Vergleicht man die Stimmen- und die Sitzanteile der Fraktionen im Europäischen Parlament (siehe hier), fällt vor allem die Abweichung bei der europaskeptisch-nationalkonservativen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) auf. Während bei allen anderen Fraktionen der Sitzanteil um weniger als 0,9 Prozentpunkte vom Stimmanteil abweicht, beträgt der Unterschied bei der ECR 2,13 Prozentpunkte – mit nur 7,8 Millionen Stimmen kommen sie auf 55 Mandate, ebenso viele wie die Grünen mit 12,1 Millionen Stimmen. Die europaskeptisch-rechtspopulistische Fraktion Europa der Freiheit und der Demokratie (EFD) erreichte dagegen mit fast ebenso vielen Stimmen (7,6 Millionen) nur 32 Mandate.
Woher kommt dieser Unterschied? Da aufgrund der degressiven Proportionalität bei der Zuteilung der nationalen Sitzkontingente die Mandate in großen Mitgliedstaaten „teurer“ sind als die in kleinen, läge die Vermutung nahe, dass die Grünen und die EFD eben vor allem in großen, die ECR dagegen vor allem in kleinen Mitgliedstaaten erfolgreich waren. Für die ersten beiden stimmt das auch tatsächlich: Gut die Hälfte der grünen Abgeordneten stammt aus Deutschland (B'90/Grüne) oder Frankreich (Europe Écologie), und zwei Drittel der EFD-Parlamentarier aus Großbritannien (UKIP) oder Italien (Lega Nord). Die ECR aber rekrutiert sich keineswegs vor allem aus Mitgliedstaaten mit wenig Einwohnern: Vielmehr stammen von den 55 Abgeordneten der Fraktion 26 aus Großbritannien (Conservative Party), 15 aus Polen (PiS) und 9 aus dem mittelgroßen Land Tschechien (ODS).
Dass die ECR dennoch deutlich weniger Stimmen benötigte, um auf die gleiche Sitzzahl zu kommen wie die Grünen, liegt an einem anderen Effekt: In Großbritannien, Polen und Tschechien war die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2009 jeweils eher niedrig (35%, 25% und 28%, gegenüber einem europaweiten Durchschnitt von 43%), und in Mitgliedstaaten mit niedriger Wahlbeteiligung sind die Mandate „billiger“: Eine Partei braucht hier insgesamt weniger Stimmen, um ebenso viele Sitze zu erzielen wie in einem gleich großen Land mit höherer Wahlbeteiligung. Da die Wahlbeteiligung zwischen den verschiedenen Ländern stark schwankt, schlägt dieser Faktor durchaus ins Gewicht. Sogar die Verzerrungen durch die degressive Proportionalität können dadurch teilweise ausgeglichen werden: So waren 2009 etwa im größten Mitgliedstaat Deutschland weniger Stimmen pro Sitz notwendig als im mittelgroßen Belgien. Und in Luxemburg, das als eines der kleinsten Länder am meisten von der degressiven Proportionalität profitierte, kostete ein Sitz aufgrund der hohen Wahlbeteiligung mehr Stimmen als im viel größeren Polen. Am „teuersten“ waren die Mandate in Italien, das zugleich einwohnerreich ist und eine hohe Wahlbeteiligung aufwies, am „billigsten“ in Litauen, das verhältnismäßig klein ist und eine der geringsten Wahlbeteiligungen hatte.(*)
Land | Stimmen | Sitze | Stimmen/Sitz | Rang (Stimmen/Sitz) | Wahlbeteiligung |
Litauen | 452.503 | 12 | 37.709 | 1 | 21% |
Tschechien | 1.785.106 | 22 | 81.141 | 8 | 28% |
Polen | 6.714.370 | 50 | 134.287 | 13 | 25% |
Luxemburg | 967.515 | 6 | 161.252 | 18 | 91% |
Großbritannien | 14.151.468 | 72 | 196.548 | 21 | 35% |
Deutschland | 23.492.551 | 99 | 237.298 | 24 | 43% |
Belgien | 6.251.382 | 22 | 284.153 | 25 | 90% |
Italien | 26.512.126 | 72 | 368.224 | 27 | 65% |
EU gesamt | 145.250.787 | 736 | 197.352 | - | 43% |
Die Verzerrung aufgrund der unterschiedlichen Wahlbeteiligung ist dabei zwar geringer als diejenige, die durch die degressive Proportionalität entsteht: Die degressive Proportionalität gesteht den kleinsten Mitgliedstaaten etwa zehn- bis zwölfmal so viele Sitze pro Einwohner zu wie den größten, während die Wahlbeteiligung zwischen den Mitgliedstaaten nur um den Faktor 4,5 schwankt: 91% in Luxemburg zu 20% in der Slowakei. Allerdings hat die Verzerrung aufgrund der Wahlbeteiligung, anders als die degressive Proportionalität, einen erkennbaren Effekt auf die unterschiedliche Stärke der Fraktionen: Es ist kein Zufall, dass gerade die nationalkonservative ECR von den unterschiedlichen Wahlbeteiligungen profitiert. Diese ist nämlich in Ländern mit einer eher europaskeptischen politischen Kultur besonders stark – was tendenziell zugleich die Länder mit einer niedrigen Wahlbeteiligung bei Europawahlen sind. (Für die radikaler europaskeptische EFD trifft dies allerdings nicht zu: Anders als die ECR, die das nationalkonservative Establishment vertritt, besteht die EFD aus rechtspopulistischen Parteien, die oft in eher integrationsfreundlichen Ländern mit hoher Wahlbeteiligung das Anti-EU-Protestwählerpotenzial anzogen. Dies gilt insbesondere für die Lega Nord, die aus dem besonders „teuren“ Italien stammt. Rechnet man diese heraus, so hätte auch die EFD mit 3,08% der Stimmen und 3,12% der Sitze eine leicht positive Abweichung im Stimm-/Sitzverhältnis.)
Damit bilden die Verzerrungen aufgrund der unterschiedlichen Wahlbeteiligung ein mindestens ebenso gewichtiges Argument für eine Reform des Europawahlrechts wie die degressive Proportionalität. Sie ergeben sich unmittelbar aus der Tatsache, dass die Europawahl in Form von 27 nationalen Einzelwahlen mit jeweils festen Sitzkontingenten stattfindet. Um dem abzuhelfen, gibt es im Prinzip nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird die Größe der nationalen Sitzkontingente jeweils an die Wahlbeteiligung in den verschiedenen Mitgliedstaaten angepasst – oder man überwindet das System der nationalen Einzelwahlen vollständig zugunsten europaweiter Wahllisten, womit nebenbei übrigens auch gleich das Problem der degressiven Proportionalität gelöst wäre.
(*) Gerechnet jeweils die Stimmenzahl der tatsächlich ins Parlament gewählten Parteien.
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