- Alfred Nobel war für die „Brüderschaft zwischen den Völkern“. Aber ist die EU nicht längst eine Union von Bürgern?
Als vor drei Jahren der
US-amerikanische Präsident Barack Obama den Friedensnobelpreis
erhielt, da fehlte es nicht an Spott für die Wahl des norwegischen
Nobelkomitees: Obama war erst wenige Monate zuvor ins Amt gekommen
und hatte deshalb außenpolitisch noch kaum etwas bewirken können –
mit Ausnahme einiger beeindruckender Reden, die allerdings für sich
allein bereits als Zeichen für eine Abkehr vom militanten Unilateralismus der
Bush-Jahre und als Bekenntnis zu den Werten der Vereinten Nationen und zu einer besseren globalen
Zusammenarbeit gesehen wurden. Für Obama selbst war die
Auszeichnung allerdings wohl eher eine Last als eine Freude, da sie
die Erwartungen an ihn nahezu unerfüllbar hoch setzte. Und natürlich
verlor er dadurch von vornherein die Chance, die
Ehrung vielleicht eines Tages nach seiner
Präsidentschaft noch einmal zu erhalten: und dann für wirkliche,
nicht nur rhetorische Verdienste.
Bei
der diesjährigen Preisverleihung wollte das Nobelkomitee offenbar
nicht noch einmal den Fehler begehen, einen Kandidaten zu früh zu
belohnen. Stattdessen tat sie das genaue Gegenteil
und entschied sich für die Europäische Union. Diese habe, so die offizielle Begründung, „seit über sechs Jahrzehnten zur
Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und
Menschenrechten in Europa beigetragen“. Wenn das mal nicht ein
Lebenswerk ist. Herzlichen Glückwunsch uns allen!
Veraltetes Narrativ
Aber
bei aller Freude: Der Preis kommt ein paar Jahrzehnte zu spät. Wie
ich bereits vor einigen Wochen geschrieben habe, ist das Narrativ von der Europäischen Union als Friedensstifter inzwischen eigentlich veraltet. Sicher, die Europäischen
Gemeinschaften spielten in den fünfziger Jahren eine zentrale Rolle, als es
darum ging, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Vertrauen zwischen
Deutschland und seinen westlichen Nachbarn zu schaffen. Und auch die
Demokratisierungsprozesse in Südeuropa während der 1970er und in
Osteuropa während der 1990er Jahre wurden stark dadurch befördert,
dass die Länder während des politischen Übergangs eine
Beitrittsperspektive hatten. Zu Recht verweist das Nobelkomitee auf
diese historischen Leistungen der europäischen Integration (und der
Menschen, die sich in der täglichen politischen Auseinandersetzung
für sie einsetzten, denn von selbst wäre es natürlich nicht dazu
gekommen).
Aber
die Erfolge bei der Befriedung Europas führten eben auch dazu, dass
sich die politische Kultur auf dem Kontinent gewandelt hat – und
ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich würde auch dann
undenkbar bleiben, wenn die EU morgen zu existieren aufhören würde.
Lediglich auf dem Westbalkan und in geringerem Ausmaß in
Weißrussland, der Ukraine und dem Kaukasus zeigt sich, dass die alten Triebfedern
noch wirksam sind und die europäische Integration zur
Demokratisierung und zur Aussöhnung zwischen verfeindeten nationalen
Gruppen beitragen kann. Doch schon der arabische Frühling im
vergangenen Jahr war nicht maßgeblich von der EU beeinflusst. Zwar
mag die europäische Nachbarschaftspolitik auch in den
nordafrikanischen Staaten einen Beitrag zum wirtschaftlichen
Fortschritt und zur Entstehung einer demokratisch orientierten
liberalen Mittelschicht geleistet haben, aber in der Öffentlichkeit
jener Länder spielt die EU mangels einer Beitrittsperspektive nur
eine untergeordnete Rolle.
Die
EU ist mehr als ein Friedensprojekt
Das
Friedensnarrativ ist aber nicht nur deshalb veraltet, weil es auf dem
europäischen Kontinent inzwischen keine Kriege mehr gibt. Vielmehr
ist auch die EU in ihrer heutigen Form längst über dieses
ursprüngliche Ziel hinausgewachsen. Sie ist heute weniger ein
Projekt zur Aussöhnung unter ihren
Mitgliedstaaten, sondern ein politisches System aus eigener Kraft und
mit einer eigenen demokratischen Legitimität. Ihre Basis ist nicht
nur der Frieden zwischen den Völkern, sondern die demokratische Selbstbestimmung der
Unionsbürger, die in gemeinsam gewählten Organen kollektive
Entscheidungen über ihre gemeinsamen Angelegenheiten treffen. Dass
diese Form des freiheitlich-demokratischen Zusammenlebens auch
interne Kriege verhindert, versteht sich nahezu von selbst. Aber
wollte man etwa der Bundesrepublik Deutschland einen
Friedensnobelpreis verleihen, nur weil die Existenz eines deutschen
Bundesstaats die Kriege unmöglich gemacht hat, die es im 17. und 18. Jahrhundert
zwischen den einzelnen deutschen Fürstentümern gab?
Mehr
noch: Man könnte einwenden, dass die EU ihren Friedensnobelpreis
genau in einer Phase der politischen Krise erhält, in der eben jene
demokratischen Grundlagen gefährdet sind. Im Verfassungsblog
schrieb Max Steinbeis kürzlich über die These des
Politikwissenschaftlers Dieter Kerwer, dem zufolge sich die EU
zunehmend zu einem imperialen Gebilde entwickelt, in dem das reiche
Zentrum Herrschaft über die verschuldete Peripherie ausübt (und
etwas Ähnliches war vor einem Jahr auch mal in diesem Blog zu lesen). Tatsächlich verweist das Nobelkomitee
sogar ausdrücklich auf die „schweren wirtschaftlichen
Schwierigkeiten und beträchtliche soziale Unruhe“, die die EU
derzeit durchmacht. In diesem Sinne lässt dich der Preis bestenfalls
als Ansporn verstehen, die in der Vergangenheit erbrachten Leistungen
bei der Demokratisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen in
Europa nicht scheinbaren nationalen Wirtschaftsinteressen zu opfern, die sich
bei näherer Betrachtung meist ohnehin auch noch als trügerisch
erweisen.
Unvollendete
Friedenspläne
Ansonsten
aber sei das Nobelkomitee für seine Anerkennung der historischen
Bedeutung der europäischen Integration herzlich bedankt – und
zugleich gebeten, sich in Zukunft vielleicht doch wieder auf
Friedenspläne zu konzentrieren, die noch nicht vollendet sind. Es
gibt von Südamerika über Afrika bis Asien eine ganze Reihe von
regionalen Integrationsprojekten, die sich am Vorbild der
Europäischen Union orientieren, und es gibt das World Federalist
Movement, das sich für eine Übertragung der Prinzipien
supranationaler Demokratie auf die globale Ebene einsetzt. Wenn das
Nobelkomitee zu der Einsicht gelangt ist, dass dies eine sinnvolle
Methode ist, um den Frieden zu fördern, dann würden sich dort mit Sicherheit einige
Preiskandidaten finden lassen, die mit der Auszeichnung mehr anfangen könnten als
die heutige Europäische Union.
Bild: See page for author [Public domain], via Wikimedia Commons.
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