Wir befinden uns im Jahre
2012 n. Chr. Die ganze Eurozone hat sich mit der Schuldenbremse
abgefunden. Die ganze Eurozone? Nein! Eine unbeugsame sozialistische
Partei in Frankreich hört nicht auf, den Fiskalpakt nachverhandeln
zu wollen …
Aber der Reihe nach.
Trotz des Enthusiasmus von Angela Merkel, die darin ein „Meisterwerk“
sah, hat sich inzwischen europaweit Ernüchterung über den neuen Fiskalpakt ausgebreitet, der Anfang dieser Woche unterzeichnet wurde (hier der
Wortlaut). Zwar hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs
im vergangenen Dezember noch angekündigt, dass damit die Eurokrise endlich überwunden werden könne. Doch wie der Thinktank ECFR
bereits vor zwei Wochen feststellte, handelte es sich um much ado about nothing: Zahlreiche
der Regelungen des neuen Abkommens fanden sich ohnehin bereits im
„Sixpack“, einem Bündel von Sekundärrechtsakten zur Stärkung
des Stabilitäts- und Wachstumspakts, das vergangenes Jahr in Kraft getreten ist.
Andere könnten problemlos in gleicher Weise verabschiedet werden,
wie auch ein Gutachten des Europarechtsprofessors Ingolf Pernice feststellt. Neu ist vor allem die Pflicht für
alle Mitgliedstaaten, eine nationale Schuldenbremse in ihre
Verfassungen einzubauen, wobei auch diese zuletzt in etwas skurriler Weise abgeschwächt wurde. Und Maßnahmen, die die derzeit akute Schuldenkrise der
südeuropäischen Staaten lösen könnten, beinhaltet der Fiskalpakt ohnehin nicht – dafür aber so manches, was
langfristig dem Wirtschaftswachstum in Europa schaden könnte.
Insbesondere
aus dem letzteren Grund, den fehlenden Anreizen für Konjunktur
und Arbeitsplätze, hat der wahlkämpfende
Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten, François
Hollande (PS/SPE), bereits im Dezember angekündigt,
bei einem Wahlsieg den Fiskalpakt neu verhandeln zu wollen. Da er
dies in den letzten Tagen noch einmal lautstark bekräftigt hat, ist
nun die Aufregung groß: Prompt kündigte die deutsche
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) an, ihrem Partei- und Amtskollegen Nicolas Sarkozy (UMP/EVP) im Wahlkampf
zur Seite stehen zu wollen, damit der Fiskalpakt nicht in Gefahr gerät.
Aber was ist von Hollandes Forderung zu halten? Wäre es wirklich
sinnvoll, die Einigung wirklich noch einmal aufzuschnüren?
Die Risiken von Nachverhandlungen
Die
Erfahrung mit vergangenen europäischen Verträgen zeigt, dass die
Idee, über einmal abgeschlossene Abkommen noch
„nachverhandeln“ zu können, meist eine Illusion ist – und
schlimmer noch, oft sogar dauerhaften Schaden anrichtet. Das
deutlichste Beispiel dafür ist der EU-Verfassungsvertrag, dessen Ratifikation 2005
in Frankreich per Referendum abgelehnt wurde. Wer damals gehofft
hatte, durch ein Nein eine bessere, verständlichere, demokratischere
europäische Verfassung erreichen zu können, wurde zwei Jahre später durch den Vertrag
von Lissabon widerlegt. Das Scheitern einer einmal erzielten Einigung löst eben nur in den seltensten Fällen eine Aufbruchstimmung
aus, durch die die politische Führung zu mutigen neuen Schritten
inspiriert wird.
Umgekehrt
gibt es zahlreiche Fälle, in denen zunächst unvollständige und
unbefriedigende Reformen eine Dynamik in Gang setzten, die später
doch noch zu guten Ergebnissen führte: Das Schengener Abkommen etwa,
das die EG zu spalten drohte, wurde später in den gemeinsamen
Vertrag integriert; und für die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und
Inneres, für die im Vertrag von Maastricht nur ein System
intergouvernementaler Kooperation vereinbart wurde, gilt heute
vollständig die Gemeinschaftsmethode.
Aber
würde das auch auf den Fiskalpakt zutreffen? Kann er der Impuls für
die echte Haushaltsunion sein, die Europa so dringend bräuchte? Oder
umgekehrt: Wäre die EU gelähmt, wenn der Pakt an einem
französischen Nein scheitern würde? Bei einem Abkommen, dessen
Hauptfunktion darin besteht, Bestandteile des europäischen
Sekundärrechts ins Primärrecht zu überführen, scheint mir das
nicht der Fall zu sein. Sofern die darin enthaltenen Beschlüsse
nicht ohnehin schon im Sixpack enthalten sind, ließen sie sich
großteils auch durch ein gewöhnliches Gesetzgebungsverfahren
umsetzen – selbst wenn der neue Vertrag vollständig scheitern
sollte, könnten die meisten der darin enthaltenen Maßnahmen also
immer noch realisiert werden, nur eben nicht auf primärrechtlicher
Ebene.
Es geht um die Konstitutionalisierung
der Austeritätspolitik
Das aber scheint das Ziel zu sein, um das es den Befürwortern des Fiskalpakts eigentlich geht. Im Vordergrund steht die
Idee, in den nationalen
Verfassungen Schuldenbremsen einzuführen und dadurch eine austeritätsorientierte Politik festzuschreiben, die dem parteipolitischen
Wechselspiel entzogen ist: Die Schuldenbremsen sollen, in den Worten von Angela
Merkel, „bindend und ewig“ werden und
auch nach einer Neuwahl des Parlaments nicht zu ändern sein.
Und dieses Ewigkeitsziel gilt nicht nur für die nationale, sondern auch für
die europäische Ebene: Der Fiskalpakt wäre als völkerrechtlicher
Vertrag weitaus schwerer zu reformieren als Sekundärrechtsakte wie
die Sixpack-Verordnungen. Während Letztere bei einer veränderten
Mehrheitslage im Europaparlament und im Ministerrat überarbeitet
werden könnten, wäre eine Änderung des Pakts nur einstimmig durch
alle Mitgliedstaaten möglich.
Dies
aber bedeutet nichts anderes, als dass von der Vielzahl
möglicher wirtschaftspolitischer Strategien künftig nur noch die der Austerität erlaubt sein soll – genau die Option, die von
der Europäischen Volkspartei vertreten wird, die derzeit die
EU-Institutionen dominiert. Die geplante Schuldenbremse, die deutlich
unter der durchschnittlichen BIP-Wachstumsrate liegt, würde zu einem
ständigen Sinken des Gesamtschuldenstands der Mitgliedstaaten führen
und damit faktisch zum Rückzug des Staates aus der aktiven
Wirtschaftssteuerung. Man kann das gutheißen oder nicht, und sicher
sollte es der EVP erlaubt sein, ihre derzeitige Macht für
Sekundärrechtsakte in diesem Sinne zu nutzen. Aber ebenso sollten ihre politischen Konkurrenten das Recht haben, diesen Plänen ihre Unterstützung zu versagen und für andere Modelle zu werben, sodass sich die Wähler dazwischen entscheiden können. Wenn die EVP versucht, ihre Strategie durch Konstitutionalisierung irreversibel zu
machen, nimmt sie den Bürgern diese Entscheidungsmöglichkeit und schadet damit auch der Demokratie.
Unterstützung
der S&D-Fraktion
Dass
Hollande ankündigt, bei seiner Wahl zum französischen
Staatspräsidenten eine derartige Entwicklung verhindern zu wollen, verdient
deshalb nicht nur Verständnis, sondern Anerkennung. So wichtig eine Vertiefung der fiskal-
und wirtschaftspolitischen Integration in der Eurozone ist: Sie darf nicht auf Kosten der Demokratie gehen und muss zumindest die
Möglichkeit alternativer Modelle als der Austerität zulassen. Wenig
überraschend hat auch Hannes
Swoboda, der neue Vorsitzende der
sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament (S&D), bereits die Unterstützung seiner Gruppierung für Hollandes Vorhaben
erklärt.
Ein
Fehler aber ist es, wenn nun sowohl im französischen Wahlkampf als auch
in der deutschen Berichterstattung darüber die
Konflikte um den Fiskalpakt immer öfter als eine
deutsch-französische Angelegenheit dargestellt werden.
Austeritätspolitik ist zwar die Strategie Angela Merkels, aber kein
deutsches Charaktermerkmal, und ob staatliche Konjunkturförderung
funktioniert oder nicht, hängt nicht von der Nationalität der Politiker ab,
die sich dafür einsetzen. Es geht hier um die Entscheidung zwischen
einer linken und einer rechten Wirtschaftspolitik und um die Frage,
ob man eine davon zum europäischen Verfassungsprinzip erheben
sollte. Nachbarliche Animositäten oder Sehnsüchte nach nationaler
Selbstbehauptung sollten in dieser Auseinandersetzung nichts verloren
haben.
Bild: By besoindegauche — Charles Hendelus (FH à Tours_12) [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons.
Die Bewegung zur Konstitutionalisierung von Schuldenbremsen entstammt der Feststellung, dass in den vergangenen 40 Jahren die allermeisten Bestrebungen auf Regierungs- und Parlamentsebene zur dauerhaften Schuldensenkung gescheitert sind. Selbst nachdem solche Grenzen sowohl in Bezug auf Neu- wie auch Gesamtverschuldung in den Euro-Stabilitätspakt eingeflossen sind, wurden sie von der Mehrheit der unterzeichnenden Staaten mißachtet. Es fehlt eben die Möglichkeit der Sanktionierung durch ein unabhängiges Gericht.
AntwortenLöschenIn der Praxis bedeutet also der Verzicht auf die Konstitutionalisierung einer Schuldenbremse den Verzicht auf die konsequente Anwendung dieser Wirtschaftsoption. Die Entscheidung für oder gegen diese Option kann nicht bei jeder demokratischen Wahl neu getroffen werden. Damit bildet schon der Wille zur Errichtung und Einhaltung einer Schuldenbremse eine Eingrenzung der Demokratie und nicht erst deren Konstitutionalisierung. Die Rechtfertigung für diesen Eingriff kann nur der langfristige Erhalt der demokratischen Ordnung sein, die durch die Schuldenlast und ihre Konsequenzen weitaus stärker bedroht wird als durch die Schuldenbremse.
@Chemical Brother: Das ist sicher ein Argument für eine Schuldenbremse an sich, aber nicht für die Schuldenbremse, wie sie im Fiskalpakt vorgesehen ist. Wie ich hier ausführlicher geschrieben habe, darf für eine Aufrechterhaltung der staatlichen Gesamtschuldenquote die jährliche Durchschnittsneuverschuldung nicht die Summe aus langfristigem BIP-Wachstum (ca. 1-1,5%) und Inflation (ca. 2%) überschreiten. Will man also einen ständigen Anstieg der Schuldenlast vermeiden, so braucht man eine Schuldenbremse von konjunkturbereinigt ca. 3-3,5% des BIP. Eine Schuldenbremse von 0,5% des BIP, wie im Fiskalpakt vorgesehen, führt dagegen faktisch zu einer permanenten Senkung des Gesamtschuldenstands und erzwingt damit einen Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsleben, was schon deutlich über das Ziel eines "langfristigen Erhalts der demokratischen Ordnung" hinausgeht.
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