- Niklas Helwig, Finnish Institute of International Affairs, Brüssel
- Manuel Müller, Finnish Institute of International Affairs, Helsinki
- Julian Plottka, Universität Passau / Institut für Europäische Politik, Berlin
- Sophie Pornschlegel, Europe Jacques Delors, Brüssel
- Der Kleinste unter den Großen: Der Europasaurus starb aus, weil er gegenüber seinen Fressfeinden nicht wehrhaft genug war.
Manuel
Lasst uns das heutige europapolitische Quartett mit der (wahren) Geschichte des Europasaurus beginnen. Der Europasaurus gehörte zur Gruppe der Sauropoden, also zu den größten Landlebewesen aller Zeiten. Mit gerade einmal sechs Metern war er allerdings die kleinste Gattung in dieser Gruppe, was biologisch auf das Phänomen der „Inselverzwergung“ zurückzuführen ist: Europasaurier lebten nur auf einer Insel im heutigen Norddeutschland, auf der es keine großen Raubsaurier gab. Sie mussten deshalb keine Fressfeinde abschrecken und konnten sich einen energetisch effizienteren, kleineren Körperbau leisten. Das ging allerdings nur so lange gut, bis irgendwann der Meeresspiegel sank und eine Landbrücke entstand, über die große fleischfressende Carnosaurier die Insel erreichten. In der Folge wurde der Europasaurus vor etwa 150 Millionen Jahren ausgerottet.
Nun sind Tier-Allegorien zu politischen Vorgängen immer problematisch, und wir können diese hier gerne gleich dekonstruieren. Aber bleiben wir erst mal im Bild: Auch in der heutigen Staatenwelt scheinen einige Carnosaurier unterwegs zu sein – aggressiv auftretende Großmächte, die ihre imperialen Einflusssphären ausdehnen wollen. Auf die USA, unter deren Schutz Europa lange wie eine Insel der Seligen wirkte, ist unter Donald Trump kein Verlass mehr. Dadurch gerät die EU unter Druck, sich zu verändern und nicht länger der politische Zwerg unter den wirtschaftlichen Riesenechsen zu sein. Nur wie soll ihre Rolle in dieser veränderten Weltlage aussehen? Wie kann sie überleben, ohne selbst zum Raubsaurier zu werden?
Special Guest im Europapolitischen Quartett ist heute mein Kollege Niklas Helwig, Experte für europäische Außen- und Sicherheitspolitik und Hauptautor eines im April erschienenen FIIA Papers über The EU in an age of empires. Herzlich willkommen!
Die Rückkehr der Imperien …
Niklas
Hallo zusammen! Wir wollten dieses Paper schreiben, da sich in der politischen Debatte gerade viele auf Verteidigungsfragen und die Zukunft der Ukraine konzentrieren – was ja ohne Frage auch wichtig ist. Aber wir sahen die Herausforderungen, denen die EU ausgesetzt ist, viel breiter. Sie muss sich in einem Umfeld durchsetzen, in dem ihr liberales politisches und gesellschaftliches Modell einem wieder aufstrebenden Imperialismus gegenübersteht.
Nachdem man in den 1990er Jahren noch geglaubt hat, der Imperialismus sei Geschichte, ist er nun seit fünfzehn Jahren oder mehr wieder im Aufwind: Russlands Angriffe auf die Ukraine, Chinas ökonomische Bestrebungen in Asien und darüber hinaus. Jetzt die USA unter Trump. Statt regelbasierter Kooperation unter gleichwertigen Staaten gibt es Hierarchien, die über Machtverhältnisse definiert werden.
Was soll die EU also tun? Statt selbst dem Imperialismus in seiner Rohform zu verfallen, sollte sie auf die Stärke ihres liberalen Systems bauen. Demokratie nach innen verteidigen, gleichwertige Partnerschaften nach außen aufbauen und die Stärke ihrer Wirtschaft besser einsetzen. Das ist nicht einfach, es verlangt mutige Politik und auch Reformen. Aber zum Zögern ist jetzt nicht die Zeit.
Sophie
Grundsätzlich stimme ich dir zu, dass die Welt machiavellistischer geworden ist. Aber ich finde es etwas seltsam, von einem „wiederkehrenden“ Imperialismus zu sprechen. Demokratien haben sich auch in den scheinbar friedlichen Zeiten der letzten Jahrzehnte imperialistisch verhalten – siehe den Kolonialismus, aber auch die Ausbeutung des Globalen Südens für unseren Wohlstand. Dass man aus europäischer Perspektive eine Wiederkehr von machiavellistischen machtpolitischen und gewalttätigeren Verhältnissen sieht, liegt vor allem daran, dass diese jetzt „näher dran“ an uns sind.
Übrigens habe ich vor zwei Jahren dazu ein Buch geschrieben – Am Ende der gewohnten Ordnung: Warum wir Macht neu denken müssen.
… oder waren sie niemals weg?
Julian
Da stimme ich Sophie zu: Wenn wir von einer Rückkehr der Imperien sprechen, können wir kein schwarz-weißes Bild der EU als gallisches Dorf der freien Welt gegen die bösen Imperien in West, Ost und Fernost zeichnen. Die EU ist und war keine nicht-imperiale Macht – wenn wir die Welt mit diesem Konzept zu verstehen versuchen wollen. Es gibt historische Arbeiten, die aufzuzeigen versuchen, dass auch die Gründung der Gemeinschaften bereits von der Idee getragen wurde, Frankreich könne auf diese Weise seine Kolonien retten. Auch wird zu Recht die These diskutiert, die EU-Außenpolitik, besonders gegenüber afrikanischen Staaten, weise neokoloniale Züge auf.
Zudem nutzen einige Mitgliedstaaten (ohne Frankreich hier erneut nennen zu wollen) die EU-Außenpolitik, um ihre eigenen neokolonialen Ambitionen zu supranationalisieren. Schließlich gibt es eine Diskussion, ob nicht auch die EU-Erweiterungspolitik neokoloniale Züge aufweise. (Ich selbst stehe einer kritischen Diskussion der Erweiterungspolitik zwar offen gegenüber, bin aber der Meinung, dass hier der Begriff des Kolonialismus gnadenlos überdehnt wird und keine Anwendung finden sollte.)
Wenn mensch diese Kontinuität imperialen Handelns akzeptiert, ist die Frage eher, ob sich die Art des Imperialismus gerade von soft in Richtung hard power wandelt – und wie die EU mit ihren nicht-militärischen Instrumente weiter mitspielen kann.
Manuel
Über die Frage, ob der Imperialismus – im Sinne von weltpolitischen Machtgefällen, gerade gegenüber dem Globalen Süden – jemals wirklich weg war, haben wir FIIA-intern beim Schreiben unseres Briefing Papers natürlich auch diskutiert. Aus meiner Sicht besteht ein großer Unterschied in der Art, wie darüber geredet wird: In den letzten Jahrzehnten haben sich die starken weltpolitischen Akteure wenigstens rhetorisch an der Idee einer liberalen Weltordnung mit gleichberechtigten Staaten orientiert. Inzwischen sprechen Russland, aber auch China und die USA viel offener von „Einflusssphären“ und setzen damit die Ungleichheit von Staaten auch normativ voraus.
Für die EU kommt noch hinzu, dass ihr eigenes supranationales Modell ja wenigstens nach innen gerade als Gegenmodell zu den früheren imperialistischen Machtkämpfen in Europa entwickelt wurde: als eine politische Ordnung, die den Nationalismus transzendieren soll und in dem alle Mitgliedstaaten faire Mitspracherechte haben, ohne dass einer die anderen dominiert.
Nach außen hin ist die EU natürlich auch in der Vergangenheit immer wieder als quasi-imperialer Akteur aufgetreten – gerade in der Handelspolitik gegenüber dem Globalen Süden (und in meinen Augen zum Teil durchaus auch in der Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik, vor allem gegenüber den „ewigen Beitrittskandidaten“, die seit langer Zeit im politischen Orbit der EU kreisen, ohne jemals ganz aufgenommen zu werden).
Wertenarrative mit doppelten Standards
Niklas
Es stimmt, die westlichen Demokratien und die EU waren niemals perfekt. Wir haben unsere imperialistische Vergangenheit; wir haben die Regeln, die wir hochhalten, selbst nicht perfekt umgesetzt (man denke an den Irak, den Nahen Osten usw.), und dadurch haben auch wir zu der imperialistischen Wende beigetragen. Aber als Prinzip halten wir doch an der Idee der regelbasierten Weltordnung fest. Mit dem Paper wollten wir das Argument machen, dass sich Europa noch stärker diesen Ideen verpflichtet fühlen und zum Beispiel gleichberechtigte Partnerschaften im Globalen Süden entwickeln muss. Keine einfache Aufgabe.
Sophie
Ja, Europa befindet sich heute in einer schwierigen Position. Wir leben in einer machiavellistischen Welt, in der Macht als Nullsummenspiel gesehen wird – wenn ich gewinne, verlierst du. Machtmethode ist hauptsächlich Gewalt.
Das Problem: Unser Wertenarrativ haben wir selbst ausgehöhlt, indem wir uns selbst nicht an diese Werte halten (siehe auch unsere Haltung gegenüber Viktor Orbán, die Tatsache, dass wir einen Genozid in Gaza zulassen und sogar unterstützen, die mangelnde Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit vieler europäischer Staaten). Wir machen es uns natürlich „schwieriger“ als andere – autoritäre – Länder, indem wir uns vornehmen, uns an bestimmte Standards zu halten. Aber wir verlieren an Legitimität und stehen als scheinheilig da, wenn es so viele doppelte Standards gibt und wir unseren eigenen Werten nicht gerecht werden.
Die EU muss in dieser neuen Welt ihr politisches Narrativ anpassen. Das heißt ja nicht, dass man komplett auf Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verzichten sollte, ganz im Gegenteil. Aber man sollte weniger moralisierend agieren und nicht versuchen, Werte zu „exportieren“. Darüber hinaus würde es uns guttun, etwas ehrlicher über unsere eigenen Interessen zu reden.
Niklas
Die Diskussion über die eigentlichen Gründungsmotive der EU wurde in den vergangenen Jahren schon sehr stark geführt: Ist es EU als Friedensmacht, die den Nationalismus überwindet und Integration vorantreibt, oder ist es, wie zum Beispiel Hans Kundnani schreibt, die kolonialistische Vergangenheit, die in der EU weiterlebt? Wenn man die zweite Lesart annimmt, dann ist das Bild der EU als Pflanzenfresser unter Fleischfressern falsch.
Pflanzenfresser nach innen, Fleischfresser nach außen?
Julian
Aber schließt sich das denn aus? Kann die EU nicht aus der Motivation gegründet worden sein, nach innen Frieden zu sichern, und gleichzeitig nach außen imperiale Ziele zu verfolgen? Es macht es sicher nicht besser, wenn die EU innen und außen mit zweierlei Maß misst. Aber eine politische Gemeinschaft kann doch beides gleichzeitig realisieren, also auf der Insel nur Pflanzen und außerhalb der Insel Fleisch fressen.
Sophie
Ganz kontrovers: Ich denke, dass beide Lesarten stimmen. Die EU hat für die Mitgliedsländer Frieden und Wohlstand gesichert, und das ist eine extrem positive Errungenschaft. Gleichzeitig waren wir nicht immer „die Guten“, auch wenn das weiterhin ein weit verbreitetes Selbstbild ist.
Manuel
Ich denke auch, dass die EU weltpolitisch eine solche 🦕🦖-Zwitterrolle einnimmt. Ich finde, man kann ihr noch zugutehalten, dass sie ihren weltpolitischen Einfluss (etwa in der Entwicklungshilfe, beim Abschließen von Handelsverträgen oder durch Maßnahmen wie das Lieferkettengesetz) zu nutzen versucht hat, um Werte wie Demokratie und Menschenrechte global zu stärken. „Werteexport“ in diesem Sinne muss nichts Schlechtes sein. Aber natürlich ist das immer wieder auch mit einer sehr eigennützigen Durchsetzung kurzfristiger wirtschaftlicher Interessen verbunden gewesen, die die EU viel Glaubwürdigkeit gekostet hat.
Sophie
Das Problem ist, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht unbedingt ein großes Interesse an einer Selbstreflexion zu ihrer Rolle in der Welt haben. Wir hatten in den letzten Jahrzehnten eine sehr angenehme Position: billiges russisches Gas, eine blühende Export-Wirtschaft, die praktische US-Sicherheitsgarantie. Die Zeiten sind vorbei. Das bedeutet, dass wir an Macht verlieren – und somit wird auch die Kritik an die EU deutlicher.
Das heißt nicht, dass wir alles über Bord werfen sollten – Demokratie und Frieden innerhalb der EU sind immer noch wichtige Ziele. Aber wir sollten unsere Rolle in dieser (fleischfressenden) Welt neu definieren. Dabei sollten wir unseren Handlungsspielraum möglichst beibehalten (beispielswiese unsere Lieferketten prüfen und nicht von einem einzigen Land abhängig machen); strategisch denken statt naiv zu handeln (beispielsweise unsere kritische Infrastruktur nicht sorgenlos an Drittstaaten verkaufen); und weiterhin alles tun, um Werten wie Demokratie und Menschenrechten gerecht zu werden (beispielsweise endlich Waffenlieferungen an die israelische Regierung stoppen).
Niklas
Es wird manchmal so dargestellt, als ob sich der sogenannte Globale Süden vom regelbasierten System abwendet – wenn zum Beispiel Vertreter:innen bei der russischen Militärparade auftauchen. Tatsächlich sind viele im Globalen Süden aber vor allem enttäuscht darüber, wie wir im Norden agiert haben. Das System selbst lehnen sie nicht ab, sie wollen nur auch einen Platz am Tisch.
Globaler Supranationalismus und andere Utopien
Manuel
Meine Lieblingsutopie in diesem Zusammenhang ist ja die Gründung einer globalen supranationalen Union von Demokratien aller Kontinente, mit echten Gesetzgebungskompetenzen zum Beispiel in der Klima- oder Migrationspolitik. Gewissermaßen ein Versuch, die guten Erfahrungen, die die EU bei der Überwindung imperialer Machtgefälle innerhalb Europas gemacht hat, auf die globale Ebene zu ziehen.
Julian
Willkommen zurück beim Hertensteiner Programm (These 12)! 😂
Sophie
Manuel ist ein Utopien-Freund! Aber das ist gut – uns fehlen positive Zukunftsbilder. (Sagt ja auch Florence Gaub.)
Niklas
Als Utopie ist das ja schön, Manuel, aber in der derzeitigen Weltlage ist man doch schon froh, wenn man die existierenden multilateralen Institutionen gerade noch so funktional halten kann. Wenn man sich das Verhalten der USA in den Vereinten Nationen ansieht … Und auch innerhalb der EU macht es der Gegenwind von Populist:innen derzeit ziemlich unwahrscheinlich, Utopien von Weltdemokratie zu verfolgen.
Manuel
Das stimmt wohl. Aber wenn wir immer nur Angst vor der Reaktion der Populist:innen haben, dann werden wir auf absehbare Zeit gar nichts mehr erreichen.
Sophie
Das stimmt. Derzeit gibt es einen extremen Pessimismus bei Menschen, die sich eine weniger „imperiale“, chaotische und machiavellistische Welt wünschen. Doch mit dem Status quo werden wir die Visionen der Rechtsextremen sicherlich nicht bekämpfen. Deshalb braucht es ein Gegennarrativ, das zeigt, dass nicht alles den Bach runtergehen muss. Wir können eine lebenswerte Welt haben; Frieden ist keine unmögliche Utopie; es gibt Wohlfahrtsstaaten, die es Menschen erlauben, gesund zu leben und sinnstiftende Arbeit zu leisten.
Niklas
Das erinnert mich an SITRA, den finnischen öffentlichen Innovationsfonds, der mit seinem Foresight-Modell nicht nur unterschiedliche Zukunftsszenarien entwerfen, sondern auch unterstreichen will, dass jede:r zu einer positiven Zukunft beitragen kann. Im Sinne von „Zukunft selber machen“.
Und gerade weil wir diese positiven Gegenmodelle brauchen, haben wir in unserem FIIA-Paper diese Idee der EU als liberale geopolitische Macht entworfen! 😉
Der Abbau der liberalen Weltordnung hat Grenzen
Julian
Ich sehe eure Punkte und stimme auch zu, dass wir gerade in einer Phase sind, in der die regelbasierte Ordnung massiv angegriffen wird. Aber wie weit geht das wirklich? Hat nicht die Reaktion der US-Wirtschaft auf Trumps Zoll-Ankündigung gezeigt, dass der Abbau der liberalen Weltordnung auch Grenzen hat? Gehen die reaktionären Akteure zu weit, graben sie sich selbst die Ressourcen ab, die sie brauchen, um ihren Imperialismus zu finanzieren.
Dasselbe gilt für China; dort steht vielleicht sogar die Regimestabilität in Frage, wenn die wirtschaftliche Entwicklung nicht mehr voranschreitet. Deshalb habe ich auch ganz realistisch weiterhin ein bisschen Hoffnung, dass wir die multilateralen Institutionen noch retten können – sicher nicht in der Form, wie wir uns das wünschen, aber dennoch als ein Mindestmaß.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine massive Bewegung der Populist:innen gibt, die bereit sind, ihren Reichtum zu opfern, um die Weltordnung zu zerstören. Auch Viktor Orbán ist in erster Linie einfach nur ein Kleptokrat und kein Missionar.
Sophie
Wir haben uns am Imperialismus abgearbeitet – jetzt sollten wir uns vielleicht dem Liberalismus zuwenden!
Die neue Rolle der USA
Manuel
Dann kommen wir doch gleich noch mal auf die Rolle Amerikas zu sprechen. Wie sehr ihr das – kippen die USA gerade ins Lager der imperialen Autokratien? Oder hat der „demokratische Westen“ noch eine Zukunft? Oder verspielt Trump den globalen Einfluss der USA so grundsätzlich, dass es in einigen Jahren ohnehin nicht mehr entscheidend auf sie ankommen wird?
Niklas
Die Frage ist, wie weit Trump ein Ideologe ist. Es gibt die Idee, dass er eher mit Autokraten wie Putin verkehren kann und das Eurovision-liberale Europa ihm zuwider ist. Tatsächlich unterstützt Trump durch seine Rhetorik und Handeln den Hang zum Illiberalen, aber er selbst ist weniger ein Ideologe als ein Geschäftsmann.
J. D. Vance dagegen ist tatsächlich ein Ideologe in der Trump-Administration. Noch gibt er als Vizepräsident nicht den Ton an. Aber falls er nach Trump an die Macht kommt, ist das Ideologische auch im Oval Office angekommen.
Sophie
Drei Punkte. Erstens: Die USA sind aus meiner Sicht bereits heute eine Oligarchie – seit der Citizens-United-Entscheidung des Supreme Court lässt sich finanzielle Macht hier ziemlich einfach in politische Macht übertragen. Trump ist gerade dabei, das Land in einen faschistischen Polizeistaat umzuwandeln. Es bleibt unklar, wie sich das weiterentwickelt und ob die Gerichte die Demokratie noch retten können. Aber die Lage ist jedenfalls mehr als ernst.
Zweitens, zum „demokratischen Westen“: Ich frage mich immer mehr, was „der Westen“ eigentlich bedeutet. Sind es kulturelle Gemeinsamkeiten? Oder einfach nur die Tatsache, dass „der Westen“ die reichsten und mächtigsten Länder der Welt waren? (Das ist jetzt etwas plakativ ausgedrückt, aber die Frage sollten wir uns dennoch stellen.)
Drittens, zur Zukunft der US-Außenpolitik: Die USA fahren ja schon seit einiger Zeit einen isolationistischen Kurs. Es bleibt abzuwarten, wie sich das auf die globalen Machtdynamiken auswirkt. Meine Schlussfolgerung ist aber jedenfalls: Europa muss unabhängiger von den USA werden – ohne der Idee zu verfallen, dass wir komplett autonom sein könnten (wie es sich viele Rechtsextreme ja wünschen). Es geht darum, Interdependenzen strategisch auszuhandeln – in unserem Interesse und ohne unsere Werte aus dem Auge zu verlieren.
Europäisch-amerikanische Entfremdung
Julian
Um Manuels Formulierung der Fragen ein bisschen zu widersprechen und Sophies drittem Punkt zuzustimmen, ich glaube eher an ein beides. Ich sehe eine große Gefahr, dass die USA in eine Autokratie kippen und gleichzeitig dabei ihren außenpolitischen Einfluss verlieren. Wenn mensch sich die gegenwärtige Sprachlosigkeit der USA in Internationalen Organisationen, das Ende der Voice of America und die Kürzungen bei USAID anschaut: Alles, was sie in dieser Hinsicht getan haben, deutet auf Isolationismus hin. Ein missionarischer Ideologe hätte doch alle diese Instrumente nicht abgeschafft, sondern in seinen Dienst gestellt, um Trumpismus zu promoten.
Manuel
Da ist gar kein Widerspruch; ich sehe das selbst ganz ähnlich. Und ein bisschen läuft es für die EU natürlich auch auf dasselbe hinaus: Ob die USA nun unfreundlicher oder unwichtiger oder beides werden, wir werden unabhängiger werden und andere Partner suchen müssen.
Und es gibt ja viele demokratische Partner, zu denen die EU ihre Beziehungen noch intensivieren könnte – Kanada, Südkorea, die südamerikanischen und afrikanischen Demokratien …
Niklas
Ich stimme zu. Auch unter künftigen demokratischen US-Präsident:innen wird es kein Zurück mehr zu den Obama-Jahren geben. Sie werden nicht USAID auf das alte Niveau zurückfahren oder wieder Truppen nach Europa verlegen. Es gibt jetzt auch eine Generation von jungen Menschen in den USA, die sich das DOGE-Chaos ansehen und deshalb entscheiden werden, keine Karriere im öffentlichen Bereich oder in der Diplomatie anzustreben. Es gibt Langzeitfolgen.
Julian
Ja, wir sehen hier einen Langzeittrend, der sogar schon unter Obama angefangen hat. Er hat auch schon mehr Engagement in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik von der EU gefordert. Zusätzlich werden natürlich viele Entwicklungen forttragen, die die Trump-II-Administration anstößt. Hierauf muss sich die EU endlich vorbereiten, selbst wenn wir nach Trump wieder eine rationale Administration bekommen.
Konfliktpotenzial um Big Tech
Niklas
Was noch Sophies ersten Punkt mit der Oligarchie betrifft: Die basiert zum großen Teil auf Big Tech. Personen wie Elon Musk, Sam Altman, Peter Thiel haben eine starken Einfluss auf die Trump-Administration.
Auch hier gibt es auch ein großes Konfliktpotenzial mit der EU und der liberalen Art, wie sie Politik umsetzt: Selbst wenn die EU nur intern ihre eigenen Regeln gegen X und Co. durchsetzt und Strafgelder verhängt, könnte das den Zorn der amerikanischen Regierung auf sich ziehen. Und bei Trump gibt es keine Trennung zwischen Politikbereichen – er würde auch bei der Sicherheitspolitik zurückschlagen und zum Beispiel Sicherheitsgarantien in Frage stellen.
Julian
Glaubst Du wirklich, dass die US-Techies es auf einen Kampf zwischen Europa und den USA ankommen lassen? Ist nicht die Gefahr zu groß, dass in diesem Fall China gewinnt? In der Frage der Zölle hat Trump auch schnell zurückgerudert, als die US-Wirtschaft in den Keller gerutscht ist.
Niklas
Den US-Techies sind die EU-Regeln ein Dorn im Auge. Mit China haben sie weniger ein Problem, von China hat Tech in den USA stark profitiert.
Julian
Auffällig ist jedenfalls, dass Trumps aktuelle Strategie den gesamten Bereich der Dienstleistungen bewusst nicht thematisiert, denn sonst würde sich zeigen, dass die Handelsbilanzen zwischen der EU und den USA gar nicht so unausgeglichen sind, wie die Trump-II-Administration behauptet.
Die Jobs, die Trump mit seinen Zöllen angeblich zurückholen will, sind Industriejobs, keine IT-Jobs. Ich denke deshalb schon, dass die US-Tech-Industrie ein Problem mit China bekommen könnte – nicht auf der regulativen Ebene, aber im Wirtschaftswettbewerb. Wenn Europa und die USA einen Handelskrieg im Dienstleitungsbereich führen, ist das doch die Chance der chinesischen Tech-Unternehmen Marktanteile zu übernehmen.
Globales Institution Building
Sophie
Die Trump-Administration ist ein Bully – und wenn Europa sich China hinwenden möchten, dann nutzen Sie ihre Macht rücksichtslos aus. Das war ja bereits der Fall mit dem niederländischen Halbleiter-Unternehmen ASML. Ich hoffe sehr, dass die EU-Entscheidungsträger:innen nicht zu sehr darauf bedacht, die Trump-Administration zu beschwichtigen und wir uns uns nicht erpressen lassen, beispielsweise um unsere Tech-Regulierung wieder rückgängig zu machen. Das könnte schwierig werden, wenn beispielsweise die Ukraine von Elon Musks Starlink abhängig ist. Deshalb müssen wir jetzt sehr genau prüfen, wo unsere Schwachstellen liegen (etwa bei der kritischen Infrastruktur, den Lieferketten etc.), und darauf achten, dass wir unseren Handlungsspielraum möglichst ausbauen statt ihn zu verkleinern.
Manuel
Was ich mir von der EU wünschen würde, wäre ein stärkerer Fokus auf globales institution building. Gegenüber den USA hat man, abgesehen von den NATO-Strukturen, vor allem auf diplomatische Beziehungen gesetzt und sich darauf verlassen, dass es im demokratischen Westen ohnehin einen Werte-Gleichklang gibt. Aber in der Welt der Diplomatie ist am Ende eben doch jeder Staat sich selbst am nächsten, und langfristig kann man sich nicht darauf verlassen, dass die gemeinsamen Werte erhalten bleiben.
Womit sich das ändern lässt, sind starke supranationale Institutionen, die die gemeinsamen Werte beschützen. EU-intern haben wir das zwar auch noch nicht in perfekter Form (siehe Ungarn), aber dank Europarecht und Europäischem Gerichtshof funktioniert der Schutz der gemeinsamen Werte hier doch sehr viel besser als in jedem zwischenstaatlichen Rahmen auf globaler Ebene.
Auch deshalb komme ich immer wieder auf die Idee einer supranationalen globalen Union zurück. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, Hoheitsrechte (etwa die Entscheidungsmacht über die Klimapolitik) mit den Demokratien des Globalen Südens zu teilen – und im Gegenzug Institutionen zu schaffen, die eine dauerhafte Verankerung der gemeinsamen demokratischen Werte sicherstellen und unsere fundamentalen Interessen in Einklang halten, indem sie den Preis für nationale Alleingänge erhöhen. Eine solidarité de fait, wie Robert Schuman gesagt hätte. 😉
Sophie
In der Tat, wir brauchen Strukturen, um gegensätzliche Interessen zu verhandeln – zum Beispiel in der Klimapolitik. Da gibt es zwar auch schon die COP, aber wir brauchen auf internationaler Ebene viel mehr Coalitions of the Willing, die politisch ambitionierte Vorschläge voranbringen.
Manuel
Vor allem sollte es – anders als die COP – eine Organisation mit supranationaler Entscheidungskompetenz, ohne nationale Vetos und mit einem eigenen Budget sein. Eine echte Teilung von Hoheitsrechten, durch die wir die Demokratien der Welt institutionell zusammenbringen und die dann auch stabiler und zuverlässiger ist als kurzfristige Coalitions of the Willing.
Ein Schuman-Plan für die europäische Verteidigung
Niklas
Wenn wir gerade bei Schuman sind: Integration wird nicht über Konferenzen geschaffen, sondern über das Lösen von konkreten Problemen. Aus meiner Sicht ist der Themenbereich, in dem es in den nächsten Jahren am ehesten die Bereitschaft zu Integrationsfortschritten geben wird, weniger die Klima- als die Verteidigungspolitik, weil die Bedrohung dort greifbarer ist.
Manuel
Ich denke, dass das für die EU stimmt. Aber auf globaler Ebene sind die verteidigungspolitischen Risikowahrnehmungen der verschiedenen demokratischen Länder doch recht unterschiedlich. Und wenn man sich den Globalen Süden ansieht, gibt es zum Beispiel in Afrika schon ein ziemlich konkretes Interesse an mehr Klimaschutz.
Sophie
Trotzdem ist der Punkt mit der europäischen Sicherheit richtig: Wir brauchen einen Schuman-Plan, um unsere Verteidigung zu europäisieren. Gerade sehen wir ja, dass in vielen EU-Mitgliedstaaten die Rüstungsausgaben steigen; Friedrich Merz hat gerade angekündigt, dass er die Bundeswehr zur „konventionell stärksten Armee in Europa“ machen will.
Nationale Armeen wiederaufzubauen, ohne sie supranational zu integrieren, ist gefährlich. Die Rechtsextremen sind nicht nur in den Vereinigten Staaten an der Macht, sondern auch zunehmend in Europa. Wenn also in zahlreichen Mitgliedsländern Rechtsextreme die Macht kommen, die wenig vom Frieden halten, dann haben diese Entscheidungsträger:innen mit nationalen Armeen alle Instrumente in der Hand, um ihre Nachbarn anzugreifen. Nur weil wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der EU keinen Krieg mehr hatten, heißt das nicht, dass es für immer so bleiben wird.
Niklas
Ein erster Schritt wäre zum Beispiel ein viel stärkerer Einsatz von Eurobonds für die Rüstungsbeschaffung. Das wäre gut für die militärische Zusammenarbeit und die europäische Verteidigung, würde aber auch insgesamt eine politische Vertiefung der EU mit sich ziehen.
Julian
Dann müssen wir uns aber dringend auch um den europäischen Verteidigungsbinnenmarkt kümmern. Denn solange die Mitgliedstaaten bei der Beschaffung auf ihren wirtschaftspolitischen Egoismen bestehen, wird es schwer werden, hier voranzukommen. So richtig, wichtig und sinnvoll ich Eure Vorschläge finde, so sehr habe ich die Einwände der nationalen Regierungen im Ohr, die wir überzeugt bekommen müssen.
An die neuen Bedingungen anpassen
Manuel
Kommen wir noch mal auf die Dinosaurier zurück, die bekanntlich (bis auf die Vögel) alle ausgestorben sind – auch weil sie sich nach dem Meteoriteneinschlag am Ende der Maastricht-Ära nicht an die veränderten Lebensbedingungen anpassen konnten. 🌠
Kurze Schlussrunde: Wenn die EU nicht das gleiche Schicksal ereilen soll, wie muss sie sich an die neuen weltpolitischen Bedingungen anpassen?
Niklas
Ganz allgemein: Europa muss wieder verteidigungsfähig werden. Aber es muss auch auf den Globalen Süden zugehen und Partnerschaften auf Augenhöhe entwickeln. Das heißt, es muss insgesamt eine Alternative zu dem von den USA geführten Westen der letzten Jahrzehnte herausbilden.
Julian
Wir brauchen dringend interne Reformen, die die EU nicht nur handlungsfähig (besonders in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der Wirtschafts- und Währungsunion und der Sozialpolitik) und wieder glaubwürdig (Demokratie und Rechtsstaatlichkeit), sondern auch resilient gegen Populist:innen und Extremist:innen in nationalen Regierungen machen – siehe Sophies Punkt zur Aufrüstung.
Sophie
Der Meteoriteneinschlag, durch den unsere Dinos zusammen mit vielen anderen Pflanzen und Tieren ausgestorben sind, hat eine Klimakatastrophe ausgelöst. Mein Punkt hat jetzt vielleicht weniger mit der EU zu tun – aber wenn wir auch in Zukunft noch in Europa leben möchten, dann sollten wir endlich mal die Klimakrise ernst nehmen. Auch wenn sie in der politischen Agenda gerade keine Priorität hat: Dass wir gerade einen schwierigen geopolitischen Kontext haben, heißt ja nicht, dass wir systemische Krisen einfach ausblenden können. Den Kopf in den Sand stecken wird uns sicherlich nicht weiterhelfen.
Niklas Helwig ist ein in Brüssel ansässiger Leading Researcher am Finnish Institute of International Affairs (FIIA). |
Manuel Müller ist Senior Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs (FIIA) in Helsinki und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“. |
Sophie Pornschlegel ist Director of Studies and Development bei Europe Jacques Delors in Brüssel. |
Die Beiträge geben allein die persönliche Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.
Alle Ausgaben des europapolitischen Quartetts sind hier zu finden.
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