22 Januar 2012

Das Paradox des Martin Schulz

Warum wird ein überzeugter Parteipolitiker Parlamentspräsident?
In den Medienkommentaren über die Wahl Martin Schulz' (SPD/SPE) zum Präsidenten des Europäischen Parlaments war vor allem eine Bemerkung immer wieder zu lesen: dass hier einer, der bislang vor allem durch scharfe Parteipolitik aufgefallen war, ein „Polterer“, wie ihn SZ, taz und Welt übereinstimmend charakterisierten, ein Amt antreten würde, das vor allem eine repräsentative, überparteiliche, vermittelnde Aufgabe erfüllt. Und es stimmt schon: Die meisten Parlamentspräsidenten der letzten Jahrzehnte waren etwas angegraute freundliche Herren, die mit diesem Posten ihre politische Karriere beendeten. Manche von ihnen behielten danach noch einige Jahre ihr Mandat, ohne aber noch groß in Erscheinung zu treten, andere konzentrierten sich anschließend auf zivilgesellschaftliche Aktivitäten oder auf die Wissenschaft. Das ist nicht sehr anders als auf nationaler Ebene, etwa in Deutschland, wo ehemalige Präsidenten des Bundestags später höchstens Bundespräsident wurden, jedenfalls aber kein Regierungsamt mehr einnahmen.

Ganz im Gegensatz zu Schulz: Der ist seit bald zwanzig Jahren Mitglied des Europäischen Parlaments, davon die letzten siebeneinhalb Jahre als Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion S&D. Bekannt wurde er vor allem durch seinen Schlagabtausch mit Silvio Berlusconi im Juli 2003, was allerdings keineswegs das einzige heftige Verbalscharmützel war, das er im Plenarsaal mit politischen Kontrahenten führte. Wenn es um Fragen wie die Zukunft der Währungsunion und die Einführung von Eurobonds geht, verkörpert Schulz wie kaum ein zweiter das Programm der Sozialdemokratischen Partei Europas. Und mit Sicherheit will er sich auch künftig nicht aus der Politik zurückziehen: Bei der Europawahl 2014 plant die SPE erstmals einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufzustellen, und man darf davon ausgehen, dass Schulz sich um diese Nominierung bemühen wird. Warum lässt sich solch ein Vollblut-Parteipolitiker in ein Amt wählen, in dem er qua Funktionsbeschreibung nicht den Konflikt mit dem politischen Gegner suchen darf?

Unbekannt im Fraktionsvorsitz

Die Antwort darauf bietet, offenbar unfreiwillig, ein Beitrag im Blog ringsumher. Der Autor dort stellt nämlich fest,
dass der Streit mit Berlusconi die einzige, nunja, inhaltliche Auseinandersetzung ist, die ich mit Schulz in Verbindung bringe. Der SPD-Politiker sitzt seit rund 18 Jahren im Europäischen Parlament. In dieser Zeit wird er sicherlich mehr getan haben, als sich ein Wortgefecht mit Berlusconi zu liefern. Nur was?
Tatsächlich: Während nahezu jeder Deutsche den Namen von Frank-Walter Steinmeier kennt, der die SPD-Fraktion im Bundestag anführt, ist sein europäisches Pendant bis heute weitgehend unbekannt. Dreieinhalb Legislaturperioden intensiver Arbeit im Europäischen Parlament, in denen Martin Schulz ungezählte Gesetze aushandelte und zu einem der wichtigsten aktiven Europapolitiker wurde, verhalfen ihm nicht zu Präsenz in der europäischen Öffentlichkeit. Das liegt keineswegs an ihm persönlich: Auch der Fraktionsvorsitzende der EVP, Joseph Daul, wird wohl den Allerwenigsten ein Begriff sein, den Liberalen Guy Verhofstadt kennt man am ehesten aus seiner Zeit als belgischer Premierminister, den Grünen Daniel Cohn-Bendit assoziieren die meisten noch mit dem Jahr 1968, und von dem Linken Lothar Bisky werden viele Deutsche wohl annehmen, er säße bis heute im Bundestag. So bitter es ist: Parteipolitik auf EU-Ebene hat in den europäischen Medien keinen Nachrichtenwert, und die meisten Parlamentsreden in Straßburg und Brüssel verhallen von der europäischen Öffentlichkeit ungehört.

Worüber die Medien dagegen berichten, sind die europäischen Regierungen. Wenn es wieder einmal eine Tagung des Europäischen Rates (vulgo „EU-Gipfel“) gibt, auf dem Griechenland um seine Zukunft bangt, Großbritannien sich isoliert, Frankreich sich aufspielt und Deutschland sich durchsetzt, sind die Zeitungen voll von Europapolitik. Und dann fallen auch ein paar Brocken Aufmerksamkeit für die übrigen Institutionen ab – für die Kommission, die konstruktive Vorschläge macht, damit der Europäische Rat sie verwässern kann, und manchmal sogar für das Europäische Parlament, das übergangen wird und dagegen protestiert.

Aufmerksamkeit nur für institutionelle Konflikte

Wenn Martin Schulz aber tatsächlich 2014 als Kandidat für die Kommissionspräsidentschaft antreten will, dann ist das, was er am dringendsten benötigt, mediale Aufmerksamkeit. Nach so vielen Jahren in der Europapolitik ist er in der SPE zweifellos besser vernetzt als mancher nationale Regierungschef. Um aber eine länderübergreifende Wählerschaft anzusprechen, braucht er eine breitere Öffentlichkeit, die ihm der Fraktionsvorsitz allein nicht bietet. Wenn Schulz seinen Namen in den Nachrichten sehen will, dann wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als sich mit den anderen EU-Organen anzulegen – mit der Kommission, vor allem aber mit den Regierungen im Europäischen Rat. Und dass er genau das vorhat, hat er in seiner Antrittsrede ziemlich unmissverständlich deutlich gemacht:
Seit Monaten hetzt die Union von einem Krisengipfel zum nächsten. Entscheidungen, die uns alle betreffen, werden von Regierungschefs hinter verschlossenen Türen getroffen. […] Das Ergebnis einer parlamentarisch unzureichend legitimierten Politik wird von den Bürgern als Diktat aus Brüssel empfunden. Den Preis dafür bezahlt die EU als Ganzes: das ist der Nährboden für antieuropäische Ressentiments. Und dem wird das Europäische Parlament nicht tatenlos zuschauen! Wer glaubt, man könne ein Mehr an Europa mit einem Weniger an Parlamentarismus schaffen, dem sage ich hier und jetzt den Kampf an!
Wenn Martin Schulz sich also zum Parlamentspräsidenten hat wählen lassen, dann nicht, weil er plötzlich das Interesse am politischen Konflikt verloren hätte. Vielmehr gibt ihm sein neues Amt die Möglichkeit, die Auseinandersetzung aus dem parteipolitischen in den institutionellen Bereich zu verlagern. Für seine Kandidatur 2014 wird er zwar wieder in seine Rolle als Sozialdemokrat zurückfinden müssen – insgesamt wird ihm dann der Europawahlkampf aber deutlich leichter fallen, wenn er erst einmal als Kämpfer für den Parlamentarismus eine gewisse Bekanntheit in der europäischen Bevölkerung erreicht hat.

Ein paradoxes System

Doch auch wenn Schulz sich damit durchaus politisch rational verhält: Letztlich ist seine Wahl zum Parlamentspräsidenten ein Symptom für die Schwäche des heutigen EU-Systems. Denn dass die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit sich in erster Linie auf die institutionellen, nicht die parteipolitischen Konflikte richtet, trägt für sich allein schon dazu bei, die Europapolitik zu delegitimieren. Auf die Parteien nämlich kann der Wähler alle vier, fünf Jahre mit seiner Stimme einwirken: Er kann die Seite belohnen, die ihn mit ihren Argumenten mehr überzeugt hat, und diejenige abstrafen, von deren Verhalten er enttäuscht ist. Verläuft die wichtigste Konfliktlinie dagegen zwischen zwei Organen, eben Europaparlament und Europäischem Rat, dann können wir Bürger nur zusehen und hoffen, dass der Streit zuletzt so beendet wird, wie wir das für richtig halten. Selbst beeinflussen aber können wir die institutionelle Machtverteilung kaum.

Wenn auf nationaler Ebene der Parlamentspräsident die Stellung der Volksvertretung gegen die Ansprüche anderer Staatsorgane verteidigen muss, und wenn diese Kontroverse gar so gewichtig wird, dass darüber die Auseinandersetzung zwischen den politischen Parteien in den Hintergrund gerät, dann haben wir es mit einer veritablen Verfassungskrise zu tun. Auf europäischer Ebene dagegen ist das der Normalzustand. Das Paradox des Martin Schulz ist ein Paradox im politischen System der Europäischen Union.

Bild: By High Contrast (Own work) [CC-BY-3.0-de], via Wikimedia Commons.

1 Kommentar:

  1. Frau Kuchen23/1/12 13:21

    Interssanter Kommentar - er trifft auch auf die Berichterstattung im Freitag zu. Auch dort wird Schulz als streitbarer Idealist vorgestellt, der dem Parlament zu neuem Ansehen verhelfen könnte. Seine Wahl bereits als Ausdruck einer Tendenz zu sehen, dass das Parlament in Sachfragen kaum als relevant sondern eher in institutionelle Auseinandersetzungne verstrickt wahrgenommen wird, finde ich sehr treffend.

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