Die Wohltätigkeit soll nur die Spalten der Gerechtigkeit füllen,
aber nicht die Abgründe der Ungerechtigkeit.
Miguel
Delibes, Fünf Stunden mit Mario
Wenn gegen Ende der
Adventszeit auf den Weihnachtsmärkten die Lichter glänzen und es
einem nach dem zweiten Becher Glühwein ganz warm ums Herz wird, dann
möchte man die ganze Menschheit lieb haben und denkt sich, wie schön
es doch wäre, wenn es auch all den Notleidenden in der Welt ein
wenig besser ginge. Gibt man dann bei Google den Suchbegriff
„Weihnachtsspende“
ein, kommt man derzeit auf um die 100.000 Treffer. Ganz
offensichtlich ist es uns wichtig, kurz vor dem Jahreswechsel noch
einmal ein guter Mensch zu sein – und so überbieten sich die
diversen Charity-Organisationen in dieser Zeit damit, uns durch
Spendenaktionen die Erleichterung des Gewissens zu vereinfachen.
Einer Studie des Deutschen Spendenrats zufolge wird im Dezember rund dreimal
so viel gespendet wie im Durchschnitt aller übrigen Monate: 2011 zum
Beispiel umfasste der deutsche Spendenmarkt insgesamt knapp 4,5
Milliarden Euro, von denen etwa eine Milliarde in den letzten Wochen
vor Jahresende umgesetzt wurde.
Nun ist das mit dem
Spenden sicher eine wunderschöne und für den Spender ungemein
befriedigende Sache. Es geht ganz einfach, man tut etwas Gutes, und
man kann auch noch selbst bestimmen, für welche Zwecke das Geld
verwendet wird. Aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive fällt
das Bild indessen nicht ganz so rosig aus. Und damit meine ich noch
nicht einmal, dass eine Menge Spendengelder für sinnlose Projekte in
den Sand gesetzt werden oder in dunklen Kanälen versickern.
Problematisch ist schon die Art, wie wir überhaupt unsere
Spendenentscheidungen treffen.
Wir spenden nur denen,
die wir sehen
Denn wenn wir Geld für
einen guten Zweck zu verschenken haben, wem geben wir es am liebsten?
Natürlich einer Organisation, die wir kennen, der wir vertrauen und
mit der wir etwas Positives assoziieren. Und wer ist darauf
spezialisiert, Organisationen bekannt zu machen, Vertrauen zu stiften
und positive Assoziationen zu wecken? Natürlich die
Marketing-Branche. Um optimal von der großen Weihnachtsspenderei zu
profitieren, sollte ein gemeinnütziger Verein also möglichst über
die nötigen Finanzmittel verfügen, um Werbeplakate an Bahnhöfen und Bushaltestellen aufzuhängen – oder noch
besser über die nötigen Beziehungen, um zu den Begünstigten von
ZDF-Spendengalas
und Sternsinger-Aktionen,
oder wenigstens von einem lokalen Sparkassen-Charity-Event zu gehören.
Außerdem sind,
insbesondere wenn es um Katastrophen geht, Telegenität und Timing
wichtig: Unvergessen ist die Solidarität, die den Opfern des
spektakulären Tsunamis vom 26. Dezember 2004 zuteil wurde (bis Ärzte
ohne Grenzen öffentlich
erklärte, man möge doch bitte von weiteren zweckgebundenen Spenden absehen), und auch das Erdbeben
in Haiti am 12. Januar 2010 führte zu einem deutlichen Anstieg des
Spendenaufkommens. Die Opfer der ostafrikanischen Hungersnot im
Sommer 2011 hingegen hatten das Pech, dass ihr Unglück nur wenige
fernsehträchtige Bilder produzierte und außerdem mitten in die
europäische Ferienzeit fiel. Unsere Spenden kommen also nicht
unbedingt bei denjenigen an, die sie am dringendsten nötig haben –
sondern bei denen, deren Leid uns zufällig ins Auge fällt, wenn wir
gerade zum Geldgeben aufgelegt sind. Und während jeder Einzelne meint,
eine gute Tat zu vollbringen, schaffen wir gemeinsam vielleicht eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Der Sozialstaat
Nun sind diese
Überlegungen natürlich nichts Neues; und wenn man einen Blick
darauf wirft, wie sich die Institutionen menschlicher Solidarität
historisch entwickelt haben, kann man klar den Versuch erkennen, den
Problemen ungelenkter Mildtätigkeit abzuhelfen. Von entscheidender
Bedeutung war dabei die Entstehung des Sozialstaats. Anders als die klassische Barmherzigkeit finanziert er sich nicht aus unzuverlässig
fließenden Almosen, sondern aus einer allgemeinen Steuer, und er
teilt seine finanzielle Hilfen auch nicht willkürlich dem
Nächstbesten zu, sondern folgt dabei einem demokratisch
beschlossenen Katalog von Bedürftigkeitskriterien. Für die
Betroffenen ist diese Veränderung ohne Zweifel von Vorteil: Wer
einen schweren Arbeitsunfall hatte, kann nun eine staatliche
Invalidenrente beantragen, statt seine verstümmelten Beine beim
Betteln auf der Straße zu präsentieren. Und Maßnahmen wie die
staatliche Arbeitslosenhilfe sind auch für die Volkswirtschaft
insgesamt von Nutzen, wirken sie doch als automatischer Stabilisator
bei konjunkturellen Schwankungen.
Diese Rationalisierung
der menschlichen Solidarität durch den Sozialstaat brachte also
viele Gewinner hervor. Die Einzigen, für die sie von Nachteil war,
sind die großherzigen Spender: Unbestreitbar macht es sehr viel
weniger Vergnügen, im Mai die jährliche Steuererklärung auszufüllen, als im Dezember nach eigenem Gutdünken Geldgeschenke zu
verteilen. Aber bekanntlich ist Geben ohnehin seliger als Nehmen, und
so scheint es mir durchaus gerecht zu sein, wenn im Solidarsystem die
Bedürfnisse der Schwachen ein wenig mehr zählen als der Narzissmus
der Starken. Weihnachtliches Spenden ist eine schöne Sache, aber es
ist doch überaus beruhigend zu wissen, dass es sich dabei zu einem großen
Teil nur noch um Folklore handelt, da für die elementare
Grundversorgung der Bedürftigsten inzwischen der Staat sorgt.
Transnationale
Solidarität
Aber wie das eben so ist
mit „dem Staat“: Sobald er an nationale Grenzen stößt, ist es
schnell vorbei mit der Solidarität. Schon innerhalb der
Landesgrenzen haben es Menschen mit der falschen Staatsangehörigkeit
oft schwer, in den Genuss staatlicher Leistungen zu gelangen. Noch
drastischer aber werden die Unterschiede, wenn es um transnationale
Hilfen geht: Ein echtes überstaatliches Sozialsystem gibt es bis
heute nirgendwo auf der Welt, und während beispielsweise innerhalb
Deutschlands mehr als ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts durch Sozialleistungen umverteilt wird, beschränken sich die Transfers zwischen den
reichen und armen Ländern in Europa auf einen Bruchteil des einen Prozents des BIP, das den Haushalt der EU ausmacht. Und wenn wir
uns nun gar erst jenen Teil der Welt ansehen, wo die wirklich
Bedürftigen leben …
Um es kurz zu machen:
Bereits im April dieses Jahres warnte die OECD vor massiven Kürzungen in der Entwicklungshilfe der europäischen Staaten.
Insbesondere die südeuropäischen Länder, die im Zuge der Eurokrise
zu scharfen Sparmaßnahmen gedrängt wurden, setzten hier den Rotstift an: Griechenland und Spanien etwa strichen ihre Entwicklungsausgaben um
mehr als ein Drittel zusammen. Deutschland, das im Vorjahr noch zu
den wenigen Euro-Ländern gezählt hatte, die ihre auswärtige Hilfe erhöhten, zog dann im November nach und kürzte den Etat des Entwicklungsministeriums ebenfalls deutlich. Von dem
1970 im Rahmen der Vereinten Nationen vereinbarten und seitdem häufig
bekräftigten Ziel, die Entwicklungshilfe aller Industrieländer auf
0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zu steigern, ist in der
Realität kaum etwas übrig geblieben – Deutschland jedenfalls
liegt derzeit gerade einmal bei der Hälfte dieses Werts.
Wohin diese Knausrigkeit
führt, lässt sich beispielsweise an einem kürzlich
veröffentlichten Bericht der Weltgesundheitsorganisation ablesen.
Die UN-Gesundheitsbehörde warnte darin, der Kampf gegen Malaria –
eines der 2001 feierlich beschlossenen
„Millenniums-Entwicklungsziele“ – drohe daran zu scheitern,
dass die nötigen Finanzmittel für den Kauf von Moskitonetzen fehlen.
Aber bevor nun jemand fragt, wo man denn für Moskitonetze spenden
kann (natürlich kann man das: hier zum Beispiel), sollten wir vielleicht kurz innehalten und uns
auch ein paar Gedanken über die strukturellen Probleme machen, die
dieser Not zugrunde liegen. Es ist das Fehlen eines übernationalen Steuer- und Solidarsystems, das dazu führt, dass Mittel für globale Sozialpolitik bis heute so knapp und ungerecht verteilt sind, wie sie es vor hundertfünfzig Jahren auch auf einzelstaatlicher Ebene noch waren.
Eine Steuer für die
Vereinten Nationen?
Wenn gegen Ende der
Adventszeit auf den Weihnachtsmärkten die Lichter glänzen und mir
ganz warm ums Herz wird, dann stelle ich mir
deshalb gerne vor, wie es wäre, in einem globalen Sozialstaat zu leben. Wäre
es nicht gerecht, wenn wir angesichts weltumspannender Märkte auch
ein weltumspannendes Solidarsystem besäßen? Wäre es nicht
vernünftig, wenn die Bekämpfung der Malaria in Afrika nicht davon
abhängig wäre, ob in Europa gerade Austeritätspolitik in Mode ist?
Und wäre es nicht demokratisch, wenn über die Frage, wie hoch die
globale Umverteilung sein und wer davon profitieren soll, nach einem
von allen gemeinsam beschlossenen Kriterienkatalog entschieden würde
statt nach der Willkür der reichen Geber? Kurz gesagt: Wäre es nicht
sinnvoll, wenn außer den einzelnen Nationalstaaten auch die
Vereinten Nationen eine eigene Steuer erheben könnten, um aus den
daraus entstandenen Einnahmen ein Sozialsystem zu finanzieren, das
allen Menschen die Sicherung eines Existenzminimums garantiert?
Nun sehe ich selbst, dass
dieser Wunsch noch weit von seiner Erfüllung entfernt ist. Der Grund
dafür sind zunächst institutionelle Egoismen der
nationalstaatlichen Organe: Selbst in Europa weigern sich die Regierungen der Mitgliedstaaten bislang, der EU ein
eigenes Besteuerungsrecht zuzugestehen. Bei den Vereinten Nationen
kommt noch hinzu, dass diese nicht einmal demokratisch organisiert
sind, was immerhin ein guter Grund dafür ist, ihnen fürs Erste
nicht allzu viel fiskalische Macht in die Hand zu legen. Die logische
Konsequenz daraus kann in meinen Augen aber nicht sein, vom Ziel
eines steuerfinanzierten globalen Sozialstaats abzurücken –
sondern vielmehr, uns erst recht für die Überwindung nationaler
Selbstherrlichkeit und für eine Demokratisierung der UN einzusetzen.
So weit der Weg noch ist: Mir scheint, dass wir ihn gehen müssen,
wenn wir eines Tages in einer Welt leben wollen, in der sich Solidarität
nicht nur auf Umverteilung innerhalb der zufälligen Grenzen des
Nationalstaats und ein paar Almosen für den Rest beschränkt,
sondern jeden Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Geburt als
Gleichen behandelt.
Und in der Zwischenzeit
müssen wir eben weiterspenden.
Bild: Raja Ravi Varma [Public domain], via Wikimedia Commons.
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