Regelmäßige Leser
dieses Blogs werden wissen (oder können zum Beispiel hier
und hier
nachlesen), dass ich das Fehlen automatischer Stabilisatoren und die
damit verbundene Anfälligkeit für asymmetrische Schocks für eines
der größten Strukturprobleme der europäischen Währungsunion
halte. Es gehört zu den Grundprinzipien antizyklischer
Wirtschaftspolitik, dass die Zentralbank bei einem Boom die Zinsen
erhöht, um die Inflation zu bremsen und die Bildung von
Investitionsblasen zu verhindern, während sie in Zeiten der Krise
Zinsen senkt, um die Konjunktur wieder anzukurbeln und eine Deflation
zu vermeiden. Im Ergebnis sorgt eine solche Politik für eine
konstantere Inflationsrate und einen glatteren Konjunkturverlauf,
kurz: für mehr Stabilität.
Transfermechanismen
sorgen für Stabilität
Ein Problem entsteht
jedoch, wenn die Konjunkturentwicklung nicht überall gleichmäßig
verläuft – wenn sich also eine Region gerade im Boom befindet,
während eine andere mitten im Abschwung ist. Da die Zentralbank nur
einen einheitlichen Leitzins für die gesamte Währungszone festlegen
kann, steht sie vor einem unlösbaren Dilemma. Senkt sie die Zinsen,
droht in der Boomregion die Inflation heißzulaufen; steigert sie die
Zinsen, würgt sie im Krisengebiet die Wirtschaft ab. Geht sie den
Mittelweg, richtet sie vielleicht auf beiden Seiten Schaden an.
Bei rein nationalen
Währungen wie dem US-Dollar oder dem britischen Pfund ist dieses
Dilemma jedoch meist nicht tragisch, da es hier eine Vielzahl von
Mechanismen gibt, die die Konjunktur in den verschiedenen Regionen
des Landes aneinander angleichen. Zu diesen automatischen
Stabilisatoren zählt vor allem das Steuer- und Sozialsystem: Wo die
Wirtschaft boomt, zahlen die Menschen höhere Steuern, was Inflation
und Wachstum begrenzt. Wo die Wirtschaft in der Krise ist, erhalten
mehr Menschen Arbeitslosenhilfe, was Inflation und Wachstum fördert.
Bei einer asymmetrischen Konjunkturentwicklung kommt es also zu
Transfers von der Boom- zur Krisenregion, um das Gleichgewicht
zwischen ihnen wiederherzustellen.
In der Eurozone jedoch
fehlt es an solchen Mechanismen. Die Folge davon ist, dass
konjunkturelle Asymmetrien (ob ihr Auslöser nun die
unterschiedlichen nationalen Wirtschaftspolitiken sind oder externe
Schocks, die einzelne Länder stärker treffen als andere) schnell
dazu führen, dass sich die Schere zwischen den Staaten immer weiter
öffnet und Wirtschaftskrisen rasch eskalieren. So erlebte etwa Anfang der 2000er Jahre Südeuropa einen
starken Aufschwung, während sich Nordeuropa, speziell Deutschland,
in Schwierigkeiten befand. Und so kam es seit 2008 in Deutschland zu
einem Boom, während in der Peripherie der Währungsunion die Arbeitslosigkeit ein Rekordhoch erreichte. In beiden Fällen saß
die Europäische Zentralbank zwischen den Stühlen und hob oder
senkte hilflos die Zinsen, ohne wirklich einen Beitrag zur Krisenlösung leisten zu
können. (Dies änderte sich erst, als Zentralbankchef Mario Draghi
Mitte letzten Jahres „unorthodoxe“ Maßnahmen in Aussicht
stellte, nämlich den massiven Aufkauf von Staatsanleihen von Krisenländern, was einem
versteckten Finanztransfer gleichkommt. Aber dies kann kaum eine
dauerhafte Lösung sein.)
Dauerhafte Transfers
erfordern Solidarität
Die logische Konsequenz,
die ich auch in diesem Blog wiederholt gezogen habe, bestünde darin,
in der europäischen Währungsunion dieselben automatischen
Stabilisatoren einzurichten, die es auch auf nationaler Ebene gibt –
einen größeren, steuerfinanzierten EU-Haushalt, gemeinsame Staatsanleihen, eine europäische Sozialversicherung und so
weiter. All diese Vorschläge stoßen jedoch auf ein gemeinsames
Problem: Sie führen nicht nur zu einer konjunkturellen Angleichung
der Mitgliedstaaten, sondern würden auch auf dauerhafte Transfers
zwischen reicheren und ärmeren Ländern hinauslaufen.
Der Hintergrund dafür
sind die großen ökonomischen Ungleichheiten, die es in Europa bis
heute gibt. Unabhängig von der Konjunkturlage verdienen beispielsweise die Deutschen im Mittel sehr viel mehr als die Portugiesen und würden deshalb auch immer
einen sehr viel höheren Anteil der europäischen Einkommensteuer
bezahlen müssen. Selbst wenn Deutschland sich in einer Rezession befände,
während in Portugal die Wirtschaft boomt, würden die Transfers
lediglich kleiner, was die
erwünschte konjunkturelle Angleichung bewirken würde. Sie blieben
jedoch in jedem Fall erhalten – wenigstens so lange, bis Portugal
irgendwann einmal wirtschaftlich zu Deutschland aufgeschlossen hätte.
Auf
nationaler Ebene kann man ein ähnliches Gefälle zwischen West- und
Ostdeutschland oder zwischen Nord- und Süditalien beobachten: zwei
Beispiele, die zeigen, wie mühselig und langwierig ein solcher
Aufholprozess sein kann. Zugleich erfordert er ein hohes Maß an
Zusammengehörigkeitsgefühl, damit sich die Bevölkerung der reichen
Region nicht ausgenutzt vorkommt. Nun gehe ich selbst davon aus, dass
es möglich wäre, mit den richtigen Umverteilungsmechanismen eine ähnliche Solidarität auch auf europäischer Ebene zu erzeugen. Wenigstens die deutsche
Bundesregierung jedoch verweigert sich diesem Gedanken strikt – und
warnt deshalb seit Beginn der Eurokrise, dass diese auf keinen Fall
zur Einrichtung einer „Transferunion“ mit dauerhaften Zahlungen
der reichen an die armen Mitgliedstaaten führen dürfe.
Ein zyklischer
Ausgleichsfonds ohne dauerhafte Transfers
Die Währungsunion steht deshalb vor der zentralen Frage, ob man
einen Mechanismus schaffen kann, der einerseits konjunkturelle
Schwankungen zwischen den Euro-Mitgliedstaaten ausgleicht,
andererseits aber keine dauerhaften Transfers von den reichen zu den
armen Ländern mit sich bringt. Bereits im Juli letzten Jahres
stellte hierzu die Tommaso Padoa-Schioppa Group (eine
von dem Pariser Thinktank Notre Europe gegründete
Gruppe angesehener europäischer Ökonomen um Hendrik
Enderlein) einen Lösungsvorschlag
vor, den sie in dieser Woche nun in einem Politikpapier
weiter vertiefte. Ihr Grundgedanke ist die Einrichtung eines neuen
europäischen Fonds, in den – unabhängig von der absoluten
Höhe ihres Bruttoinlandsprodukts – jeweils die Mitgliedstaaten
einzahlen, die gerade einen konjunkturellen Aufschwung erleben,
während umgekehrt die Länder Finanzmittel erhalten, die sich im
Konjunkturzyklus auf dem Weg nach unten befinden.
Hierzu soll, so der
Vorschlag der Ökonomen, berechnet werden, wie weit das tatsächliche
Wirtschaftswachstum jedes Landes von dem konjunkturbereinigten
Potenzialwachstum abweicht. Die Länder, die dabei bessere Werte als
das Mittel der Eurozone zeigen, müssten daraufhin einen bestimmten
Anteil dieser Differenz zum Mittelwert (den „Konvergenzindikator“)
in den gemeinsamen Fonds einzahlen, während die Länder mit
schlechteren Werten einen entsprechenden Anteil daraus erhielten. In ihrem
Papier rechnen Enderlein und seine Mitarbeiter dieses Modell mit
einem Konvergenzindikator von 0,5 für die komplette Zeit seit
Gründung der Eurozone 1999 durch – und kommen zu dem Ergebnis,
dass die Standardabweichung des Konjunkturverlaufs der Mitgliedstaaten vom
Mittelwert der Eurozone mit dem Fonds um fast 40 Prozent niedriger gewesen wäre als in der Realität.
Insgesamt hätte das
Volumen der Umverteilung nach dieser Beispielrechnung je nach Jahr
zwischen knapp 0,1 und 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der
Eurozone ausgemacht – was im Vergleich mit dem heutigen
EU-Haushalt, der rund 1 Prozent des europäischen BIP umfasst, eine
ganze Menge, im Vergleich mit den nationalen Sozialsystemen jedoch
nur ein Klacks ist. Das entscheidende Merkmal des Modells jedoch ist,
dass es über die Jahre hinweg eben nicht zu dauerhaften Transfers,
sondern zu einer nahezu ausgeglichenen Nettobilanz aller
Mitgliedstaaten geführt hätte: In der gegenwärtigen Krise wären
massiv finanzielle Mittel von Nord- nach Südeuropa geflossen, Anfang
des vergangenen Jahrzehnts hingegen wären die Transfers genau
umgekehrt verlaufen.
Deutschland etwa müsste nach der Beispielrechnung im Jahr 2013 gut 18
Milliarden Euro in den Fonds einzahlen, hätte jedoch im Jahr 2005,
als der nationale Konjunkturzyklus am Tiefpunkt war, auch dieselbe
Summe daraus erhalten. Und über die gesamte Zeitspanne seit 1999
hätte die deutsche Nettobilanz knapp 5 Milliarden Euro betragen –
und zwar zugunsten,
nicht zulasten des Bundeshaushalts.
Eine Win-Win-Situation
Der
Cyclical Adjustment Insurance Fund,
den die Tommaso Padoa-Schioppa Group vorschlägt, könnte also den
gewünschten Ausgleich der Konjunkturentwicklung in den Ländern der
Eurozone herbeiführen und zugleich die von der deutschen
Bundesregierung so gefürchtete dauerhafte Umverteilung von reichen
zu armen Mitgliedstaaten vermeiden. Da es sich dabei ausschließlich
um Transfers zwischen den verschiedenen nationalen Etats handeln
würde, wäre er auch kaum mit zusätzlichen Verwaltungskosten
verbunden. Asymmetrische Wirtschaftsschocks würden besser
abgefedert, die wirtschaftliche Stabilität der Währungsunion
insgesamt erhöht. Alles in allem handelt es sich also offenbar um
eine Win-Win-Situation, von der alle Beteiligten mittelfristig nur
profitieren können.
Es
erscheint mir deshalb überaus wahrscheinlich, dass der
Konjunkturausgleichsfonds Bestandteil der nächsten großen
EU-Vertragsreform sein wird. (Besonders praktisch ist dabei, dass er
lediglich eine Ergänzung der bestehenden Institutionen wäre, sodass
er notfalls – etwa bei einer britischen Veto-Drohung – ohne Weiteres auch in einem
Parallelvertrag nur unter den Mitgliedstaaten der Eurozone vereinbart
werden könnte.) Zwar weigerte sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) beim letzten Gipfel des Europäischen Rates noch, diesen Vorschlag zu diskutieren; doch
das dürfte allein daran liegen, dass die deutsche Regierung so
kurz vor dem nächsten Bundestagswahlkampf keine Maßnahmen
akzeptieren will, die auch nur andeutungsweise an die wieder und
wieder als Schreckgespenst beschworene „Transferunion“ erinnern.
Spätestens Ende des Jahres wird sich wohl die Erkenntnis
durchsetzen, dass vor rein zyklischen Transfers, die nur
konjunkturelle Schwankungen ausgleichen und am Ende zu einer
ausgeglichenen Nettobilanz führen, auch in Deutschland niemand Angst
haben muss.
Aber Ungleichheit ist
auch ein Problem für sich
Dass
der Konjunkturausgleichsfonds keine dauerhafte Umverteilung von den
reichen zu den armen Mitgliedstaaten mit sich bringt, erhöht
einerseits also enorm seine Verwirklichungschancen. Andererseits aber
könnte in genau diesem Merkmal auch seine größte Schwäche
bestehen – denn es bedeutet eben auch, dass die wirtschaftliche
Ungleichheit zwischen dem wohlhabenden Zentrum und der ärmeren
Peripherie der Eurozone dadurch nicht verringert wird. Und diese
Ungleichheit ist gleich in mehrerer Hinsicht ein Problem für sich.
Zum einen gibt es zahlreiche wirtschaftswissenschaftliche Studien,
die zeigen, dass sich Ungleichheit hemmend auf das Wachstum einer
Volkswirtschaft auswirkt; Europa wäre also vermutlich als Ganzes
reicher, wenn die Unterschiede zwischen seinen Regionen kleiner
wären. Und zum anderen bringt Ungleichheit natürlich auch
politische Konflikte mit sich: Je enger die europäische Gesellschaft
grenzüberschreitend zusammenwächst und je genauer in der Öffentlichkeit auch die
Verhältnisse in anderen Ländern
wahrgenommen werden, desto weniger werden es die Bürger der ärmsten
Mitgliedstaaten hinnehmen wollen, dass sich die Bürger in den
reichsten Mitgliedstaaten im Durchschnitt mehr als dreimal so viel leisten können wie sie.
Auf
die Dauer wird die EU den sozialen Frieden deshalb nur wahren können, wenn es ihr gelingt, dass sich die Einkommensverhältnisse der verschiedenen Mitgliedstaaten einander annähern. Wenn der
Konjunkturausgleichsfonds für dieses Problem keine Antwort bietet,
ist das durchaus in Ordnung: Es gibt noch genügend andere Mechanismen
(etwa die Struktur- und Kohäsionsfonds), die dafür besser geeignet
sind. Aber am Ende werden wir unsere Augen nicht davor verschließen
können, dass es – bei aller wirtschaftspolitischer Raffinesse –
dauerhafte Stabilität ohne Solidarität nicht geben wird.
Bild: By Eduard Kasparides (1858–1926) (http://www.hampel-auctions.com/) [Public domain], via Wikimedia Commons.