- Prominente hinter ein Millenniumsziele-Plakat zu bringen ist nicht besonders schwer. Aber was hat eigentlich der Rest der Weltbevölkerung dazu zu sagen?
Erinnern sie sich noch an
die UN-Millenniumserklärung? Am 8. September 2000, wenige Monate vor
dem Jahrtausendwechsel, verabschiedete die Generalversammlung der
Vereinten Nationen eine Deklaration,
in der sich die Mitgliedstaaten zu einer Reihe von gemeinsamen Werten
bekannten – vor allem die Wahrung des Friedens, die Beseitigung der
Armut, den Schutz der Natur und die Förderung von Menschenrechten
und Demokratie. In den folgenden Monaten entwickelte eine
Arbeitsgruppe daraus acht konkrete Ziele, die sogenannten
Millenniums-Entwicklungsziele.
Für ihre Verwirklichung setzten sich die Vereinten Nationen eine
Frist von fünfzehn Jahren. Ende 2015 wird sie ablaufen. Und dann?
Eine globale Sozial-,
Umwelt- und Gesellschaftspolitik
Die Verabschiedung der
Millenniumserklärung war geprägt vom Globalisierungsoptimismus der
1990 Jahre. Kofi Annan stand kurz vor seiner Wiederwahl als
UN-Generalsekretär, in den USA regierte noch Bill Clinton, in der EU
rechneten die Banken seit kurzer Zeit in Euro, der 11. September galt
den meisten Menschen als ein beliebiger Kalendertag, und in
deutschsprachigen Büchern erreichte die Verbreitung des (in den
sechziger Jahren geprägten) Begriffs „Weltinnenpolitik“ ein
Allzeithoch. In dieser Atmosphäre fielen die Millenniumsziele
ambitionierter aus, als es vergleichbare Beschlüsse der UN in
früheren Jahrzehnten – die sogenannten Entwicklungsdekaden
– gewesen waren.
Zum einen umfassen die
Millenniumsziele deutlich mehr Bereiche, als dies früher üblich
gewesen war: Während sich die „Entwicklungsdekaden“ vor allem
auf das Wirtschaftswachstum konzentriert hatten, betreffen die
Vorgaben nun Ziele wie die allgemeine Grundschulbildung, die
Gleichstellung der Geschlechter, die Bekämpfung bestimmter
Krankheiten und die ökologische Nachhaltigkeit. Die Millenniumsziele
bilden damit den Kern einer globalen sozial-, umwelt- und sogar
gesellschaftspolitischen Agenda.
Zum anderen – und noch
wichtiger – legen die Millenniumsziele sehr großen Stellenwert
auf Messbarkeit. Jedes der acht Ziele ist in konkrete Vorgaben
untergliedert, für die jeweils ein oder mehrere statistische
Indikatoren festgelegt wurden. Diese Indikatoren reichen von der
„Analphabetenquote bei den 15- bis 24-Jährigen“ über den
„Anteil der Waldflächen“ bis zum „Sitzanteil der Frauen im
nationalen Parlament“ (hier ein Gesamtüberblick).
Die Auswertung erfolgt durch
die UN-Statistikdivision UNSD.
Politische Steuerung
durch Statistik
Diese Vielzahl an
spezifischen Indikatoren sind ein Versuch, die größte
Schwäche der Vereinten Nationen zu kompensieren: ihre fehlende
Durchgriffsmacht auf die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten. Denn
obwohl sich alle Länder in der Millenniumserklärung feierlich auf
die gemeinsamen Ziele verpflichtet haben, bleibt die Umsetzung
natürlich den nationalen Regierungen überlassen – die sich gern
auch einmal auf das Argument der nationalen Souveränität
zurückziehen, wenn ihre eigene politische Agenda sich nicht mit der
der Vereinten Nationen deckt.
Durch die statistischen
Indikatoren werden aber nicht nur Fälle sichtbar gemacht, in denen
nationale Regierungen die Umsetzung der Millenniumsziele direkt
verweigern. Vielmehr geben die Indikatoren subtil auch konkrete Wege
vor, wie die Hauptziele erfüllt werden sollen: etwa indem die
Erfolge beim Kampf gegen Aids und Malaria unter anderem daran
gemessen werden, wie viele Menschen Kondome benutzen und unter
Moskitonetzen schlafen.
Und natürlich wirkt sich
auch die Festlegung von statistischen Grenzen darauf aus, wie die
Staaten ihre Prioritäten bei der Zielumsetzung legen. Indem zum
Beispiel im Kampf gegen Armut und Hunger der „Anteil der
Bevölkerung mit unter 1,25 Dollar pro Tag“ oder der „Anteil der
untergewichtigen Kinder unter fünf Jahren“ als Indikatoren
herangezogen werden, werden diese Zielgruppen bevorzugt
herausgehoben. Die Menschen mit nur 1,50 Dollar pro Tag oder das
Gewicht der Sechs- und Siebenjährigen sind den Statistikern der
Vereinten Nationen hingegen vergleichsweise wenig wichtig. Wenn ein
Mitgliedstaat bei der Auswertung der Millenniumsziele gut dastehen
möchte, so hat er einen klaren Anreiz, diese Schwerpunktsetzung auch
in seiner nationalen Politik zu übernehmen.
Kritik und
Politisierung
Auch ohne über harte
gesetzgeberische Kompetenzen zu verfügen, üben die Vereinten
Nationen also einen beträchtlichen politischen Einfluss aus; und so
kann es nicht überraschen, dass auch die Millenniumsziele und ihre
Indikatoren (insbesondere die Armutsdefinition) immer
wieder in die Kritik gerieten. Kritik ist aber natürlich nur ein
Kennzeichen von Politisierung – bei den Vereinten Nationen ebenso
wie auf
Ebene der EU.
Entscheidend ist, was man
daraus macht: Die Millenniumsziele wurden 2000/2001 vor allem von
einer Arbeitsgruppe mit Experten der UN, der Weltbank, des
Internationalen Währungsfonds und der OECD erarbeitet; eine
Beteiligung der globalen Zivilgesellschaft gab es praktisch nicht.
Erst nachdem die Ziele bereits beschlossen waren, riefen die UN eine
Kampagne ins Leben, um sie auch in der breiten Bevölkerung
populär zu machen. Aber die Millenniumsziele laufen ja, wie gesagt,
ohnehin 2015 aus – und die Vorbereitung einer Nachfolge-Agenda
läuft bereits seit einiger Zeit auf
Hochtouren.
Post-2015-Agenda und
Nachhaltige Entwicklungsziele
Der eine Motor dieser
neuen Pläne ist das UN-Generalsekretariat. Bereits 2011 gründete
Ban Ki-Moon ein „UN
System Task Team on the Post-2015 UN Development Agenda“, um
eine gemeinsame Linie der zahlreichen einzelnen Programme, Agenturen
und Sonderorganisationen der UN zu entwickeln. 2012 folgte die
Ernennung der aus Nigeria stammenden Politikberaterin Amina
J. Mohammed als „Special Advisor on Post-2015 Development
Planning“. Außerdem setzte Ban ein (vor allem aus amtierenden oder
ehemaligen nationalen Politikern sowie einigen hochrangigen Beamten,
Wirtschaftsvertretern und Politaktivisten bestehendes) 27-köpfiges
„High
Level Panel of Eminent Persons“ ein, das 2013 seinen Abschlussbericht
vorlegte.
Auf der anderen Seite
blieben auch die UN-Mitgliedstaaten nicht untätig: Auf der
UN-Konferenz
über nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro beschlossen diese
2012 die Einsetzung einer zwischenstaatlichen „Open
Working Group“, die im Auftrag der UN-Generalversammlung Ziele
zur nachhaltigen Entwicklung (bekannter als „Sustainable
Development Goals“ oder SDGs) ausarbeitete. Diese Offene
Arbeitsgruppe bestand aus 30 Sitzen, die nach einem speziellen
Verfahren zwischen den UN-Mitgliedern rotierten; einen davon teilten
sich Deutschland, Frankreich und die Schweiz. Im Juli 2014
veröffentlichte sie einen Abschlussvorschlag
mit 17 Einzelzielen.
Diese unterschiedlichen
Stränge (zu denen noch mehrere weitere weniger prominente
zwischenstaatliche und UN-interne Komitees hinzukamen) wurden in
einem „Synthese-Bericht“
zusammengefasst, den Ban Ki-Moon im Dezember 2014 der
UN-Generalversammlung vorlegte. Er bildet den Startschuss für die
Schlussphase der Verhandlungen, die im kommenden September in New
York mit einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der
Mitgliedstaaten enden sollen.
Zu komplex, um
transparent zu sein
Angesichts all dieser
Berichte, Vorschläge und Stellungnahmen kann man sicher nicht
behaupten, die Post-2015-Ziele seien nicht ausführlich diskutiert
worden. Wer sich dafür interessiert, wird auf etlichen
Internetseiten der Vereinten Nationen und ihrer Mitgliedstaaten
Informationen und Texte finden. Andererseits: Kann man bei einem so
barocken Beschlusssystem tatsächlich noch von Transparenz sprechen?
Das Task Team, das High
Level Panel und die Open Working Group arbeiteten im Wesentlichen
parallel nebeneinander her – und bis zu dem Synthese-Bericht fehlte
jede klare Perspektive, wie ihre Ergebnisse zuletzt zu einem
kohärenten Entwurf zusammengeführt werden könnten. Allein das
Verfahren zu verstehen wird jeden Nicht-Experten einige Zeit und
Aufwand kosten. Und von der Frage, wo die inhaltlichen Schwerpunkte
der Post-2015-Agenda liegen sollen, ist da noch gar keine Rede. Wenn
den meisten Medien schon die EU zu
kompliziert für eine regelmäßige Berichterstattung ist, dann
braucht man sich über ihr Desinteresse an den UN nicht zu wundern.
Und die
Zivilgesellschaft?
Und wie steht es um die
Einbeziehung der Zivilgesellschaft? Vor allem das
UN-Generalsekretariat hatte sich vorgenommen, schon bei der
Ausarbeitung der Post-2015-Agenda stärker auf die
zivilgesellschaftlichen Akteure zuzugehen als bei den
Millenniumszielen – sei es, um auf deren Expertise zurückzugreifen,
sei es, um nachträglicher Kritik vorzubeugen.
Die UN
Development Group (die mit Entwicklungsfragen befasste
Unterabteilung im zentralen UN-Koordinationsgremium UNSCEB) führte
deshalb seit 2012 insgesamt 88
nationale und 11 thematische Konsultationen durch, in denen sich
Vertreter der Zivilgesellschaft zu den möglichen Themenfeldern der
neuen Entwicklungsziele äußern konnten. Als Ergänzung dazu gibt es
die Website worldwewant2015.org,
die nicht nur Einblicke in den bisherigen Konsultationsprozess
bietet, sondern auch eine Online-Beteiligung interessierter
Internetnutzer ermöglichen soll.
Die „My
World“-Umfrage
Und für alle, die es
gern noch einfacher haben, gibt es schließlich noch die Umfrage My
World 2015, ebenfalls von
den UN organisiert. Man kann darin online in einem
Multiple-Choice-Formular abstimmen, welche von 16 möglichen Zielen
der Post-2015-Agenda für einen selbst die wichtigsten sind (von
„politischen Freiheiten“ über „Gleichstellung von Mann und
Frau“, „gute Bildung“, „bessere Jobmöglichkeiten“ bis zu
„Telefon- und Internetanschluss“). Und wer will, kann sich seine
Auswahl dann auch gleich noch zu einem hübschen Werbevideo
zusammenstellen lassen.
Methodisch ist diese
Umfrage freilich komplett unseriös, was schon damit beginnt, dass es
keinen Mechanismus gibt, der Mehrfachabstimmungen verhindert. Wenn
man sich die Daten etwas
genauer ansieht, stellt man zudem fest, dass von den bisher
abgegebenen Stimmen – immerhin gut sieben Millionen – allein über
drei Millionen aus Nigeria und Mexiko kommen. Insofern ist auch das
bisherige Umfrageergebnis (Bildung, Gesundheit und Jobs ganz vorn,
Klimawandel ganz hinten) in keiner Weise repräsentativ für die
Weltbevölkerung insgesamt.
Es bleibt bei
Deliberation
Etwas aussagekräftiger
dürften hingegen die Konsultationen sein, die auch mit deutlich
größerem Aufwand organisiert wurden. Ihre Ergebnisse wurden in
mehreren Berichten zusammengefasst und sollen auf diese Weise auch in
den Verhandlungsprozess im UN-System und zwischen den Mitgliedstaaten
eingespeist werden. Dabei aber bleibt es letztlich: Eine
Bürgerbeteiligung, die über die Deliberation von Interessenträgern
hinausgeht, ist auch für die Post-2015-Agenda nicht vorgesehen. Und
ob die Staaten die Konsultationen am Schluss tatsächlich
berücksichtigen, steht in den Sternen.
Trotzdem scheinen mir die
Konsultationen wie auch die Umfrage ein wichtiger Fortschritt zu
sein. Immerhin machen sie deutlich, dass das UN-Generalsekretariat
bemüht ist, die Entscheidungsfindung in der Weltpolitik etwas
partizipativer auszugestalten – trotz seiner geringen formalen
Kompetenzen und trotz des winzigen Budgets, das ihm zur Verfügung
steht. Wenn die Vereinten Nationen in Zukunft weiter an politischer
Bedeutung gewinnen, wird dies freilich nicht genügen. Wenn
Bürgerbeteiligung auf globaler Ebene mehr als nur ein
Publicity-Trick sein soll, müssen die UN bessere, repräsentativere
Verfahren entwickeln. Oder, wie es in der Millenniumserklärung so
schön heißt:
Männer und Frauen haben das Recht, in Würde und Freiheit […] zu leben […]. Diese Rechte werden am besten durch eine demokratische und partizipatorische Staatsführung auf der Grundlage des Willens des Volkes gewährleistet.
Bild: By World Economic Forum [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.
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