16 Oktober 2011

Kleine Geschichte der Europäischen Transferunion (1)


Nach dem Absturz der FDP bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen und der Niederlage von Peter Gauweiler bei der Wahl zum stellvertretenden CSU-Vorsitzenden gibt es inzwischen ja eine gewisse Hoffnung, dass die Koalitionspolitiker im Bundestag ihren Anti-Europa-Populismus etwas zurückfahren – er zahlt sich offenkundig einfach nicht aus. Dennoch geistert noch immer ein Wort durch die deutsche öffentliche Debatte, das vor fast zwei Jahren von diesen Populisten in die Welt gesetzt wurde und sich seitdem hartnäckig hält: Es ist die „Transferunion“, die durch die Maßnahmen gegen die Euro-Krise zu entstehen drohe und die im Gegensatz zur „Stabilitätsunion“ stehe, die die Gründerväter der EU angestrebt hätten. Diese Behauptung ist aus zwei Gründen unsinnig. Zum einen, weil die EU bereits eine „Transferunion“ war, als sie noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hieß und man von einer Einheitswährung nur träumte. Zum zweiten, weil es überhaupt keinen Widerspruch zwischen Transfers und Stabilität gibt – sondern im Gegenteil die einen sogar die Bedingung für die andere sein können.

In den ersten Jahren der europäischen Integration spielten finanzielle Transfers zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich noch kaum eine Rolle. Als 1958 mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der erste große Umverteilungsmechanismus auf europäischer Ebene beschlossen wurde, bemühte man sich, dass für jeden Mitgliedstaat der Saldo etwa ausgeglichen war. Dies war nicht ganz einfach, da die GAP aus einem gemeinsamen Fonds finanziert wurde, die südlichen Mitgliedstaaten wie Italien und Frankreich aber einen viel größeren Agrarsektor hatten als die nördlichen wie Deutschland und die Niederlande. Die Lösung bestand darin, den Garantiepreis für die typischerweise im Norden hergestellten Produkte wie Butter und Milch sehr viel höher anzusetzen als den für die Südprodukte wie Wein oder Früchte. Dies führte im Ergebnis zwar zu einer enormen Überproduktion der Nordprodukte – die berühmten Butterberge und Milchseen, die erst durch spätere Reformen wieder verschwanden –, sorgte aber auch dafür, dass die GAP nur eine Umverteilung von den Steuerzahlern (und Verbrauchern) zu den Landwirten bedeutete, nicht auch eine Umverteilung zwischen Staaten.

Das änderte sich mit dem EG-Beitritt Großbritanniens 1973, das nur einen sehr kleinen Agrarsektor hatte und deshalb nicht von der GAP profitierte. Dies bescherte der EG nicht nur die erste Nettozahlerdebatte, sondern 1975 auch die Einrichtung des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE), aus dem wirtschaftsschwache Regionen gefördert werden, etwa durch die Kofinanzierung von Infrastrukturmaßnahmen. Dazu zählten damals Teile von Großbritannien, sodass die EFRE-Bilanz teilweise die GAP-Bilanz ausglich. Vor allem aber profitierten davon Irland und Italien sowie, nach deren Beitritt in den 1980er Jahren, Griechenland, Spanien und Portugal, die jeweils sowohl aus der GAP als auch dem EFRE (sowie dem später eingerichteten Kohäsionsfonds, der eine ähnliche Ausrichtung hat) Einnahmen erzielten. Die Transferunion war geboren.

Und sie erwies sich in den folgenden Jahrzehnten als schlagender Erfolg. Zum einen halfen die Strukturfonds den betroffenen Ländern bei der Modernisierung ihrer Wirtschaft, wodurch sie ihre Abhängigkeit vom Agrarsektor abschütteln konnten und etwa Irland letztlich vom Nettoempfänger zum Nettozahler wurde. Zum anderen spielte der erwartete Geldsegen bei einem EU-Beitritt auch eine zentrale Rolle in den Demokratisierungsprozessen erst in Spanien und Portugal und dann ab 1990 in Mittel- und Osteuropa. Die EU verheißt bis heute ihren Beitrittskandidaten einen höheren Lebensstandard – was es ihr erleichtert, ihr Modell von politischer Freiheit und wirtschaftlichem Wohlstand in Ländern, die gerade eine Diktatur hinter sich gelassen haben, plausibel zu machen.

Trotz dieser Vorteile erfüllte die Transferunion bis zur Einführung des Euro keinen spezifischen Zweck, der unverzichtbar für das Gelingen der übrigen Politikfelder gewesen wäre. Sie hatte sich letztlich aus den Wechselfällen der Erweiterungsdynamik ergeben, wurde irgendwie als Zeichen der europäischen Solidarität wahrgenommen und natürlich auch strategisch eingesetzt, wenn es darum ging, welches Land die Kosten und Nutzen für bestimmte neue Politikmaßnahmen übernehmen sollte. Indem sie für eine gerechtere Verteilung der Gewinne aus dem wirtschaftlichen Zusammenwachsen sorgte, trug sie zur Legitimation der EG bei. Doch deren ökonomisches Kerngeschäft, der Gemeinsame Markt, hätte auch ohne diese Umverteilungsmechanismen funktioniert. Dies änderte sich durch die Gründung der Währungsunion – aber dazu in Kürze mehr.

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