20 April 2012

Ein euromediterranes Erasmus

In seinem Werk Die Zukunft der Bildung in Ägypten forderte Taha Hussein freie Bildung und einen kulturellen Austausch im ganzen Mittelmeerraum.
Am 23. April ist der Welttag des Buches, und vielleicht ist das eine gute Gelegenheit, um mal wieder über Tunesien zu reden. Fünfzehn Monate nach dem Sturz Ben Alis ist das Land inzwischen weitgehend aus den deutschen Medien verschwunden. Nur ab und zu findet sich ein Bericht wie kürzlich in der FAZ, in dem von steinewerfenden Demonstranten und der Gefahr des Salafismus die Rede ist. Was es hierzulande dagegen nicht in die Nachrichten gebracht hat: Vorgestern versammelten sich mehrere hunderte Menschen auf der Avenue Habib Bourguiba, dem Hauptboulevard von Tunis und Schauplatz der Revolution, um – Bücher zu lesen.

Die Aktion nannte sich L'Avenue taqra („Die Straße liest“), und obwohl es sich offiziell um eine unpolitische Demonstration handelte, war die zugrundeliegende Botschaft unzweifelhaft: Es ging um die Freiheit der Gedanken und um einen neuen Bürgersinn, der sich weder durch einen autoritären Sicherheitsapparat noch durch religiöse Eiferer eingrenzen lassen will. Es ist kein Zufall, dass eine treibende Kraft des arabischen Frühlings die Studenten und Hochschulabsolventinnen waren, denen das alte Regime nicht nur keine beruflichen Chancen, sondern auch keine Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung bot. Ein höherer Bildungsstand korreliert – das lässt sich länderübergreifend beobachten – mit einem höheren Interesse an Politik und gleichzeitig mit einer höheren Bereitschaft zur Demokratie und Toleranz gegenüber anderen Meinungen.

Und nun zu etwas völlig anderem: Eines der erfolgreichsten Programme der Europäischen Union ist Erasmus, das es Studierenden ermöglicht, einen Teil ihrer Ausbildung an Universitäten anderer europäischer Länder zu verbringen. Rund drei Millionen junge Menschen haben das Programm seit seiner Einführung vor 25 Jahren genutzt. Und dabei ging es natürlich nicht in erster Linie darum, die Bestände fremder Bibliotheken kennen zu lernen, sondern um die Überwindung kultureller Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten und die Entstehung eines gemeinsamen europäischen Erfahrungsraums.

Initiative im Europäischen Parlament

Aber die Überwindung kultureller Grenzen – ist das nicht auch genau das, was Europa gegenüber der arabischen Welt anstrebt? Was also läge näher, als die Beziehungen im Bereich der akademischen und beruflichen Bildung auszubauen? Tatsächlich entstand in Frankreich bereits vor einem Jahr, noch während die Revolutionen in Nordafrika ihren Lauf nahmen, die Idee eines euromediterranen Erasmus, das als erster Baustein einer „mediterranen Wirtschaftsbürgerschaft“ die Freizügigkeit von Studenten zwischen den beiden Seiten des Mittelmeers ermöglichen sollte.

Ende September wurde dieser Vorschlag vom Europäischen Parlament in einer schriftlichen Erklärung aufgegriffen. Organisatorischer Rahmen für ein solches Programm könnte etwa die Union für das Mittelmeer sein, die seit ihrer Gründung 2008 darauf wartet, endlich mit Leben gefüllt zu werden. Und auch wenn die Kommission bislang anscheinend noch nicht auf die Aufforderung des Parlaments reagiert hat, scheinen sich die Chancen für eine Umsetzung zuletzt erhöht zu haben, nachdem der Favorit der französischen Präsidentschaftswahlen, François Hollande (PS/SPE), sich für eine weitere Öffnung der Universitäten für ausländische Studenten ausgesprochen hat.

Die Alternative: Erasmus Mundus

Was sich gegen Euromed-Erasmus einwenden ließe: Es existiert schon heute eine übereuropäische Version von Erasmus, das Programm Erasmus Mundus. Es ermöglicht Austauschprogramme zwischen Universitäten der EU und ausgewählten Drittstaaten in aller Welt. Allerdings ist Erasmus Mundus (im Vergleich zum „normalen“, rein europäischen Erasmus) nur mit eher geringen Finanzmitteln ausgestattet: Weltweit können nur rund 2000 Studenten im Jahr daran teilnehmen, davon nur ein sehr kleiner Teil aus der arabischen Welt. Statt ein eigenes Euromed-Erasmus einzurichten, könnte man also auch einfach die Erasmus-Mundus-Partnerschaften mit Universitäten im Mittelmeerraum ausweiten.

Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Modellen bestünde darin, dass bei Erasmus-Mundus-Partnerschaften jeweils eine der Partneruniversitäten in der EU liegen muss, während ein Euromed-Erasmus, das die gesamte Mittelmeerunion umfasst, auch den Austausch innerhalb der arabischen Länder fördern würde. Das hat teilweise Kritik an dem Vorschlag geweckt: Warum sollte die EU Geld ausgeben, damit ein marokkanischer Student ein Jahr an der Universität Kairo verbringen kann? Und widerspräche es nicht dem Konzept einer „europäischen Identität“, wenn sich der europäische Hochschulraum nun auf das gesamte Mittelmeer (und womöglich noch weitere Länder) ausdehnen würde?

Andererseits: Was wäre das für eine europäische Identität, die es nötig hat, sich gegenüber einer Kooperation mit ihren Nachbarländern abzuschotten? Die Mittelmeerunion wurde ja gerade gegründet, um den politischen Rahmen für Projekte zu bieten, die die Europäer und die anderen Mittelmeeranrainer gemeinsam angehen – der freie Austausch der Akademie gehört da zweifellos dazu. Und was das europäische Interesse an einem intensivierten innerarabischen Kontakt betrifft: Waren es nicht gerade diese Verflechtungen, die dazu führten, dass sich der arabische Frühling vor einem Jahr von einem Land zum nächsten ausbreiten konnte?

Studentenaustausch allein genügt nicht

Damit bleibt nur noch ein Vorbehalt: Die Konzentration auf den Bildungsbereich genügt natürlich nicht. Was die demokratischen Fortschritte in Tunesien oder Ägypten gefährdet, ist in erster Linie die um sich greifende Arbeitslosigkeit. Solange die wirtschaftliche Lage sich nicht bessert, wird kein akademisches Austauschprogramm eine breite Ausstrahlungskraft entfalten – wer um die Ernährung seiner Familie besorgt ist, macht sich meist nur wenig Gedanken über den kulturellen Austausch mit dem Rest der Welt und bleibt anfällig für populistische Heilsversprechungen. Die Öffnung der europäischen Märkte und die Förderung von Direktinvestitionen in Nordafrika muss deshalb ein zentraler Bestandteil der EU-Nachbarschaftspolitik bleiben.

Langfristig aber kann Euromed-Erasmus einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einem gemeinsamen europäisch-arabischen Bildungs- und Kulturraum darstellen und ein Zeichen setzen wie die Demonstration der Bücherleser auf der Avenue Habib Bourguiba: ein Zeichen gegen jede Beschränkung des freien Austauschs von Ideen, ob diese nun durch eine politische oder religiöse Zensur erfolgt oder durch nationale Grenzen und eine restriktive Migrationspolitik.

Bild: By Taha Husayn (a book from Taha Husayn) [see page for license], via Wikimedia Commons.

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