- Von kollektiver Verantwortung zu einer Welt atomisierter Individuen: Roxana Mînzatus Beschäftigungs- und Sozialressort bekommt ein neues Branding.
Die Ressortverteilung der EU-Kommission ist eine hochpolitische Angelegenheit. Als das Migrationsportfolio 2019 plötzlich in „Schutz unserer europäischen Lebensweise“ umbenannt werden sollte, folgte eine Diskussion über den sich in Brüssel bemerkbar machenden Rechtsruck. Nun verschwindet der Zuständigkeitsbereich „Beschäftigung und Soziales“. Stattdessen waltet die rumänische Kommissarin Roxana Mînzatu künftig über ein Portfolio mit dem merkwürdig anmutenden Titel „Fachkräfte, Kompetenzen und Vorsorge“ (in der englischen Fassung: „People, skills and preparedness“). Erstmals werden dabei die Ressorts für Bildung und Beschäftigung unter einen politischen Hut gebracht. Was hat das zu bedeuten?
„Fachkräfte, Kompetenzen und Vorsorge“ steht sinnbildlich für ein politisches Verständnis, in dem kollektive Verantwortlichkeiten zugunsten einer Welt atomisierter Individuen aufgegeben werden, die sich das nötige Rüstzeug zulegen sollen, um permanenter Unsicherheit trotzen zu können: ein Paradigmenwechsel hin zur Individualisierung und Versicherheitlichung sozialer Probleme.
Soziales vs. „Fachkräfte“
Der erste der drei Begriffe ist in der englischen Fassung (people bedeutet wörtlich „Menschen“, „Leute“ oder „Personen“) zunächst ein Allgemeinplatz, der mit Wohlwollen interpretiert werden kann. So könnte er auf eine konzeptuelle Erweiterung hindeuten, um sich vermehrt auch den Anliegen gesellschaftlicher Gruppen zu widmen, die vorher nicht primäre Adressaten EU-sozialpolitscher Maßnahmen waren – etwa Kindern, Selbständigen oder Menschen in Armut. Das Aufkommen solch neuer Kategorien ist nicht unbedingt schlecht. Um den besonderen Herausforderungen in Arbeit und Gesellschaft gerecht zu werden, erfasst man beispielsweise alleinerziehende Mütter, Migrant:innen oder Menschen mit Behinderungen als „schutzbedürftige Personen“.
Die deutsche Fassung wird allerdings konkreter und greift erkennbar die allenthalben hitzig geführten Debatten über einen branchenübergreifenden Fachkräftemangel auf. Tatsächlich geht es in vielen sozialpolitischen Debatten inzwischen vor allem darum, eben diese Fachkräfte heranzuziehen. So wird beispielsweise der verbesserte Zugang zu frühkindlicher Bildung primär mit dem zu erwartenden wirtschaftlichen Nutzen zukünftiger Fachkräfte begründet, und auch Migrant:innen werden zunehmend anhand ihres „skill levels“ bewertet.
Die Betonung der individuellen „Fachkräfte“ geht mit einer Abkehr vom semantischen Register des Sozialen einher. Sie lässt außer Acht, dass Individuen unweigerlich in soziale Beziehungen eingebunden sind (etwa Beschäftigungsverhältnisse), dass ihre Zwänge und Möglichkeiten stark von der sozialen Schichtung abhängen und dass das Ziel von Politik neben der Lösung von Problemen auch darin besteht, den Zusammenhalt sozialer Gefüge zu stärken. Während Begriffe wie „Beschäftigte“ oder auch „Bürger:innen“ auf einen bestimmten institutionellen und strukturellen Rahmen verweisen (den Arbeitsmarkt bzw. das öffentliche Leben in einer Demokratie) fehlt dieser bei „Fachkräfte“. Gerade in der englischen Fassung grenzt die Unbestimmtheit des Begriffs ans Absurde: Arbeiten die anderen Kommissar:innen denn etwa nicht für the people?
Beschäftigung vs. „Kompetenzen“
„Beschäftigung“ war seit Jahrzehnten das Kernkonzept, mit dem das Ressort benannt wurde. Es definiert einen klaren Handlungsraum und damit auch einen Auftrag an das politische Personal: Basierend auf den Rechten und Pflichten, die in sozialen Prozessen ausgehandelt werden, soll die Wirtschaft Menschen in einer Art und Weise „beschäftigen“, die sowohl Wohlstand generiert als auch soziale Sicherheit schafft. In diesem Sinne steht das Beschäftigungsverhältnis an der Schnittstelle zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen.
Den primären Fokus auf „Kompetenzen“ („skills“) zu legen, verschiebt dieses Verhältnis deutlich in Richtung individueller Eigenverantwortung und damit in Richtung Arbeitnehmer:innen: „Wer einen guten Job will, muss sich eben die vom Markt gewünschten Eigenschaften zulegen!“ So werden nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch mangelhafte Arbeitsbedingungen von einem strukturellen zu einem persönlichen Problem.
Dieser Fokus auf Kompetenzen ist keinesfalls neu. Kompetenzen galten als zentrales Mittel zur Überwindung der Finanz- und Staatsschuldenkrise. Marianne Thyssen, eine von sehr wenigen konservativen Politiker:innen an der Spitze des Beschäftigungsressorts, führte 2014 ebenfalls schon „skills“ im Titel ihres Ressorts (im Deutschen damals noch „Qualifikationen“). Seitdem ist der Diskurs – auch im Kontext des oben genannten Fachkräftemangels – omnipräsent, aber zugleich auch umstrittener geworden. In Reaktion auf die Entscheidung der Europäischen Kommission, 2023 zum „Jahr der Kompetenzen“ zu erklären, wiesen Gewerkschaften darauf hin, dass eher ein Mangel guter Arbeitsplätze als ein Mangel an „Kompetenzen“ vorliege.
Sozialpolitik vs. „Vorsorge“
Der wohl überraschendste Neuzugang in der europäischen Sozialpolitik liegt im Begriff der „Vorsorge“ – im Englischen „preparedness“, was auch mit „Bereitschaft“ oder „Vorbereitetsein“ übersetzt werden könnte. Eigentlich wird mit diesen Begriffen eher die Fähigkeit einer Gesellschaft beschrieben, Risiken zu antizipieren und unerwarteten Schocks zu begegnen. Neben Naturkatastrophen werden zum Beispiel auch Epidemien als Bedrohungen angesehen, die eine ständige Vorsorge rechtfertigen. Zugleich gibt es einen mehr oder weniger direkten sprachlichen Bezug zur Kriegsführung: In den Vereinigten Staaten trat das preparedness movement für eine Verstärkung der Armee nach dem Ersten Weltkrieg ein.
In der Politikwissenschaft bezeichnet man solche Prozesse als „Versicherheitlichung“ (securitization): Es wird insinuiert, soziale Probleme ähnelten in Ursache und Wirkung Sicherheitsproblemen. Dies steht in krassem Widerspruch zu einem Verständnis sozialpolitischer Fragen als Folge der ungleichen Verteilung von Ressourcen, als Ergebnis kollektiver Entscheidungen, die in weitgehend historisch gewachsenen sozialen Dynamiken verankert sind. Stattdessen werden soziale Probleme zu einer Frage des Krisenmanagements, der Fähigkeit, auf „externe“ Schocks zu reagieren.
Der Modus des Krisenmanagements scheint also auf die Sozialpolitik übergeschwappt zu sein. Im Zuge der Finanz- und Staatsschuldenkrise, den insbesondere ab 2015 zunehmenden Migrationsbewegungen, des Brexit und schließlich der Pandemie erprobt und verfeinert, prägt die Idee des Krisenmanagements seit rund 15 Jahren die großen europapolitischen Entscheidungen. In Zeiten der Krise wird Not zum Gesetz und ermöglicht sowohl willkommene institutionelle Neuerungen als auch demokratisch fragwürdige Maßnahmen.
Individuelle Eigenverantwortung ist nicht genug
Aber wie effektiv, legitim und nachhaltig sind die politischen Entscheidungen, die aus dem Krisenmanagement hervorgehen? Die europäische Reaktion auf die Covid-19-Pandemie ist ein gutes Beispiel für die Widersprüche der „Vorsorge“. Keines der neuen Instrumente der EU (die gemeinsame Impfstoffbeschaffung, das Kurzarbeit-Instrument SURE oder das Konjunkturpaket Next Generation EU) hat die tiefgreifenden Probleme europäischer Gesundheitssysteme – die chronische Unterfinanzierung, die sozialen und territorialen Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und den Fachkräftemangel – ernsthaft gelöst. Wenn morgen eine neue Pandemie ausbrechen würde, wie viele Länder der Europäischen Union hätten dann gut „vorgesorgt“?
In einer von Klimakrise und Konflikten geprägten Welt muss die Europäische Union auf institutionalisierte und nachhaltige Antworten auf strukturelle Veränderungen hinarbeiten. Dafür muss sie sich auch der schwierigen Frage der Umverteilung und der eigentlichen Bedeutung von Wohlstand stellen. Panik zu schüren, Probleme auf die Eigenverantwortung der Individuen abzuwälzen und sich mit kurzfristigen Lösungen zu begnügen, dürfte sich hingegen als ebenso wirkungslos wie gefährlich erweisen.
Amandine Crespy ist Professorin für Politikwissenschaft und Europastudien an der Université Libre de Bruxelles und Gastprofessorin am Europakolleg in Brügge. |
Bastian Kenn ist Doktorand an der Université Libre de Bruxelles und forscht zur europäischen Sozialpolitik. |
Dieser Artikel ist die leicht bearbeitete Fassung eines Texts, der zuerst auf Englisch bei Social Europe erschienen ist. |
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