Wenn das kein Fall für das Europäische Parlament ist:
Wenn sich ein Land (oder sagen wir, ein Kontinent) gleichzeitig in einer wirtschaftlichen Depression und einer massiven Staatsschuldenkrise befindet, dann gibt es daraus im Prinzip nur zwei mögliche Auswege. Der eine besteht darin, die Schuldenkrise zu bekämpfen, indem man Steuern erhöht und öffentliche Ausgaben kürzt – in der Hoffnung, dass durch diese staatliche Austerität das Vertrauen der Märkte zurückkehrt und die Wirtschaftskrise irgendwann von selbst endet. Der andere besteht darin, zunächst die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, indem die öffentliche Hand Konjunkturpakete auflegt – in der Hoffnung, dass durch das wiederhergestellte Wirtschaftswachstum auch die Steuereinnahmen wieder steigen, sodass auch die Staatsschuldenkrise gelöst werden kann.
Beiden Strategien liegen unterschiedliche ökonomische Theorien zugrunde: Ein Neoklassiker wird die Wirksamkeit von Konjunkturpaketen anzweifeln und sich deshalb eher für den ersten Weg des öffentlichen Sparens entscheiden. Ein Keynesianer wird dagegen darauf verweisen, dass das Vertrauen der Unternehmen in einer Depression nicht einfach vom Himmel fällt, nur weil der Staat weniger Geld ausgibt, und deshalb eine aktive Nachfragepolitik verlangen. Zugleich haben beide Strategien auch ihre jeweils eigenen Risiken: Schlägt die Austerität fehl, so versinkt die Wirtschaft noch tiefer in der Depression, Unternehmen gehen in Konkurs, die Arbeitslosigkeit steigt und aufgrund sinkender Steuereinnahmen auch die Staatsverschuldung selbst. Scheitert dagegen die Konjunkturbelebung, so hat der Staat noch mehr Schulden angehäuft und durch seine zusätzlichen Ausgaben womöglich noch die Inflation befeuert.
Allerdings sind die unmittelbaren Leidtragenden der beiden Risikoszenarien unterschiedlich: An einer wirtschaftlichen Depression leiden in erster Linie die Arbeitnehmer und die Arbeitslosen, die keine Perspektive auf eine Anstellung haben. Eine durch staatliche Konjunkturpolitik ausgelöste Inflation dagegen trifft zunächst vor allem die Sparer und Besitzer großer Barvermögen. Zwar sind diese Effekte eher vordergründig, da eine Wirtschaftskrise natürlich auch den Aktienbesitzern schadet und eine Inflation oft mit sinkenden Reallöhnen einhergeht. Dennoch genügten die kurzfristigen Effekte, um in der Vergangenheit die Parteienlandschaften fast aller westlichen Länder wirtschaftspolitisch zu sortieren: Parteien links der Mitte sind typischerweise keynesianisch und bereit, für die Überwindung der Wirtschaftskrise neue Staatsschulden aufzunehmen. Parteien rechts der Mitte sind dagegen typischerweise austeritätsorientiert und nehmen für die Stabilisierung der Staatshaushalte auch einen weiteren Wirtschaftsrückgang in Kauf.
Unabhängig davon, welche Strategie man selbst für richtig hält: Dass es diesen Gegensatz zwischen den politischen Lagern gibt, ist ein Glücksfall, denn er bietet der Bevölkerung eine Alternative. In einer Situation, in der es keine offensichtlich richtige Entscheidung gibt und alle Optionen mit enormen Gefahren verbunden sind, ist es für die Legitimität jeder politischen Maßnahme notwendig, dass sie auf die Zustimmung der Bevölkerung rechnen kann. Klugerweise würde deshalb eine Regierung in einer Wirtschafts- und Schuldenkrise eines solch enormen Ausmaßes das Parlament auflösen, um durch Neuwahlen eine Richtungsentscheidung zu ermöglichen. Dadurch können die Menschen selbst entscheiden, welches der Risiken sie eingehen wollen – und sind zuletzt eher bereit, auch die Kosten eines Fehlschlags auf sich zu nehmen, den sie selbst mit verantwortet haben.
Und Europa?
Und nun zur gegenwärtigen Krise der Eurozone: Die Ausgangssituation ist wie oben beschrieben – die Wirtschaft krankt und kommt nicht von der Stelle, während die öffentliche Hand in vielen Mitgliedstaaten überschuldet ist. Auch welche Strategieentscheidung getroffen wurde, ist einfach zu erkennen: Es ist die der Austerität, bei der die Staaten die Wirtschaftsentwicklung weitgehend ignorieren und stattdessen versuchen, durch Sparmaßnahmen die öffentlichen Haushalte zu sanieren. Auch die negativen Folgen dieser Strategie sind deutlich zu erkennen – die Arbeitslosigkeit Spaniens liegt bei über 20 Prozent, diejenige Griechenlands bis Ende 2011 voraussichtlich ebenfalls, und die Jugendarbeitslosigkeit ist in beiden Ländern bei über 40 Prozent angekommen.
Verantwortlich für die Entscheidung zu diesem Weg aber ist kein von den europäischen Bürgern gewähltes Parlament: Das Europäische Parlament ist für die Fiskalpolitik nicht zuständig, und mit dem mickrigen Haushalt der EU ließe sich ohnehin kein ernsthaftes Konjunkturpaket schnüren. Verantwortlich ist vielmehr in erster Linie die deutsche Bundesregierung, die in der Lage war, als wichtigster Geldgeber bei den Euro-Rettungsschirmen ihre eigenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen als Auszahlungsbedingung festzuschreiben. Dass sie sich dabei nicht für eine aktive Wirtschaftsbelebung entschied (und alles Gerede von einem „Marshallplan für Griechenland“ bislang nur eine hohle Phrase blieb), hat sicher verschiedene Gründe: Zum einen gibt es in der deutschen wirtschaftspolitischen Kultur ohnehin eine Neigung dazu, in Krisen zu sparen und sich allein auf das Exportwachstum zu verlassen. Zum anderen handelt es sich um eine liberal-konservative Regierung, die auch ideologisch der Neoklassik näher steht als dem Keynesianismus. Und zum dritten sind die Leidtragenden der von Deutschland vorgegebenen europäischen Strategie zum größten Teil keine Deutschen, sondern eben Spanier, Griechen und Iren. (Jedenfalls bis jetzt – immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass die Krise zuletzt in Form einer neuen Rezession auch auf Deutschland zurückschlägt.)
Selbst wenn man die Austerität für richtig hält: Dass sie auf diese Weise bei den Betroffenen keine Zustimmung findet, ist nun wirklich nicht verwunderlich. Man wünschte sich, es gäbe in Europa ein politisches System, in dem die Menschen in Griechenland heute keine antideutschen Parolen rufen müssten, wenn sie mit der wirtschaftlichen Strategie unzufrieden sind – sondern sich in aller Ruhe vornehmen könnten, bei der nächsten Parlamentswahl eben einer anderen Partei ihre Stimme zu geben. Bei der nächsten Europaparlamentswahl natürlich: Denn dass das griechische Parlament faktisch nicht mehr souverän über seinen Haushalt entscheiden kann, ist ohnehin längst offensichtlich geworden.
bild: Joyous! [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons
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