- Die Vielzahl nationaler Außenpolitiken mit eigenen Prioritäten, Expertisen und Verknüpfungen ist eine Stärke der EU. Sie zu bündeln und zu kräftigen, ist Ziel der europäischen Außenpolitik.
Die aktuelle geopolitische Lage erhöht den Reformdruck auf die EU-Außenpolitik. Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg überraschte die EU manche Beobachter:in mit weitreichenden Entscheidungen in der Sanktionspolitik und der Militärhilfe für die Ukraine. Gleichzeitig hat die Krise altbekannte Debatten neu entfacht: Ist die weitgehend zwischenstaatlich organisierte EU-Außenpolitik in einer Ära des internationalen strategischen Wettbewerbs noch zeitgemäß? Oder sollte das Einstimmigkeitsprinzip zugunsten einer stärker zentralisierten, genuin europäischen Außenpolitik aufgegeben werden?
„Europa wird in Krisen geschmiedet“, prophezeite einst Jean Monnet. Somit stellt der russische Angriffskrieg ein starkes Argument dar, um Reformen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) anzugehen. Befürworter:innen argumentieren, dass Reformen wie die Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen (QME) die globale Handlungsfähigkeit der EU erhöhen. Zudem müsse die EU auf eine sich abzeichnende Erweiterung um die Ukraine, Moldau und weitere Länder vorbereitet sein. Wie soll eine geopolitische EU funktionieren, wenn starke gemeinsame Positionen im zwischenstaatlichen Klein-Klein zerrieben werden?
Zwei Modelle europäischer Außenpolitik
Das Argument der Handlungsfähigkeit leuchtet ein, greift aber zu kurz. Viele der derzeit diskutierten Reformen sind mehr als nur das Drehen an einzelnen Stellschrauben im außenpolitischen Gefüge der EU. Es geht um die fundamentale Frage, welches Zukunftsmodell einer europäischen Außenpolitik verfolgt werden soll. Auf der einen Seite steht das Modell einer integrierten Außenpolitik, in der die EU stärker als Akteur wahrgenommen wird und mithilfe der QME Druck auf abweichende nationale Positionen ausgeübt werden kann. Auf der anderen Seite steht ein System von eng kooperierenden, aber weitgehend nationalen Außenpolitiken, welches von der EU-Ebene koordiniert und repräsentiert wird, die Hauptstädte aber nicht ersetzt.
In diesem Beitrag wird argumentiert, dass es in der aktuellen Reformdebatte wichtig ist, die größeren Fragen der Finalität der EU-Außenpolitik im Auge zu behalten. Hier geht es nicht um eine unnötige „langwierige akademische Debatte“, wie sie anscheinend von EU-Außenminister:innen befürchtet wird, sondern darum, Lösungen zu finden, die sich in die historische Entwicklung der EU einfügen und somit auch funktionieren. Es besteht nämlich die Gefahr, dass unter dem Druck, die Effektivität der EU-Außenpolitik zu erhöhen, Reformen eingeführt werden, die die Mitgliedstaaten auf lange Sicht nicht zufriedenstellen und dadurch die langfristige Handlungsfähigkeit der EU einschränken. Nach einem kurzen Blick in die Geschichte behandelt der Beitrag exemplarisch drei Reformbestrebungen und unterbreitet abschließend einen Vorschlag für ein schrittweises Vorgehen in der GASP-Reform.
Vertane transformative Momente
Bereits in der Vergangenheit gab es transformative Momente, die für einen kurzen Moment den Blick auf eine alternative Zukunft einer integrierten EU-Außenpolitik freigaben, um dann wieder auf den Kurs der schrittweisen Vertiefung der Zusammenarbeit umzuschwenken. In der Zeit nach der Wende, in den frühen 1990ern, galt es, die Skepsis gegenüber einem wiedervereinigten und wiedererstarkten Deutschland abzubauen. Während der Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht war das Konzept einer „Politischen Union“ in Fragen der gemeinsamen Außenpolitik in Deutschland populär. Schon damals wurde vorgeschlagen, die neu eingeführte GASP an die Europäische Kommission anzugliedern und Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zu treffen. Das institutionelle Gefüge sollte nicht durch separate vertragliche Bestimmungen unnötig verkompliziert werden.
Es kam bekanntlich anders. Auf Betreiben des engen Partners und außenpolitischen Schwergewichts Frankreich wurde die GASP als zwischenstaatliche Säule in die EU eingeführt. Einstimmigkeit blieb die Regel, die Europäische Kommission erhielt keine Exekutivbefugnisse. Mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 setzten die Mitgliedstaaten diesen vorsichtigen Kurs fort. Die Hohe Vertreter:in der GASP wurde als Generalsekretär:in des Rates und somit jenseits der Kommission eingeführt.
Der nächste Integrationsversuch kam mit dem Verfassungskonvent Anfang der 2000er Jahre, der in den Vertrag von Lissabon mündete. Der Reformdruck war erneut hoch, denn die große Osterweiterungsrunde stand vor der Tür und bedrohte die Handlungsfähigkeit in einer EU mit bis zu 28 Mitgliedstaaten. Trotz entsprechender Vorschläge und beherzter Debatten wurde die GASP jedoch auch diesmal nicht in die Kommission eingegliedert und die QME nicht zum Regelfall. Als Kompromiss wurde der Posten der Hohen Vertreter:in/Kommissionsvizepräsident:in als Doppelhut geschaffen und Möglichkeiten für Mehrheitsentscheidungen eingeführt, die in der Realität jedoch nur selten genutzt wurden. Der „Souveränitätsreflex“ der Mitgliedstaaten wirkte trotz guter Argumente und politischen Engagements.
Zwischen radikaler Unsicherheit und destruktiven Mitgliedstaaten
Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass diesmal der Reformdruck eine stärkere Wirkung zeigen könnte. Der Hohe Vertreter der EU, Josep Borrell, sprach unlängst von einer Zeit der „radikalen Unsicherheit“. Unvorhersehbare Ereignisse treten in hoher Frequenz auf (Brexit, Trump, Covid, russischer Angriffskrieg …), während die EU ihre ökonomischen und militärischen Kapazitäten an China und die USA ausgelagert hat. Eine handlungsfähige EU-Außenpolitik, so Borrell weiter, müsse proaktiv agieren und dürfe nicht in getrennten „Silos“ von Kommission und Rat denken.
Nachvollziehbar ist auch Borrells Frust über die EU-Konsensmaschinerie. So haben sich in den letzten Jahren die Fälle gehäuft, bei denen nur ein oder wenige Mitgliedstaaten eine ansonsten einheitliche Position des Rates verhinderten. Insbesondere Ungarn fiel mit dieser Praxis auf und hat zum Beispiel im vergangenen Jahr das sechste Sanktionspaket gegen Russland zeitweise blockiert. Ein politisch heikler Fall war auch die Blockade Zyperns gegen Belarus-Sanktionen im Herbst 2020 – nicht, weil Nicosia etwas gegen die Sanktionen hatte, sondern weil es sich eine härtere Haltung der EU in einem davon völlig unabhängigen Konflikt mit der Türkei erhoffte. Diese destruktive Haltung im Umgang mit der EU-Vertragspraxis in der GASP erfordert eine Neufassung der Entscheidungsregeln.
Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen?
Vor diesem Hintergrund steht die Einführung von QME im Mittelpunkt der aktuellen GASP-Reformdebatten. So warb zum Beispiel Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede an der Karls-Universität in Prag im Sommer 2022 für Mehrheitsentscheidungen in der GASP. Insbesondere hob er Sanktionen und Fragen der Menschenrechte hervor. Die Europäische Kommission hatte 2018 zusätzlich auch zivile EU-Missionen als möglichen Anwendungsbereich vorgeschlagen.
Für die Einführung von QME gibt es innerhalb der Verträge zahlreiche Optionen, die zum Teil bereits genutzt werden:
- Implementierende Entscheidungen können schon jetzt mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden (Art. 31 (2) EUV). Dies wurde zum Beispiel zaghaft zur Anpassung von Sanktionslisten genutzt. Der Versuch des Hohen Vertreters, die QME auf alle Entscheidungen des neugeschaffenen Sanktionsinstruments zu Menschenrechten auszudehnen, scheiterte jedoch.
- Zudem gibt es die Möglichkeit der „konstruktiven Enthaltung“ (Art. 31 (1) EUV). Diese Regel kam im vergangenen Jahr zum zweiten Mal zur Anwendung, als die militärisch neutralen EU-Länder Irland, Österreich und Malta die letale Militärhilfe der EU an die Ukraine zuließen.
- Die GASP-Passerelle-Klausel (Art. 31 (3) EUV) erlaubt die Ausweitung von QME auf neue Themen (wie die oben genannten Sanktionen und Menschenrechtsfragen). Hier führt insbesondere der russische Angriffskrieg zu einem Umdenken in einigen osteuropäischen Mitgliedstaaten, ob eine Ausweitung auf Sanktionen die Blockadehaltung von einzelnen Ländern wie Ungarn brechen könnte.
- Kerngruppen können über Art. 44 EUV vorgehen, indem sie sich vom Rat die Durchführung einer Mission übertragen lassen. Dieses Instrument wurde zuletzt im Strategischen Kompass mit Hinblick auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorgeschlagen.
Das größte Hindernis bei allen vorangegangen Möglichkeiten ist, dass für ihre Einführung jeweils Einstimmigkeit erforderlich ist. Neben diesem Umsetzungsproblem gibt aber auch ein normatives Argument gegen die Einführung von Mehrheitsentscheidungen: Die EU-Außenpolitik lebt davon, dass so lange verhandelt wird, bis auch der letzte Mitgliedstaat – ohne die Drohung, überstimmt zu werden – mit der Entscheidung zufrieden ist. Der Frust über diese langen Verhandlungen ist verständlich, insbesondere bei destruktiven Blockaden wie den oben beschriebenen. Am Ende steht jedoch eine Entscheidung, die die Einheit der EU widerspiegelt und auch von allen Mitgliedstaaten getragen wird. Was es bedeutet, wenn eine Entscheidung nur halbherzig umgesetzt wird, kann man an den Russland-Sanktionen nachvollziehen, die auch von EU-Firmen umgangen werden.
Eingliederung des EAD in die Kommission?
Ein weiterer populärer Reformvorschlag ist die Eingliederung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) in die Strukturen der Europäische Kommission. Dahinter steht die Überlegung, dass immer mehr außenpolitische Themen maßgeblich von sektoralen Politikbereichen wie der Energie- oder Finanzpolitik bestimmt werden. Während weiterhin nationales diplomatisches Personal in den Dienst abgeordneten werden würde (wie in Art. 27 (3) EUV vorgesehen), erfordert dies eine Überarbeitung des Ratsbeschlusses zum EAD, welcher den Dienst ausdrücklich als eigenständige Einrichtung definiert.
Auch hier sollte jedoch beachtet werden, dass die organisatorische Trennung von der Kommission einer bestimmten Logik folgt. Anstatt eine losgelöste europäische Diplomatie zu verwirklichen, erlaubt die eigenständige Organisation des EAD, dass die nationalen diplomatischen Dienste eng mit dem EAD zusammenarbeiten und somit europäischer werden. Erhofft wurde auch ein verstärkter Informationsaustausch, der jedoch nicht so reibungslos funktioniert wie erhofft.
EU-Korpsgeist in der Europäischen Diplomatenakademie?
Die Frage des Verhältnisses zwischen nationaler und europäischer Diplomatie stellt sich auch bei dem laufenden Pilotprojekt einer Europäischen Diplomatenakademie. Das vorläufig auf neun Monate angelegte Programm ist inspiriert von der Idee „einer einzigartigen Perspektive einer exklusiven EU-Repräsentation“, so der Mitinitiator und S&D-Europaabgeordnete Nacho Sánchez Amor.
Auch wenn über die endgültige Ausgestaltung der Akademie noch verhandelt wird, kristallisiert sich schon jetzt eine grundlegende Frage heraus: Sollen die nationalen Teilnehmer:innen durch eine intensive europäische Diplomatenausbildung in die Lage versetzt werden, die Interessen und Instinkte ihrer Hauptstadt hinter sich zu lassen? Oder sollen die jungen Diplomat:innen lernen, wie die Brüsseler Verhandlungsmaschinerie funktioniert, ein lebenslanges Netzwerk knüpfen und die Hauptstädte näher an Brüssel heranrücken? Will man einen einzigartigen EU-Korpsgeist, der von den nationalen Außenministerien losgelöst ist, oder eine engere Verknüpfung zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten?
EU- oder europäische Außenpolitik?
In der aktuellen Reformdebatte wird der Wunsch nach einer integrierten EU-Außenpolitik wieder lauter und zu Recht mit dem Ruf nach mehr Handlungsfähigkeit begründet. Dabei wird jedoch teilweise übersehen, dass Außenpolitik nach wie vor eine Kompetenz der Mitgliedstaaten ist, die sich lediglich vertraglich verpflichtet haben, im Sinne der GASP zu handeln und diese nicht zu unterlaufen.
Mehr noch: Es ist sogar eine Stärke der EU, dass es eine Vielzahl von nationalen Außenpolitiken mit eigenen Prioritäten, Expertisen und Verknüpfungen gibt. Diese zu bündeln und zu kräftigen, ist Ziel der europäischen Außenpolitik. Eine davon losgelöste, eigenständige EU-Außenpolitik könnte hingegen das Band zu den Mitgliedstaaten überdehnen und somit dem Anliegen einer starken europäischen Stimme in der Welt einen Bärendienst erweisen.
Schrittweise Reformen
Der aktuelle Reformdruck sollte daher genutzt werden, um schrittweise Reformen umzusetzen. So sollten die bestehenden Möglichkeiten für Mehrheitsentscheidungen systematischer angewandt werden, wie zuletzt auch von sechs EU-Außenminister:innen gefordert wurde. So könnte beispielsweise die „Freundesgruppe für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen“ (eine neue, von Deutschland initiierte informelle Gruppe) den politischen Druck erhöhen, um bei neuen Sanktionsregimen Implementierungsentscheidungen wie die Anpassung von Listen generell mit QME zu treffen.
Die Aufnahme der Ukraine und weiterer Länder in die EU bietet zudem zusätzliche Möglichkeiten der differenzierten Integration, da den Neumitgliedern in der Übergangsphase ein Vetorecht in der GASP verweigert werden könnte. Sollte es zu einer Regierungskonferenz über eine Neufassung der EU-Verträge kommen, wäre die Einführung einer Super-QME, wie von Borrell vorgeschlagen, denkbar. Mehrheiten von „27 minus 2 oder 3“ würden es ermöglichen, das Hauptproblem der destruktiven Blockadehaltung auszuhebeln und trotzdem noch eine möglichst breite Mehrheit der Mitgliedstaaten mitzunehmen.
Auch in der Frage der Organisation des EAD und der Europäischen Diplomatischen Akademie gilt es, Lösungen zu finden, die die Aufteilung der verschiedenen Dimensionen der EU-Außenbeziehungen in Kommission, Rat und Mitgliedstaaten repräsentieren und gleichzeitig eine größtmögliche Kooperation zwischen ihnen ermöglichen. In der Reaktion auf den russischen Angriffskrieg haben Kommission und EAD gezeigt, dass sie durchaus eng zusammenarbeiten können. Bei allen notwendigen Reformen muss die institutionelle Balance im außenpolitischen System Europas gewahrt bleiben.
Niklas Helwig ist Leitender Wissenschaftler am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki und Adjunct Professor an der Universität Tampere. |
Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“, der in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Regierungsforschung.de erscheint.
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