30 April 2024

Die „Maastricht Debate“ der Spitzenkandidat:innen: Potential und bekannte Herausforderungen

Von Alex Hoppe
A moment during the Maastricht debate
Bei der Spitzenkandidatendebatte in Maastricht gab es acht Kandidat:innen, aber leider nur einige zehntausend Zuschauer:innen.

Am 29. April fand in Maastricht die traditionelle Debatte der europäischen Spitzenkandidat:innen für die Europawahlen statt. Sie geht ursprünglich auf eine Initiative der Universität Maastricht zurück, und es war wohl auch diesmal eher ein universitäres Publikum, das in kleiner Zahl die Debatte verfolgte. Der Abend zeigt sowohl das Potential des Formats als auch die Herausforderungen, vor denen die europäische Demokratie steht, wenn die Spitzenkandidat:innen einen echten Einfluss auf die Wahlentscheidung der europäischen Bürger:innen haben sollen.

Insgesamt acht Kandidat:innen nahmen an der Debatte in Maastricht teil: Von der amtierenden Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (EVP) bis hin zu Valeriu Ghilețchi, Vorsitzender der Europäischen Christlichen Bewegung waren Politiker:innen verschiedenen Formats dabei. Vor allem zwischen Bas Eickhout (EGP) und von der Leyen entwickelte sich eine echte Debatte, auch weil Eickhout seinen Rückenwind aus dem Publikum geschickt nutzte, um die Regeln der Debatte weit auszulegen. Den anderen Kanditat:innen blieb allenfalls eine Nebenrolle. Besonders Nicolas Schmit (SPE), der nach aktuellem Stand noch die größten Chancen hätte, von der Leyen herauszufordern, blieb blass. Auch die in der deutschen Debatte so lautstarke und rhetorisch gewandte Marie-Agnes Strack-Zimmermann (ALDE) bewegte sich lediglich im Hintergrund. Anders Vistisen (ID) spielte die erwartet provokative Rolle – ohne jedoch dabei das Format zu sprengen.

Brüsseler Parteienvielfalt

Es ist fraglich, ob es wirklich acht Kandidat:innen hätten sein müssen, die in Maastricht auf der Bühne standen. Selbst gut informierte Wähler:innen dürften sich gefragt haben, wer zum Beispiel Valeriu Ghilețchi ist. Seine Partei hat keine Fraktion im Parlament, lediglich fünf Parlamentarier:innen verschiedener Fraktionen sind momentan Mitglied.

Auch wenn vor allem die junge Maylis Roßberg (EFA) die Debatte durchaus erfrischte, da man ihr die Empörung über unzureichende Klimapolitik abnahm und besonders ihr Abschlussstatement das junge Publikum zu überzeugen wusste: Dem Ziel, europäischen Wähler:innen die EU und ihr Wahlsystem näher zu bringen ist mitnichten gedient, wenn mehrere Kandidat:innen dieser Debatte nicht mal eine realistische Aussicht auf einen Platz im Parlament haben, geschweige denn ihre Parteien auf eine Fraktion. Wenn Roßberg ihr Abschlussstatement damit beginnt, dass sie sicher keine Abgeordnete wird, muss das viele Zuschauer:innen verwirren, die nicht Teil der „Brüsseler Blase“ sind. Parteien und Organisator:innen sollten in Zukunft bei der Auswahl der Kandidat:innen diese Aspekte berücksichtigen.

Brüsseler Themen

Die drei Kernthemen der Debatte – Klimawandel, Außen- und Sicherheitspolitik und Europäische Demokratie – wurden zuvor durch die Universität Maastricht in einer Umfrage unter jungen Bürger:innen ausgewählt. Es handelt sich um Themen, die auch im medialen und politischen Umfeld mehrheitlich als zentral angesehen werden. Die Moderatorinnen setzten mit ihren Fragen unterschiedliche Akzente – von allgemeinen Fragen zur Wirksamkeit der Klimapolitik bis hin zu Detailaspekten wie deren möglicher Finanzierung. Und auch die Tagespolitik hielt Einzug: Etwa als sich ein nicht unwesentlicher Teil der klimapolitischen Diskussion um die europäischen Landwirt:innen drehte, oder als Walter Baier (EL) die Frage nach dem Konflikt in Gaza aufwarf – der auch im direkten Umfeld der Debatte in Form von Protesten omnipräsent war und offensichtlich einen Nerv beim Saalpublikum traf.

Beim Thema Demokratie flogen größtenteils Korruptionsvorwürfe zwischen den Kandidat:innen bzw. den Parteien, die sie vertraten, hin und her. Diesem Thema verdankte die Debatte aber auch inhaltliche Höhepunkte, etwa als es um die Rolle der EKR-Fraktion ging. Auch sendeten sowohl von der Leyen als auch Schmit klare Signale, entschieden gegen TikTok vorzugehen.

Die Themenwahl als solche kann durchaus in Frage gestellt werden. So zeigt beispielsweise die jüngste Eurobarometer-Umfrage, dass die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung für die Befragten die dringlichsten Themen sind. Verteidigung und Sicherheit kommt erst auf einem geteilten dritten Platz (zusammen mit der in der Debatte ebenfalls ignorierten Schaffung neuer Jobs). Klimawandel folgt erst an fünfter, Demokratie gar erst an achter Stelle. Ähnliche Interessenlagen zeigt auch die aktuelle Jugendstudie 2024 in Deutschland. Lediglich in einigen Eingangs- und Schlussstatements, u.a. von Baier und Schmit, wurden diese Themen kurz angerissen. Stattdessen setzten die Veranstalter das Thema Migration auf die Tagesordnung, dessen Zuordnung zum Bereich Sicherheitspolitik von Bas Eickhout zu Recht kritisiert wurde.

Brüsseler Politik

Auch wenn sich die inhaltliche Tiefe der Debatte zwangsläufig in Grenzen hielt (die Kandidat:innen hatten jeweils 45 Sekunden Zeit für ihre Statements), gab es durchaus aufschlussreiche Momente: So zeigte sich etwa eine klare Trennung zwischen denjenigen, die neue EU-Anleihen zur Finanzierung der Umweltpolitik forderten (vor allem Bas Eickhout und Nicolas Schmit), und denjenigen, die die bisherige Finanzierungsgrundlage im EU-Haushalt lieber durch private Investitionen ergänzen wollen (Ursula von der Leyen).

Fast hitzig wurde die Debatte, als Baier die kurze Diskussion über den Krieg in der Ukraine nutzte, um den Konflikt in Gaza anzusprechen. Verschiedene Kandidat:innen nutzten die Gelegenheit, um Ursula von der Leyen für ihre bisherige Linie in diesem Konflikt zu kritisieren, und forderten, unterstützt durch das Publikum im Saal, die Formulierung roter Linien. Von der Leyen vermied dies und verwies auf die Notwendigkeit, diese Fragen mit den Mitgliedstaaten zu diskutieren. Generell schienen manche Beiträge von der Leyens zur Kompetenzverteilung eher an die Mitglieder des Europäischen Rates als an die Wähler:innen gerichtet – was angesichts des Prozesses zur Berufung der Kommissionspräsident:in und der derzeitigen Umfragewerte sicherlich eine sinnvolle Strategie darstellen kann.

Insgesamt schien sich von der Leyen vor allem in der inhaltlichen Auseinandersetzung wohlzufühlen. Immer wieder versuchte vor allem Eickhout, sie in die Enge zu treiben. Von der Leyen nutzte hier jedoch ihre Erfahrungen der letzten fünf Jahre und argumentierte mit detaillierten Verweisen auf die europäische Gesetzgebung. Es wurde deutlich, dass ihr das Format besser lag als anderen Kandidat:innen.

Europäische Spitzenkandidat:innen seit 2014 haben auffallend oft einen professionellen Hintergrund und Erfahrung in Brüssel. Erfahrung in Brüssel war für die Kandidat:innen gestern ein klarer Vorteil – und deren Abwesenheit teils sehr offensichtlich. Was schon Martin Schulz als erfolgreicher Europapolitiker schmerzlich feststellen musste, zeigt sich nun unter anderem bei Marie-Agnes Strack Zimmermann. Der Erfolg auf der Brüsseler Bühne garantiert noch lange nicht den Erfolg auf der nationalen Bühne – und umgekehrt. 

Strack-Zimmermann hatte sichtlich Mühe, sich in der Debatte zu etablieren. Ihre Ausführungen zu Themen außerhalb ihrer Kernkompetenz, der Sicherheitspolitik, waren unklar und teilweise fehlerhaft. So etwa, als sie die AfD ins Spiel brachte, obwohl sich die Diskussion um die EKR-Fraktion drehte – der die AfD nicht angehört. Der Takt auf dem Brüsseler Parkett ist ein anderer als in Berlin und nicht alle Kandidat:innen beherrschten ihn.

Die europäische Öffentlichkeit

Die Kandidat:innen hatten sich verpflichtet, in englischer Sprache zu debattieren. Offensichtlich hatten einige damit weniger Probleme als andere. Auch wenn die Debatte simultan übersetzt wurde: Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache erwies sich (wieder einmal) als Herausforderung für die europäische Demokratie. Denn wer nun allein auf die Englischkenntnisse einzelner Kandidat:innen schaut, verkennt das größere Problem: Die Abwesenheit eines gemeinsamen Sprachraums ist weiterhin eine große Herausforderung für die europäische Demokratie.

Erstens, weil sie ein besonderes Anforderungsprofil an (EU-weite) Kandidat:innen stellt. Dieses Anforderungsprofil ist leichter zu erfüllen, wenn man in bestimmten Regionen der EU aufwächst und deren Bildungssysteme durchläuft als in anderen (von sozialen Unterschieden ganz zu schweigen). Die Ungleichheiten auf der Bühne gestern waren natürlich nur ein Bruchteil der Ungleichheiten in der Bevölkerung.

Zweitens, weil es für das Publikum schwierig ist, den Debatten zu folgen. Ja, die Debatte wurde simultan in mehrere Sprachen übersetzt – aber bei weitem nicht in alle Amtssprachen der EU. Faktisch wird sie damit einem großen Teil der Wähler:innen unzugänglich. Außerdem geht bei der Simultanübersetzung einer Debatte sehr viel Emotionalität, Akzentuierung und Individualität verloren – Aspekte, die für die Einschätzung durch die Wähler:innen entscheidend sind.

Auch wenn möglicherweise schon mittelfristig KI-Innovationen die Sprachprobleme lösen könnten, ist fraglich, ob dies der entscheidende Schritt hin zu einer europäischen Öffentlichkeit wäre. Denn deren Fehlen war auch gestern wieder auffällig: Die Debatte fand so gut wie nicht in nationalen Diskursräumen statt: Die nationalen Parteien haben nicht damit geworben, und ein kurzer Blick in die überregionalen deutschen Medien zeigt ein geringes Interesse – auch wenn zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung über die Debatte berichtet. Live-Übertragungen größerer Medienanstalten fehlten komplett.

All dies erklärt die niedrigen Zuschauerzahlen: Weit unter 100.000, sehr wahrscheinlich auch deutlich weniger als 50.000 Wähler:innen dürften die Debatte gesehen haben. Auf das Wahlergebnis dürfte sie also nur dann Einfluss haben, wenn etwa von der Leyens Äußerungen zur Kooperation mit der EKR auch in nationalen Medien größere Wellen schlagen.

Und jetzt?

Insgesamt sendet die Maastrichter Debatte also verschiedene Signale. Zum einen, dass die Parteien das Spitzenkandidatensystem weiterhin ernst nehmen, was nicht zuletzt von der Leyens späte Zusage zeigt: Ihre Abwesenheit hätte die Legitimation der Debatte merklich geschwächt. Die Kandidat:innen der anderen Parteien nutzten die Gelegenheit, Rechenschaft von der amtierenden Kommissionspräsidentin zu fordern. Hier gilt es anzuerkennen, dass von der Leyen dabei oft gut antwortete oder zumindest auswich – was allerdings dem Format dieser Debatte durchaus gerecht wird, weshalb man hier mitnichten von einem Scheitern der anderen Kandidat:innen sprechen muss. Außerdem lieferte die Debatte durchaus wichtige inhaltliche Erkenntnisse.

Gleichzeitig bleiben die Herausforderungen: Thematisch deckte die Debatte nicht die größten Sorgen der Wähler:innen ab. Hier ist zu hoffen, dass die zweite Debatte sich enger an den Wähler:innen der kompletten EU und verschiedener Bildungs- und Sozialschichten orientiert. Die Problematik der fehlenden gemeinsamen Sprache, sowie noch gravierender der europäischen Öffentlichkeit, waren wieder offensichtlich. Auch wenn die Veranstalter:innen sich bemühten – etwa durch den Aufruf zu watch parties, dem etwa 80 Organisationen folgten –, blieb das Zuschauerinteresse aus. Die Komplexität dieser Herausforderungen verbietet simple Lösungsansätze. Eine bessere mediale Aufbereitung sowie mehr Werbung durch die (nationalen) Parteien selbst wären aber sicher hilfreich.


Pictures: Lead candidates debate: European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr; Porträt Alex Hoppe: privat [alle Rechte vorbehalten].

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