- Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
- Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
- Manuel Müller, Universität Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
Manuel
Im Europäischen Parlament hat gerade die zweite Halbzeit der Wahlperiode begonnen: noch zweieinhalb Jahre bis zur nächsten Europawahl! Und auch wenn es eigentlich natürlich viel zu früh dafür ist, ist das doch ein guter Anlass, um ein paar Spekulationen zu wagen. Wen stellen die europäischen Parteien 2024 als Spitzenkandidat:innen auf, und wer gewinnt die Kommissionspräsidentschaft?
Unser heutiges Quartett (bzw. Terzett, da Carmen leider kurzfristig absagen musste) ist inspiriert von den primary drafts des US-Blogs FiveThirtyEight. Jede:r von uns nennt in vier Runden reihum eine Politiker:in, die bei der nächsten Wahl als europäische Spitzenkandidat:in nominiert werden könnte (von egal welcher Partei). Dabei darf kein Name doppelt vorkommen – insgesamt sprechen wir also über 12 mögliche Kandidat:innen. Es gewinnt, wer die meisten tatsächlichen Spitzenkandidat:innen von 2024 nennt. Einen Bonuspunkt gibt es, wenn die nächste Kommissionspräsident:in dabei ist.
Damit alles fair zugeht, habe ich unsere Reihenfolge per Zufallsgenerator ermittelt: Julian, Sophie, Manuel. Die zweite und vierte Runde erfolgen umgekehrt. Uuund los! 🏁
Ursula von der Leyen (EVP)
Julian
Mein erster Tipp ist Ursula von der Leyen.
Manuel
Das kommt nicht sehr überraschend.
Julian
Drei Dinge sprechen meiner Ansicht nach für sie:
- Die EVP steht derzeit nicht voll hinter dem Konzept der Spitzenkandidat:innen.
- Für die CDU ist eine deutsche Spitzenkandidatin die einzige (halbwegs) realistische Chance, in der nächsten Kommission vertreten zu sein.
- Entsprechend dem Koalitionsvertrag hätte sie wider Willen auch die Unterstützung der deutschen Ampelkoalition.
Sophie
… sofern Frau von der Leyens Handys aus der Zeit im deutschen Verteidigungsministerium und die SMS-Nachrichten mit den Chef:innen der Pharma-Unternehmen aus der Corona-Krise nicht mehr auftauchen. Aber das beiseite: Mir erscheint es auch realistisch, dass von der Leyen bei der nächsten Europawahl die EVP-Spitzenkandidatin wird.
Julian
Und falls der Skandal in den Europawahlkampf fällt, könnte das zumindest die Medienberichterstattung über die Wahl fördern. 😉
Manuel
Ich halte von der Leyen auch für eine naheliegende Spitzenkandidatin. Wenn sie noch eine zweite Amtszeit haben will und kein Skandal dazwischenkommt, kann ich mir kaum vorstellen, dass die EVP jemand anderen nominiert. Vor einem Jahr gab es im Zusammenhang mit der Corona-Impfstoffbeschaffung zwar auch einige Kritik an ihrem Regierungsstil. Aber selbst José Manuel Durão Barroso hat seinerzeit eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsident bekommen.
Sophie
Und wenn man die beiden vergleicht, ist mir doch eine zweite Amtszeit von der Leyens lieber. Trotz aller Kritik letztes Jahr hat sie als Kommissionspräsidentin im Rückblick schon viel geschafft, insbesondere in Anbetracht der Corona-Krise, die alles überschattet hat. Es gibt jetzt den Wiederaufbaufonds NGEU; der Digital Markets Act und Digital Services Act und das Klimapaket Fitfor55 sind wichtige Gesetzesvorhaben. Ich würde da, wie so oft, die Kritik eher an die Regierungen im Rat richten, die sich in der Krise nicht genügend koordiniert haben und weiterhin vieles blockieren.
Manuel
Jedenfalls wäre von der Leyen für die EVP auch ein einfacher Ausweg aus der Frage, wie sehr man den Kampf um das Spitzenkandidatenverfahren führen will. Wenn sie als Spitzenkandidatin gewinnt, würde auch der Europäische Rat ihre Wiederwahl wohl einfach abnicken, und man könnte einem neuen institutionellen Konflikt aus dem Weg gehen.
Spannend wäre es allerdings, wenn die EVP bei der Europawahl nicht stärkste Kraft wird und von der Leyen keine Mehrheit im Parlament hat, der Europäische Rat sie aber trotzdem nominiert – und argumentiert, sie sei ja schließlich Spitzenkandidatin gewesen. Das würde uns sicher die nächste Diskussion bringen, was genau das „Spitzenkandidatenverfahren“ überhaupt bedeutet.
Julian
Ich bin mir auch nicht sicher, ob von der Leyen dem Spitzenkandidatenprinzip gut tun würde. Ich fürchte, der Wahlkampf würde nur ihre Unbekanntheit als Kommissionspräsidentin offenlegen und den Europaskeptiker:innen eine Steilvorlage bieten, die Europawahl zu einer Denkzettelwahl gegen die EU zu machen.
Stéphane Séjourné (RE)
Manuel
Gehen wir weiter. Sophie, was ist dein erster Tipp?
Sophie
Ich denke, dass Stéphane Séjourné, der derzeitige Vorsitzende von Renew Europe und „Protégé“ von Emmanuel Macron, der Spitzenkandidat für die Liberalen wird. Zwar hatte Renew Europe bei der letzten Europawahl das Spitzenkandidatenverfahren noch abgelehnt und stattdessen ein Team mit sieben Personen vorgeschlagen. Aber wenn Macron jetzt Séjourné als seine Person positionieren kann, dann denke ich, könnten sie sich auf ihn einigen.
Übrigens geht dieses Szenario davon aus, dass Macron nach den nationalen Wahlen im April weiterhin französischer Staatspräsident bleibt. Wenn nicht, dann könnte ich mir auch vorstellen, dass Macron selbst versucht, Kommissionspräsident zu werden.
Julian
Macron hatte ich auch auf der Liste für Renew, wenn er nicht wiedergewählt wird. Da kann ich mir vorstellen, dass er als Person zieht. Allerdings bin ich etwas skeptisch, ob er gut genug in der ALDE verankert ist, um einen Protégé durchsetzen zu können.
Manuel
Séjourné hat jedenfalls einen beeindruckenden Aufstieg im Europäischen Parlament hingelegt – vom weitgehend unbekannten Newcomer zum Fraktionschef. Aber ich sehe auch das Problem, dass seine und Macrons Partei LREM bis heute nur Mitglied der Fraktion Renew Europe ist, nicht der dazugehörigen Europapartei ALDE. Es wird interessant zu sehen, ob sie die ALDE dazu bringen können, einen „Fraktions-Spitzenkandidaten“ statt eines „Partei-Spitzenkandidaten“ zu nominieren.
Macron selbst halte ich für unwahrscheinlicher. Wenn er bei der Präsidentschaftswahl verliert, ist er erst mal weg, denkt ihr nicht?
Julian
Dafür ist er ein wenig jung, oder? Als Researcher an das Delors-Institut wird er nun wohl nicht mehr gehen. Und dass es ein abgewählter Präsident ein zweites Mal auf nationaler Ebene versucht, kann ich mir auch nicht vorstellen.
Sophie
Das mit der ALDE ist ein guter Punkt, Manuel – aber die europäischen Parteien werden auch bis 2024 nicht so mächtig sein, dass sie sich durchsetzen können. Ich gehe davon aus, dass in der Praxis letztlich die nationalen Parteien innerhalb der Fraktionen entscheiden, wer Spitzenkandidat:in wird.
Julian
Ja, wobei: Wenn die liberalen Parteien auf nationaler Ebene ein Interesse an der Position haben, wäre das Renew-ist-nicht-ALDE-Argument natürlich opportun, um unliebsame Konkurrenz aus Frankreich fernzuhalten. Die Frage ist nur, ob es da ein Hauen und Stechen geben wird.
Sophie
Außerdem würde ich auch sagen, dass Macron weiterhin eine Machtposition einnehmen würde, wenn er die Präsidentschaftswahl verliert. Und er ist aus meiner Sicht nicht nur aus Opportunismus pro-europäisch. Der Posten des Kommissionspräsidenten wäre also für ihn eine spannende Karriere-Option.
Enrico Letta (SPE)
Manuel
Von mir kommt der erste mögliche SPE-Spitzenkandidat: Enrico Letta, derzeit Chef des italienischen Partito Democratico. Er war 2013/14 nationaler Premierminister, hat also das nötige Pedigree für den Europäischen Rat. Gleichzeitig hat er aber auch nie eine Wahl verloren (er wurde seinerzeit innerparteilich von Matteo Renzi abgesägt), und er ist auf nationaler Ebene in den Umfragen einigermaßen erfolgreich: Der PD hat sich unter seiner Führung als stärkste Einzelpartei stabilisiert, auch wenn das rechte Lager aus FdI (EKR) und Lega (ID) in der Summe deutlich vorne liegt.
2023 wird Letta wohl als italienischer Premierminister kandidieren, hat aber nur wenig Chancen, tatsächlich gewählt zu werden. Danach könnte die EU-Spitzenkandidatur ein naheliegender nächster Schritt für ihn sein. Umso mehr als er europapolitisch interessiert ist, von den „Vereinigten Staaten von Europa“ träumt und (anders als Macron) tatsächlich schon mal Präsident des Jacques-Delors-Instituts war.
Julian
Das würde gut in die Erzählung vom Wandel Italiens passen und wäre eine symbolische Anerkennung der aktuellen italienischen Politik, sodass ich mir vorstellen kann, dass ein Italiener im Europäischen Rat gute Chancen hätte, nominiert zu werden.
Allerdings widersprichst du dir ein wenig selbst, wenn du sagst, er hat noch nie eine Wahl verloren, dann aber davon ausgehst, dass er das 2023 nachholen wird. 😉 Das könnte dann schon ein Makel sein.
Sophie
Ja, das scheint mir eine Möglichkeit zu sein. Allerdings bin ich mir nicht sicher, dass er ein guter Kommissionspräsident wäre. Für mich ist er der Inbegriff des Europapolitikers aus der „Bubble“ – seine Station am Jacques-Delors-Institut in Frankreich macht das deutlich. Er ist sicherlich ein Kandidat, mit dem auch die EVP zufrieden wäre, aber angesichts der Tatsache, dass die Kommission eine starke Figur braucht, um sich gegenüber dem Rat zu behaupten, weiß ich nicht, ob er die richtige Person wäre. Wichtig ist, dass die nächste Kommissionspräsident:in zwar eine Vision hat (zum Beispiel die „Vereinigten Staaten von Europa“), aber gleichzeitig auch einen realistischen Plan, um die Institution und die EU als Ganzes nach vorne zu bringen.
Julian
Allerdings waren es in den letzten Jahren eher die Kommissionspräsident:innen, die nicht aus der Bubble kamen, die dem Europäischen Rat nahe standen. Im Sinne einer Vertretung des supranationalen Interesses durch die Kommission halte ich jemanden aus der Blase für gar nicht so schlecht. Zudem erleichtert dies ungemein, den „Laden“ intern unter Kontrolle und auf Trab zu bringen.
Manuel
Ich denke auch, dass Letta gerade diese Kombination aus Vision und Pragmatismus eigentlich recht glaubwürdig verkörpert. Als seinen Hauptschwachpunkt sehe ich, dass seine föderalistischen Neigungen für einige im Europäischen Rat ein rotes Tuch sein könnten. Und wenn 2023 in Italien eine Rechtskoalition übernimmt, könnte er wohl auch keine Hilfe von seiner eigenen nationalen Regierung erwarten.
Um wirklich Kommissionspräsident zu werden, bräuchte er deshalb viel Unterstützung aus dem Europäischen Parlament. Aber ich würde nicht ausschließen, dass ihm das gelingen könnte. Erfahrung in der großkoalitionären Konsensbildung hat er aus der nationalen Politik jedenfalls.
Sophie
Manuel, wir werden uns da nicht einig – Letta ist für mich der Inbegriff von Brüsseler Kompromiss und einer Riege an Politiker:innen, die nicht die Zugkraft haben, um Europa in Zukunft stärker aufzustellen. Mir wäre ein Macron lieber als ein Letta!
Julian
Das klingt wie ein Empfehlungsschreiben für Letta, um ihm den Skeptiker:innen im Europäischen Rat schmackhaft zu machen. 🙃
Alice Bah Kuhnke (EGP)
Manuel
Letta vs. Macron wäre jedenfalls eine bemerkenswerte Paarung … Aber machen wir mal lieber weiter. Runde 2 beginne ich mit einer möglichen grünen Spitzenkandidat:in: Alice Bah Kuhnke. Sie war ab 2014 Kulturministerin in Schweden, wurde 2019 ins Europäische Parlament gewählt und ist dort Vize-Fraktionschefin. Zuletzt stellte die Grüne/EFA-Fraktion sie als Kandidatin für die Parlamentspräsidentschaft auf, was auch als Signal für 2024 zu verstehen sein könnte.
Außerdem wäre Bah Kuhnke die erste Spitzenkandidatin mit Migrationshintergrund – ihr Vater stammt aus Gambia. Für die grüne Wählerschaft wäre das ein starkes Symbol. Und: Bah Kuhnkes nationale Partei steht in Schweden sehr knapp an der Vier-Prozent-Hürde. Ein bisschen Rückenwind durch den Spitzenkandidateneffekt könnte hier wahltaktisch sehr gelegen kommen.
Julian
Stimme dir zu! Unter der Prämisse, das Ska Keller nicht den Merz macht, glaube ich vor allem, dass sie innerhalb der Partei sehr gute Chancen hat. Zudem hatten wir ja schon bei Weber vs. Stubb 2013 die Diskussion, ob nicht mal die Nordics an der Reihe seien sollten.
Auch thematisch deckt sie mit dem Bereich Medien ein Thema ab, das die EU noch weiter beschäftigen wird und gut zu den Grünen passt, wenn man es Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auslegt. Und sie war in Schweden ja nicht nur Kultur-, sondern auch Demokratieministerin.
Sophie
Grundsätzlich fände ich sie eine sehr gute Kandidatin. Natürlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Grünen die nächste Kommissionspräsident:in stellen – auch wenn sie im Europäischen Parlament inhaltlich sehr stark aufgestellt sind und junge und dynamische Parlamentarier:innen haben.
Julian hat auch Recht, dass die skandinavischen Länder in den EU-Spitzenpositionen nicht besonders gut vertreten sind. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass sie relativ euroskeptisch sind und Schweden zum Beispiel auch nicht zur Eurozone gehört. Insgesamt hat Bah Kuhnke deshalb wenig Chancen, Kommissionspräsidentin zu werden. Aber sie würde den Wahlkampf definitiv bereichern und wäre auch ein erfrischendes Gesicht im Vergleich zu den sonst oft etwas drögen Kandidat:innen.
Manuel
Fein, dann haben wir ja zumindest für die Grünen einen Konsens. 😄
Viktor Orbán (Rechte)
Sophie
So, dann kommen wir jetzt zu den Rechtsextremen. Ich lehne mich etwas aus dem Fenster, aber wenn wir davon ausgehen, dass Viktor Orbán die Wahlen am 3. April verliert und Péter Márki-Zay der neue ungarische Premierminister wird, kann ich mir vorstellen, dass er sich 2024 als Spitzenkandidat aufstellen lassen würde. Immerhin hat er eine sehr klare europapolitische Linie – ein christliches Europa der souveränen Staaten. Das unterscheidet ihn von vielen seiner rechtsextremen Kolleg:innen.
Da Fidesz aus der EVP rausgeworfen wurde, würde er dafür eine neue rechte Europa-Partei gründen. Die aktuelle Justizministerin Judit Varga würde im Hintergrund die Strippen ziehen.
Manuel
Ui, jetzt wird es spannend! Das mit der neuen rechten Europapartei wird aber eine ganz schöne Herausforderung für Orbán. Sein Plan einer rechten Einheitsfraktion im Europäischen Parlament ist ja zuletzt eher ins Wasser gefallen. Und mit der aktuellen Ukraine-Krise ist gerade auch noch ein Thema sehr salient, über das sich die europäischen Rechten notorisch uneinig sind: der Umgang mit Russland und der Putin-Regierung. Auch das Verhältnis zwischen Orbán und der polnischen PiS (EKR), seinem wichtigsten europäischen Verbündeten, hat darunter zuletzt gelitten.
Sophie
Grundsätzlich wäre das ja keine schlechte Sache, wenn Orbán es nicht schafft. Aber leider glaube ich, dass die rechtsextremen Parteien genügend machtpolitisches Verständnis haben, um zu erkennen, wann es für sie hilfreich ist, eine gemeinsame Partei zu gründen. Und zu Russland stimme ich dir absolut zu – aber ich glaube nicht, dass diese Krise bis 2024 so tagesaktuell bleiben wird.
Manuel
Bis 2024 nicht, aber vielleicht bis zum Sommer. Und wenn Orbán die nationale Parlamentswahl verliert, braucht er ein schnelles Comeback.
Julian
Ich bin auch etwas skeptisch, dass er das versuchen wird. Zum einen sehe ich die Chancen ähnlich gering wie Manuel – zumal die Frage ist, wie die EKR sich dazu verhalten sollte: sich selbst auflösen, um eine Orbán-Show mitzuinitiieren?
Zum anderen hat er wenig zu gewinnen. Ich glaube kaum, dass er sich die Rolle als Europaabgeordneter antun wird, und mehr ist für ihn als Spitzenkandidat nicht drin. Auch muss jemand für Fidesz nach einer gescheiterten Wahl in Ungarn die Blockade demokratischer Reformen organisieren. Da ist er auf jeden Fall als graue Eminenz gefragt.
Manuel
Was die EKR bei der Europawahl macht, ist auch sonst spannend: 2014 hatten sie ja noch gar keine Spitzenkandidat:in, 2019 stellten sie dann den gut vernetzten, aber wenig prominenten Jan Zahradil auf. Im Vergleich dazu würde Orbán zumindest mehr öffentliche Aufmerksamkeit wecken. Aber die bekäme er vielleicht auch, ohne formal Spitzenkandidat zu sein.
Julian
Und es würde ihm den Anschein von etwas mehr Bürgerlichkeit geben, wenn er bei der EKR landet. Eigentlich wäre sie für ihn ein guter Ersatz für die EVP, aber dafür hätte er freiwillig gehen müssen und nicht als Bittsteller nach dem Rausschmiss.
Sophie
Julian, ist Fidesz nicht freiwillig gegangen? Offiziell wurden sie ja nicht rausgeschmissen … 😉
Katarina Barley (SPE)
Julian
Mit meinem nächsten Tipp möchte ich daran erinnern, dass das Spitzenkandidatenprinzip immer eine deutschsprachig dominierte Veranstaltung war. Also tippe ich auf ein Rennen Von der Leyen gegen Barley.
Manuel
😂
Julian
Die SPD muss ja noch was tun, damit sie den Grünen den Kommissarsposten abluchsen kann. Außerdem wäre das eine Nominierung in guter Schulz-Tradition: Für Europa, aber von anderen politischen Parteien wenig unterscheidbar.
Sophie
Das ist ein wichtiger Punkt – die Spitzenkandidatenfrage ist immer noch eine deutsch-deutsche Debatte zu Europa.
Manuel
Na ja, aber eine Kandidatur 🇩🇪 vs. 🇩🇪 … Hat hier jemand
„Hegemon wider Willen“ gesagt?
Sophie
Neeeeeeeein. Niemals!
Julian
Nein, weil du es nicht für realistisch hältst oder nein, bitte nicht Barley?
Sophie
Nein zu „Hegemonie wider Willen“: weil es die Deutschen ja nicht wahrhaben wollen, dass sie zu viel Macht in Europa haben, auf ihrer Führungsposition sitzen, aber wenig damit anfangen – weil genau das deutschen Interessen dient, man es aber öffentlich niemals zugeben würde. Außerdem sehen sich die Deutschen immer noch als die „vorbildlichen Europäer“, was dann schnell auch mal in ein Narrativ der „besseren Europäer“ umschlägt.
Julian
Mit Volker Kauder: „In Europa wird Deutsch gesprochen.“
Manuel
Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass die SPE eine deutsche Kandidat:in nominiert. Klar, die SPD hätte gute Gründe, das zu wollen. Aber Barley hat in der Europapartei bei weitem nicht die Stellung, die Martin Schulz 2014 hatte. Und wahlstrategisch macht es für die SPE mehr Sinn, ein breites geografisches Spektrum anzusprechen, als diesen Europawahlkampf zu einem deutsch-deutschen Spitzenkandidatinnenduell zu machen.
Sophie
Ich glaube auch nicht, dass die SPE Barley nominiert. Sie wurde ja 2019 nach Brüssel geschickt, weil die SPD anscheinend keine anderen Kandidat:innen hatte, die sich genügend mit Europa auskannten. Das sagt viel über die europapolitische Aufstellung der SPD aus.
Manuel
Na, die SPD hatte 2019 auch Udo Bullmann, der sogar S&D-Fraktionschef war. Nur kannte den in der deutschen Öffentlichkeit kaum jemand, und deshalb erschien er der nationalen Parteispitze nicht wahlkampftauglich genug.
Sophie
Ja, genau das meine ich – keine Europapolitiker:innen, die genügend Profil haben.
Julian
Die SPD und die Europapolitik ist in der Tat ein spannendes Thema. Einerseits gibt es seit Schulz keine klare Führungspersönlichkeit mehr, die sich für Europa einsetzt. Andererseits finden sich aber so viele Proeuropäer:innen in der Partei, dass sie es geschafft haben, die CDU bei der europapolitischen Programmatik zu überholen. Und genau dieses Profil trifft auf Barley zu. Deshalb glaube ich schon, dass die SPD und sie es versuchen werden.
Rutte, Marin, Meloni
Manuel
Zum Abschluss noch zwei Blitzrunden, in denen wir nur noch die Namen nennen, aber nicht mehr ausführlich kommentieren. Julian, du bist gleich noch einmal dran.
Julian
OK. In der ersten Schnellrunde werfe ich den Nicht-Spitzenkandidaten Mark Rutte ein. Ich glaube, dass er als Vertreter der „frugal four“ oder „transformative five“ Profil in der Europapolitik hat. Aber wenn er Kommissionspräsident wird, dann geht er über den Europäischen Rat ohne Spitzenkandidatur.
Sophie
Dann mache ich weiter – auch eine der „frugal five“, aber für die Sozialdemokrat:innen: Sanna Marin aus Finnland. Sie ist noch jung, hat Regierungserfahrung und vertritt ein kleines Land, das aber viel Übung mit Koalitionen hat – und das ist ja bekanntlich in der EU besonders wichtig.
Manuel
He, Sanna Marin wollte ich als Nächstes sagen! 😠 Wobei eine mögliche Kandidatur von ihr stark davon abhängen dürfte, wie die finnische Parlamentswahl nächstes Jahr verläuft.
Na gut, dann stattdessen wieder eine Italienerin – diesmal aus dem rechten Spektrum: Giorgia Meloni, derzeit Parteichefin sowohl der nationalen Partei FdI als auch der Europapartei EKR. Meloni wird 2023 versuchen, italienische Regierungschefin zu werden, aber falls sie damit scheitert, muss sie sich neu erfinden. Dann könnte eine europäische Zweitkarriere vielleicht ein Ausweg sein.
Eickhout, Dombrovskis, Kurz
Und weil ich gleich noch mal dran bin, auch noch ein Grüner (die EGP wird ja sicher wieder zwei Spitzenkandidat:innen haben – das erhöht die Trefferchancen): Bas Eickhout, der bereits 2019 Spitzenkandidat war, könnte noch einmal antreten. Tatsächlich gibt es bei den Grünen fast schon eine Tradition, von der Doppelspitze im Fraktionsvorsitz und bei den Spitzenkandidat:innen in jeder Wahlperiode nur eine Person auszutauschen.
Sophie
Noch ein potenzieller Kandidat für die EVP: Valdis Dombrovskis, derzeit Exekutiver Vizepräsident der Kommission und Kommissar für Handel. Er hat in der Von-der-Leyen-Kommission ziemlich viel Macht, kommt aus einem kleinen Land und ist sehr kompromissfähig – kein großer Rhetoriker, aber jemand, der Brüssel sehr gut kennt. Natürlich würde er aber nur antreten, sofern von der Leyen nicht mehr kandidiert.
Manuel
Dombrovskis wäre jedenfalls ein plausibler Kandidat, wenn man Akzeptanz durch den Europäischen Rat gegenüber Charisma und öffentlicher Sichtbarkeit priorisiert.
Julian
Oder Sebastian Kurz nutzt die Europawahl für ein Comeback auf die politische Bühne. Wenn er bis 2024 in Österreich einen zumindest halbgaren Freispruch bekommt, wäre er parteiintern sicherlich ein mehrheitsfähiger Kandidat. Und PR-technisch ist er auch ohne Manipulationen nicht vollständig verloren.
Manuel
Ha – zum Abschluss noch ein Political-fiction-Szenario von Julian! Aber wer eine von der Leyen im Team hat, kann sich wohl auch einen Kurz leisten. 😉
Hier unsere finalen Aufstellungen:
Julian | Sophie | Manuel |
Ursula von der Leyen | Stéphane Séjourné | Enrico Letta |
Katarina Barley | Viktor Orbán | Alice Bah Kuhnke |
Mark Rutte | Sanna Marin | Giorgia Meloni |
Sebastian Kurz | Valdis Dombrovskis | Bas Eickhout |
Wer die meisten Treffer hat, werden wir 2024 sehen. Die symbolische Preisverleihung gibt es dann im ersten europapolitischen Quartett nach der Europawahl – stay tuned! 🏆
Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und an der Universität Bonn.
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Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.
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Manuel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“. |
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