen gewählt haben. Zum wesentlichen Teil ist es aber auch eine Folge des institutionellen Aufbaus der EU. Denn das Parlament ist bei der Gesetzgebung stets auch auf die Zustimmung des Ministerrats angewiesen, der nicht mit einfacher, sondern mit qualifizierter Mehrheit entscheidet – und jede der drei großen Parteien ist an genügend Regierungen beteiligt, um eine Sperrminorität zu bilden. Auch wenn im Rat in der Regel nicht strikt nach Parteilinie abgestimmt wird, ist eine stabile Mehrheit ohne oder gegen eine der großen Parteien nahezu ausgeschlossen.

Will man auf europäischer Ebene stabile alternative Mehrheiten jenseits der Großen Koalition ermöglichen, so führt der Weg deshalb über einen Abbau von Blockademöglichkeiten des Ministerrats in der Gesetzgebung – etwa indem dort die Mehrheitserfordernisse abgesenkt werden oder, noch effektiver, indem das Parlament in bestimmten Politikfelder künftig ganz ohne Beteiligung des Rats entscheiden kann. Ein Vorbild dafür kann die deutsche Föderalismusreform von 2006 sein, bei der ebenfalls die Mitspracherechte des Bundesrats reduziert wurden, um dem parteipolitischen Wechselspiel im Bundestag bessere Geltung zu verleihen.

Spitzenkandidaten sind gut, aber genügen nicht

Gesamteuropäische Wahllisten, eine Wahl der Kommission allein durch das Parlament, ein konstruktives Misstrauensvotum und eine Entmachtung des Ministerrats bei der Gesetzgebung: Es sind noch viele und zweifellos dicke Bretter zu bohren, bis die Parlamentarisierung der Europäischen Kommission vollendet ist. Das Spitzenkandidatenverfahren war dabei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Für sich allein ist es aber noch nicht genug – und wird aufgrund seiner inhärenten Widersprüche und Fehlanreize immer umstritten bleiben, solange es nicht um weitere Reformen ergänzt wird.

Unabhängig davon, wie der aktuelle Tobjobs-Poker in den nächsten Tagen ausgeht: Es ist an der Zeit, uns nicht mehr nur am Spitzenkandidaten-Verfahren abzuarbeiten, sondern beim Aufbau einer parlamentarischen Demokratie auf europäischer Ebene die notwendigen nächsten Schritte zu tun.

Wie weiter mit den Spitzenkandidaten?

1: Warum das neue Verfahren schon jetzt ein Erfolg ist
2: Welche Schritte zur Parlamentarisierung der EU jetzt folgen müssen

Bild: European Union 2019 – Source: European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 4.0], via Flickr.

13 Juni 2019

Wie weiter mit den Spitzenkandidaten? (1): Warum das neue Verfahren schon jetzt ein Erfolg ist

Auch wenn gerade wieder einmal viel über die Spitzenkandidaten gestritten wird: Ein Erfolg ist das Verfahren schon jetzt.
Fünf Spitzenjobs sind in der EU in den nächsten Wochen und Monaten zu vergeben: der des Ratspräsidenten, den die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat am 20./21. Juni ernennen wollen. Der des Parlamentspräsidenten, der am 2. Juli vom Europäischen Parlament gewählt wird. Die des Kommissionspräsidenten und des Hohen Vertreters für die Außenpolitik, die sowohl im Europäischen Rat als auch im Parlament eine Mehrheit benötigen, weil sie von Ersterem vorgeschlagen und von Letzterem gewählt werden. Und schließlich der des Präsidenten der Europäischen Zentralbank, der im Herbst vom Europäischen Rat ernannt wird.

Die breitere öffentliche Debatte aber konzentriert sich vor allem auf eines dieser fünf Ämter, nämlich die Kommissionspräsidentschaft. Das liegt zum einen daran, dass der Kommissionspräsident als Chef der EU-Exekutive die größte formale Macht hat. Zum anderen gibt es hier aber auch den größten Streit über das Ernennungsverfahren selbst: Wie schon bei der Europawahl 2014 haben die Fraktionen der Europäischen Volkspartei, der Sozialdemokraten und der Grünen (die gemeinsam eine Mehrheit im Europäischen Parlament stellen) angekündigt, niemanden zum Kommissionspräsidenten zu wählen, der nicht zuvor Spitzenkandidat einer europäischen Partei gewesen ist. Einige Staats- und Regierungschefs beharren hingegen darauf, dass diese Entscheidung allein beim Europäischen Rat liege – am prominentesten der Franzose Emmanuel Macron (LREM/–), der dementsprechend in den letzten Wochen diverse mögliche Alternativen ins Spiel brachte, von dem halbwegs plausiblen Michael Barnier (LR/EVP) bis zu der definitiv nicht an dem Amt interessierten Angela Merkel (CDU/EVP).

Gegenüber dem Rat säße das Parlament am längeren Hebel

Ginge es allein um diesen Konflikt, so säßen die Abgeordneten freilich wie schon 2014 am längeren Hebel: Die Regierungschefs wissen selbst, dass das Parlament bei einer Aufgabe des Spitzenkandidatenverfahrens zu viel zu verlieren hätte. Würden sie ernsthaft einen von Macrons Alternativkandidaten nominieren, so führte das auf direktem Weg zu einer Ablehnung durch das Parlament. Zugleich stößt auch innerhalb des Europäischen Rates und in der breiten europäischen Öffentlichkeit keiner der Alternativnamen auf überragende Zustimmung.

Statt die institutionelle Krise zu suchen, wäre es für die Regierungschefs deshalb naheliegend, einfach den vom Parlament gewünschten Spitzenkandidaten als Kommissionspräsidenten zu akzeptieren – und ihren eigenen Einfluss bei den anderen Spitzenämtern sowie den übrigen Kommissionsmitgliedern auszuüben, deren Ernennung nicht ganz so sehr im Licht der Öffentlichkeit steht.

Eine Mehrheit für das Verfahren – aber nicht für einen Kandidaten

Doch so einfach ist die Sache diesmal nicht. Denn im Europäischen Parlament gibt es bislang zwar eine Mehrheit für das Spitzenkandidatenverfahren, aber nicht für einen bestimmten Kandidaten. Mehr noch: Nicht einmal, was das Spitzenkandidatenverfahren genau bedeutet, ist im Parlament unumstritten. Vor allem an zwei Fragen entzünden sich dabei die Konflikte.

Die erste davon betrifft die Rolle des Kandidaten der stärksten Fraktion. 2014 hatten sich die drei größten Fraktionen EVP, S&D und ALDE bereits vor der Europawahl in einer gemeinsamen Erklärung eindeutig dafür ausgesprochen, dass der Kandidat der stärksten Fraktion als Erstes versuchen solle, eine Mehrheit im Parlament zu bilden. Nach der Wahl unterstützten dann alle drei Fraktionen recht schnell schnell den erfolgreichen Kandidaten Jean-Claude Juncker (CSV/EVP).

Vorgriffsrecht der stärksten Fraktion?

Diesmal hingegen wird die Idee einer Art Vorgriffsrecht für den Kandidaten der stärksten Fraktion nur noch von der EVP vorgebracht, die davon selbst unmittelbar profitiert. Die anderen Fraktionen – allen voran die Liberalen – lehnten eine solche Lesart des Verfahrens jedoch explizit ab und betonten, dass es hier keinen Automatismus gebe: Kommissionspräsident werde nicht notwendigerweise der Kandidat der stärksten Fraktion, sondern (wie in Art. 17 Abs. 7 EUV vorgesehen) derjenige, der eine absolute Mehrheit der Abgeordneten hinter sich bringe.

Im Ergebnis führte dieser Konflikt nach der Wahl erst einmal zu einer Pattsituation: Während die EVP auf dem Vorrang ihres Kandidaten Manfred Weber (CSU/EVP) beharrt, wollen die Liberalen dessen Wahl schon aus Prinzip vermeiden. Und da keine der beiden Fraktionen bei der Mehrheitsbildung einfach umgangen werden kann, dauern die Verhandlungen an.

Wer gilt als Spitzenkandidat?

Noch grundsätzlicher ist der zweite Konfliktpunkt: die Frage, wer überhaupt als Spitzenkandidat zu zählen hat. Von den großen proeuropäischen Parteien hatten vor der Wahl nur EVP und SPE einen Einzelkandidaten aufgestellt, die Grünen hingegen eine Doppelspitze – und die liberale ALDE gar ein Spitzenteam mit nicht weniger als sieben Personen. Innerhalb dieses Teams stach zwar eine Frau, die Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (RV/ALDE), besonders heraus. Allerdings bezeichnete sie sich selbst im Wahlkampf ausdrücklich nicht als „Spitzenkandidatin“, und dass sie Kommissionspräsidentin werden wolle, machte sie erst am Wahlabend so richtig klar. Genügt das, um für das Parlament trotzdem wählbar zu sein?

Hier gehen die Meinungen auseinander: Während etwa die europäischen Grünen explizit bereit wären, Vestager wie eine Spitzenkandidatin zu behandeln und gegebenenfalls zur Kommissionspräsidentin zu wählen, sähe vor allem die EVP (aber beispielsweise auch die neu gewählte sozialdemokratische Abgeordnete Katarina Barley) darin eine Unterwanderung des Spitzenkandidatenprinzips. Und natürlich gilt auch für Vestager, dass sie ohne die Zustimmung der EVP keine realistische Chance hat, Kommissionspräsidentin zu werden. Die Konflikte, die vor allem EVP und ALDE über die richtige Deutung des Spitzenkandidatenverfahrens austragen, sind deshalb immer auch personelle Machtfragen – und verhindern bislang eine Einigung im Parlament über die Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten.

Die Kommissionspräsidentschaft als Teil eines Gesamtpakets

Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, finden seit der Europawahl zahlreiche Gespräche in komplexen, variierenden Formaten statt: zwischen den Regierungschefs im Europäischen Rat, den Fraktionen im Europäischen Parlament, aber auch in einer hybriden „Sechsergruppe“, die sich aus je zwei Regierungschefs von jeder der drei großen Parteien (EVP, SPE, ALDE) zusammensetzt und damit sowohl einer zwischenstaatlichen als auch einer parteipolitischen Logik folgt.

Dabei wird die Kommissionspräsidentschaft immer mehr zum Teil eines Gesamtpakets, das nicht nur die übrigen EU-Spitzenjobs umfasst, sondern auch die inhaltlichen Schwerpunkte der nächsten fünf Jahre, für die sowohl der Europäische Rat als auch das Europäische Parlament (in Form einer Vier-Fraktionen-Koalition aus EVP, S&D, ALDE und Grünen) derzeit eine jeweils eigene Agenda ausarbeiten.

Hat sich das Verfahren nun durchgesetzt? Oder ist es gescheitert?

Was bedeutet dies nun für das Spitzenkandidatenverfahren? Hat es sich durchgesetzt, da Außenseiter wie die von Macron vorgeschlagenen Alternativkandidaten kaum noch eine Chance haben? Oder ist es gescheitert, da über die Ernennung des Kommissionspräsidenten nun doch wieder erst nach der Wahl in schwer durchschaubaren Hinterzimmergesprächen verhandelt wird? Verkommt es gar zu einer „Posse“, weil angesichts der vielfältigen Debatten über die „richtige“ Lesart des Verfahrens überhaupt nicht mehr klar ist, was es eigentlich zu bedeuten hat?

Will man zum jetzigen Zeitpunkt eine Zwischenbilanz ziehen, so muss man sich zunächst vor Augen führen, welchen Zweck das Spitzenkandidatenverfahren eigentlich erfüllen sollte. Darauf mögen verschiedene Akteure unterschiedliche Antworten geben. Aus meiner eigenen Sicht war das Spitzenkandidatenverfahren vor allem ein Schritt zur Parlamentarisierung der Europäischen Kommission, indem es die faktische Entscheidung über den Kommissionspräsidenten von den nationalen Regierungen auf die europäischen Parteien und ihre Fraktionen im Europäischen Parlament übertrug. Diese Parlamentarisierung wiederum folgt letztlich dem Ziel einer europäischen Demokratie, in der die europäische Bevölkerung die Europawahl nutzen kann, um eine informierte Richtungsentscheidung über den politischen Kurs der EU zu treffen.

Relevante Fortschritte zur Demokratisierung der EU

Dass das Spitzenkandidatenverfahren für sich allein nicht genügt, um dieses Ziel zu erreichen, steht außer Frage. In einigen Bereichen aber scheint es mir durchaus schon zu relevanten Fortschritten geführt zu haben.

● So haben die Spitzenkandidaten die Transparenz des Wahlverfahrens erhöht. Liest man Artikel aus dem Jahr 2004, in denen im Kontext der Europawahl über den neuen Kommissionspräsidenten spekuliert wurde (etwa hier, hier oder hier), so findet man ein ganzes Bündel von Namen – der des späteren Kommissionspräsidenten José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) ist in aller Regel nicht darunter. Hingegen hat das Spitzenkandidatenverfahren das Set an möglichen Bewerbern deutlich überschaubarer gemacht. Auch wenn wegen der schwierigen Mehrheitsfindung der neue Präsident nicht gleich am Wahlabend feststeht, ist es nun sehr viel einfacher, mögliche Szenarien für seine Ernennung zu antizipieren. Die europäische Politik ist dadurch etwas einfacher verständlich geworden, eine wichtige (wenn auch für sich allein nicht hinreichende) Voraussetzung für eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit.

● Zudem haben die Spitzenkandidaten recht offensichtlich zu einer Stärkung der europäischen Parteien geführt. Wer auf europäischer Ebene politische Karriere machen will, muss dafür in erster Linie auf nationaler Ebene gut vernetzt sein. Von der Besetzung der Europawahllisten bis zur Ernennung der Kommissare erfolgen alle Schlüsselentscheidungen der europäischen Personalpolitik durch die nationalen Parteien oder Regierungen. Die Spitzenkandidaten sind die ersten Politiker, für die das nicht mehr gilt: Wer Kommissionschef werden will, muss dafür zuerst von einer europäischen Partei nominiert werden und braucht deshalb auch ein starkes transnationales Netzwerk.

Mehr Sichtbarkeit für die europäischen Parteien

● Dies führte auch zu einem stärker supranationalen Profil der Bewerber: Während die Kommissionspräsidenten in den letzten Jahrzehnten stets frühere Regierungschefs waren, die zunächst im nationalen Rahmen aufgestiegen waren und dann ihre Beziehungen im Europäischen Rat nutzten, entstammen die prominenten Spitzenkandidaten von 2019 ausnahmslos den überstaatlichen EU-Institutionen: Manfred Weber, Ska Keller (Grüne/EGP) und Jan Zahradil (ODS/AKRE) waren Fraktionschefs im Europäischen Parlament, Margrethe Vestager und Frans Timmermans (PvdA/SPE) Mitglieder der Europäischen Kommission. Dieser andere Hintergrund impliziert nicht nur eine andere Perspektive auf die europäische Politik, als sie die nationalen Regierungschefs mitbringen. Er ist auch ein Signal an fähige und ambitionierte Nachwuchspolitiker, dass es sich lohnt, eine europäische Karriere einzuschlagen.

● Und schließlich verleihen die Spitzenkandidaten den europäischen Parteien auch mehr Sichtbarkeit. Denn auch wenn die Fernsehdebatten zwischen ihnen vor der Europawahl oft nur in Spartensendern liefen und ein Effekt der Spitzenkandidaten auf das Wahlverhalten allenfalls in ihren jeweiligen Herkunftsländern zu beobachten war, führte das neue Verfahren in der Summe zu einer erhöhten Berichterstattung der europäischen Medien. Auch hier ist der Vergleich zu 2004 erhellend, als parteipolitische Aspekte in der öffentlichen Debatte über den nächsten Kommissionspräsidenten noch so gut wie überhaupt nicht vorkamen. 2019 hingegen kommt praktisch kein Artikel zu dem Thema mehr ohne Erklärungen zur Rolle der europäischen Parteien aus; Bezeichnungen wie „Europäische Volkspartei“ sind in der deutschen Öffentlichkeit erstmals zu gängigen Begriffen geworden. Und auch die Rolle der ungarischen Regierungspartei Fidesz in der EVP wurde hier niemals zuvor so ausführlich diskutiert wie während des Europawahlkampfs, wobei die Frage, wie sich Spitzenkandidat Manfred Weber dazu positionieren würde, immer wieder als Aufhänger diente.

Schon heute ein Erfolg – mit Aussicht auf weitere Fortschritte

All diese Fortschritte lassen das Spitzenkandidatenverfahren insgesamt schon heute als einen Erfolg erscheinen. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass sowohl 2014 als auch 2019 von vielen Beobachtern stark bezweifelt wurde, ob es überhaupt zur Anwendung kommen würde. Je stärker die Nominierung von Spitzenkandidaten durch die europäischen Parteien bei künftigen Wahlen zur Routine wird, desto eher werden sich auch die Erwartungen der politischen Akteure und der Öffentlichkeit daran ausrichten, was die beschriebenen Effekte jeweils noch verstärken würde.

An anderen Stellen stößt das Spitzenkandidatenverfahren in seiner jetzigen Form allerdings auch auf Grenzen und inhärente Widersprüche, die sein Potenzial bei der Demokratisierung der EU beschränken. Dass so viel über die „richtige“ Lesart des Verfahrens gestritten wird, ist deshalb kein Zufall. Um auf dem Weg zu einer parlamentarischen Kommission voranzukommen, muss es um weitere Reformen ergänzt werden. Dazu in Kürze mehr im zweiten Teil dieses Artikels.

Wie weiter mit den Spitzenkandidaten?

1: Warum das neue Verfahren schon jetzt ein Erfolg ist
2: Welche Schritte zur Parlamentarisierung der EU jetzt folgen müssen

Bild: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr.