- Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, wird in den nächsten Monaten wohl öfters mit dem Logo der SPE zu sehen sein.
Es ist
so weit: Mit Martin Schulz (SPD/SPE) steht der erste Spitzenkandidat
einer europäischen Partei für die Europawahl 2014 fest. Man darf
wohl davon ausgehen, dass er sich damit einen lang gehegten Wunsch
erfüllt hat – jedenfalls war diese Vermutung bereits vor fast zwei
Jahren in
diesem Blog zu lesen, als Schulz vom Vorsitz der
sozialdemokratischen Fraktion in das Amt des Parlamentspräsidenten
wechselte. Seitdem hat er die Zeit genutzt, um sich in der
Öffentlichkeit zu profilieren und seine zentrale Stellung unter den
europäischen Sozialdemokraten weiter auszubauen. Zuletzt war seine
Favoritenrolle so deutlich, dass sich außer ihm kein einziger
Kandidat um die Aufstellung als SPE-Spitzenmann bemühte. Nach dem
Ende der Nominierungsphase bestätigte
ihn das Parteipräsidium deshalb am heutigen Mittwoch als
„designierten Kandidaten“ der SPE für das Amt des
Kommissionspräsidenten. Die offizielle Ernennung wird auf einem
Parteitag am 1. März 2014 erfolgen; die ursprünglich
vorgesehenen parteiinternen Vorwahlen, die bis Ende Januar laufen
sollten, sind abgesagt.
Doch nicht
nur bei den Sozialdemokraten sind in den letzten Tagen
Vorentscheidungen gefallen; auch viele andere europäische Parteien
machen Fortschritte bei der Suche nach ihren Spitzenkandidaten für
die Europawahl. Hier ein Überblick über die jüngsten
Entwicklungen.
Green
Primary: Sechs KandidatInnen und ein Verfahrensstreit
Die
einzige Gruppierung, die außer der SPE bereits frühzeitig ein
konkretes
Verfahren für die Ernennung ihrer Spitzenkandidaten entwickelt
hat, ist die Europäische Grüne Partei (EGP). Und anders als bei den
Sozialdemokraten fanden sich bei den Grünen tatsächlich mehrere
Interessierte: Mit Monica Frassoni, Ulrike Lunacek, José Bové,
Ska Keller, Rebecca Harms und Jolanda Verburg reichten gleich sechs
Parteimitglieder ihre Bewerbung ein und müssen sich nun bis zu einem
Parteitag an diesem Wochenende die Unterstützung von mindestens vier
EGP-Mitgliedsparteien sichern. Unter den verbleibenden Kandidaten
beginnt dann am kommenden Sonntag die letzte und interessanteste
Phase des grünen Vorwahlverfahrens: Bis zum 28. Januar 2014 können in einer europaweiten
Online-Abstimmung alle europäischen Bürger, die
mindestens 16 Jahre alt sind und mit den Zielen der EGP
sympathisieren, ihr Votum abgeben, um die beiden grünen
Spitzenkandidaten auszuwählen.
Doch
obwohl die Grünen mit dieser „Green Primary“ eigentlich ihre
Vorreiterrolle in Sachen europäischer Demokratie feiern wollten –
das Online-Votum soll die erste gesamteuropäische Abstimmung
überhaupt werden, bei der keinerlei nationale Quotierung
stattfindet, sondern wirklich jede abgegebene Stimme gleich viel
zählt –, geriet das Verfahren auch immer wieder in
die Kritik. Zum Problem wurde dabei unter anderem, dass sich die
Wähler für die Abstimmung lediglich mit einer E-Mail-Adresse und
einer Handynummer registrieren müssen und daher Mehrfachvoten und
andere Manipulationen nicht auszuschließen sind. Am gestrigen
Dienstag kam es deshalb schließlich zum Eklat, als die
österreichischen Grünen aus „technischen und
datenschutzrechtlichen“ Gründen ihren Ausstieg
aus dem gesamten Verfahren erklärten. Auch die österreichische
Kandidatin Ulrike Lunacek zog ihre Bewerbung zurück.
Auf
dem EGP-Kongress am kommenden Wochenende dürfte es deshalb einigen
Klärungsbedarf geben. Zwar erscheint es derzeit sehr
unwahrscheinlich, dass die aufwendig vorbereitete Online-Abstimmung
noch abgesagt wird. Jedenfalls aber werden die fünf verbleibenden
Kandidaten erst einmal damit zu kämpfen haben, dass die Partei im
einsetzenden Vorwahlkampf über Abstimmungstechniken statt über
Köpfe und Inhalte diskutiert.
Alexis
Tsipras für die Europäische Linke
- Alexis Tsipras soll nach dem Plan der Europäischen Linken zur „Stimme des Widerstands und der Hoffnung gegen die ultraliberalen Politiken“ der EU werden.
Weitaus
weniger Mühe bei der Personalauswahl macht sich hingegen die
Europäische Linke (EL): Ohne große öffentliche Diskussion
beschloss deren Präsidium bei einem Treffen vor drei Wochen, dass
Alexis
Tsipras die Partei in den Europawahlkampf führen soll. Als Chef
des Linksbündnisses Syriza hatte Tsipras bei den Wahlen
zum griechischen Parlament 2012 deutliche Zugewinne erzielt und
sich – nicht zuletzt aufgrund der Befürchtungen, die die
Möglichkeit eines Syriza-Wahlsiegs damals bei
den übrigen Regierungen der Eurozone auslöste – europaweite
Bekanntheit verschafft. Allein dies dürfte ihn bereits als Zugpferd
für die Europäische Linke qualifizieren. Mitte Dezember soll seine
Kandidatur jedenfalls auf einem EL-Kongress in Madrid bestätigt
werden, und es ist nicht zu erwarten, dass sie ihm von irgendeinem
anderen Bewerber streitig gemacht wird.
Insgesamt
allerdings stößt die Idee, zur Europawahl einen Spitzenkandidaten
aufzustellen, in der Europäischen Linken auf deutlich weniger
Begeisterung als unter Sozialdemokraten und Grünen. Die
Presseerklärung,
die das Parteipräsidium zu Tsipras’ Nominierung
veröffentlichte, klang jedenfalls eher verdrießlich: Die EL, so ist
dort zu lesen, „glaubt nicht, dass diese neue Maßnahme die EU
demokratisieren wird“. Dass die Partei trotzdem einen
Spitzenkandidaten nominieren werde, liege nur daran, dass sie den
übrigen politischen Kräften nicht das „Redemonopol“ überlassen
wolle. Immerhin lässt sich jedoch festhalten, dass die Linke sich
dem neuen Verfahren nicht verweigert – und dass sie offenbar
erkannt hat, wie nützlich die Personalisierung für die öffentliche
Wahrnehmung im Europawahlkampf ist.
Nichts
Neues von ALDE und EVP
Kaum
neue Entwicklungen gibt es hingegen bei der Europäischen Volkspartei
(EVP) und der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa
(ALDE). Bei den Liberalen sind nach wie vor Fraktionschef Guy
Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) und Währungskommissar Olli Rehn
(Kesk./ALDE) im Rennen um die Spitzenkandidatur. Die wichtigsten
Weichen dafür werden vermutlich auf dem Parteikongress
vom in drei Wochen gestellt; allerdings könnten sich noch bis
Mitte Dezember weitere Interessierte erklären, ehe dann
voraussichtlich im Februar die endgültige Entscheidung fallen soll.
Bei
den Christdemokraten wiederum haben bislang Justizkommissarin Viviane
Reding (CSV/EVP) und
Binnenmarktkommissar Michel Barnier (UMP/EVP) am klarsten ihr
Interesse an einer Kandidatur zu erkennen gegeben. Allerdings hat die
EVP nach wie vor weder ein Verfahren noch einen Zeitplan für die
Nominierung beschlossen. Zudem haben in den letzten Wochen mit der
deutschen
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) und dem Ratspräsidenten
Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) gleich zwei Spitzenpolitiker der
Partei deutlich gemacht, dass ihnen eigentlich die ganze Idee,
Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten
aufzustellen, nicht gefällt. Der Europaabgeordnete Alain Lamassoure
(UMP/EVP) hingegen verteidigte
diesen Ansatz vor einigen Tagen in einem Artikel. Insgesamt
scheint die innerparteiliche Debatte zwischen Befürwortern und
Gegnern einer stärkeren Personalisierung bei der Europawahl also
gerade erst Fahrt aufzunehmen – und solange sie nicht entschieden
ist, wird es wohl auch auf die Frage, wer
als Spitzenkandidat der Christdemokraten in den Wahlkampf zieht,
keine neuen Antworten geben.
Die meisten Kandidaten entstammen supranationalen Organen
Während
die Sozialdemokraten ihre wichtigste Personalentscheidung für die
Europawahl bereits getroffen haben, wird die Diskussion in anderen
europäischen Parteien voraussichtlich noch längere Zeit andauern.
Eine Grundtendenz allerdings ist schon jetzt zu beobachten.
Betrachtet man die Herkunft der Politiker, die sich um die
Spitzenkandidaturen bewerben, so stellt man fest, dass die meisten
von ihnen den supranationalen Institutionen entstammen: Martin
Schulz, Guy Verhofstadt, Ska Keller, Rebecca Harms und José Bové
sind derzeit Mitglieder des Europäischen Parlaments; Michel Barnier,
Viviane Reding und Olli Rehn gehören der Europäischen Kommission
an. Nur Alexis Tsipras und Jolanda Verburg waren bislang
ausschließlich auf nationaler Ebene aktiv.
Diese
deutliche Überzahl von Repräsentanten der supranationalen
Institutionen unter den voraussichtlichen Spitzenkandidaten steht in
einem klaren Kontrast zu den letzten Jahrzehnten, in denen die
wichtigsten europäischen Ämter meist mit nationalen Politikern
besetzt wurden. So hatten etwa die bisherigen Präsidenten der
Europäischen Kommission seit den 1970er Jahren vor ihrem Amtsantritt
stets ein nationales Regierungsamt ausgeübt – sei es als
Finanzminister wie François-Xavier Ortoli (UDR, 1973-77), Roy
Jenkins (Lab./SPE, 1977-81) und Jacques Delors (PS/SPE, 1985-95) oder
als Regierungschef wie Gaston Thorn (DP/ALDE, 1981-85), Jacques
Santer (CSV/EVP, 1995-99), Romano Prodi (Dem./ALDE, 1999-2004) und
José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP, seit 2004).
Diesmal
hingegen haben prominente nationale Regierungspolitiker wie der
polnische
Ministerpräsident Donald Tusk (PO/EVP) oder der luxemburgische
Premier Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) bereits erklärt, für die
europäischen Spitzenämter nicht zur Verfügung zu stehen. Oder sie
haben sich wie die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning
Schmidt (S/SPE), die immer
wieder als mögliche SPE-Kandidatin genannt worden war, nie
öffentlich zu dem Thema geäußert und die Gelegenheit zur
Nominierung verstreichen lassen.
Warum
Tusk und Thorning Schmidt nicht kandidieren
Woran
liegt diese Veränderung? Mein Eindruck ist, dass es sich dabei im
Wesentlichen um eine Folge des neuen Verfahrens handelt, bei dem die
Parteien ihre Vorschläge für das Amt des Kommissionspräsidenten
bereits vor
der Europawahl benennen, statt erst hinterher hinter verschlossenen
Türen nach möglichen Kandidaten zu suchen. Für amtierende
nationale Politiker ist es stets mit einem großen Risiko verbunden,
sich im Voraus zu ihrem Interesse an einem EU-Posten zu bekennen. Zum
einen laufen sie Gefahr, dass ihnen der Wunsch, nach Brüssel zu
wechseln, in der nationalen Öffentlichkeit als Amtsmüdigkeit
ausgelegt wird. Zum anderen droht ihnen ein erheblicher Imageschaden,
wenn ihre europäische Kandidatur zuletzt erfolglos bleibt. Selbst
wenn Tusk, Juncker oder Thorning Schmidt gern Kommissionspräsident
geworden wären, hätten sie dies deshalb nur schwer gegenüber ihrer
Wählerschaft zugeben können, ohne zugleich als nationaler
Regierungschef zurückzutreten.
Für
einen Europaabgeordneten wie Martin Schulz oder ein
Kommissionsmitglied wie Michel Barnier ist es hingegen deutlich
einfacher, zu ihren Ambitionen zu stehen: Denn aus ihrer Perspektive
erscheint der Wechsel an die Spitze der Kommission lediglich als der
nächste logische Schritt in ihrem Politikerleben. Von einem
parteiinternen Vorwahlkampf haben die Angehörigen supranationaler
Institutionen deshalb weitaus weniger zu befürchten. Selbst wenn sie
ihn verlieren sollten, müsste das nicht zwingend das Ende ihrer
politischen Karriere sein.
Signal für den überstaatlichen Parlamentarismus
Sollte
sich diese Überlegung bestätigen, dann könnte die Nominierung von
Spitzenkandidaten langfristig noch weitere Folgen für das
institutionelle Gleichgewicht haben. Denn wenn die europäischen
Spitzenämter künftig öfter mit ehemaligen Europaabgeordneten als
mit nationalen Regierungsvertretern besetzt werden, dann ist zu
erwarten, dass auch ihre Entscheidungen noch stärker als bisher von
einem gesamteuropäischen Politikverständnis geprägt sind. Und
zugleich wird es natürlich für aufstrebende Europapolitiker
attraktiver, ihr Karriereglück in Brüssel oder Straßburg zu
versuchen statt in den nationalen Hauptstädten – was wiederum für
die Professionalität und Medienpräsenz der supranationalen Organe
von Vorteil sein dürfte.
Wie
ich hier vor
einer Woche geschrieben habe, nähert sich die EU mit dem neuen
Verfahren einem Modell der parlamentarischen Demokratie an, wie man
es auch auf nationaler Ebene kennt. Mit Martin Schulz könnte nun zum
ersten Mal ein Politiker Kommissionspräsident werden, der (nach
einigen Jahren als Bürgermeister einer mittelgroßen Stadt) nahezu
seine gesamte politische Laufbahn im Europäischen Parlament
verbracht hat. Wenn man in Europa politisch etwas werden will, dann
muss man dafür nicht mehr zwingend ein nationales Regierungsamt
bekleidet haben: Das ist vielleicht das deutlichste Signal
zugunsten einer überstaatlichen Parlamentarismus, welches der
Europawahlkampf 2014 bislang zu bieten hatte.
Weitere Artikel zur Europawahl in diesem Blog:
● Noch 365 Tage bis zur Europawahl 2014!
● Europawahl 2014: Wie die europäischen Parteien ihre Spitzenkandidaten wählen
● Nach der Wahl ist vor der Wahl: Zwischenstand auf dem Weg zur Europawahl 2014
● Parlamentarismus wagen: Die Spitzenkandidaten zur Europawahl schwächen den Europäischen Rat und stärken die Demokratie
● Martin Schulz, Alexis Tsipras und noch immer kein Christdemokrat: erste Vorentscheidungen im Europawahlkampf
● Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (1)
● Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (2)
● „Green Primary Debate“ in Berlin: Eindrücke aus einem transnationalen Wahlkampf
● Grüne Enttäuschungen, liberale Kompromisse – und immer noch kein Christdemokrat: Neues aus dem Europawahlkampf
● Krisenstaaten wählen links, kleine Länder liberal, und die Christdemokraten sind vor allem in der Eurozone stark: Zur Wahlgeografie der Europäischen Union
● Die AfD und ihre Partner: Wie sich die europäische Rechte nach der Europawahl verändern wird
● Juncker, Schulz – oder doch ein ganz anderer? Die Chancen im Wettstreit um die Kommissionspräsidentschaft
● Nach der Europawahl
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Bild: By Party of European Socialists [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr; GUE/NGL [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
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