Gewöhnlich glaubt der
Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch
was denken lassen.
Goethe, Faust I
Ein Gutes hatte die
geradezu hysterische Aufregung, mit der die Öffentlichkeit
die – am Ende dann doch erfreulich langweilige – ESM-Entscheidung
des deutschen Bundesverfassungsgerichts am vergangenen Mittwoch erwartete:
Gleichzeitig mit der Urteilsverkündung nämlich hielt
Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) vor dem
Europäischen Parlament seine jährliche Rede zur Lage der
Europäischen Union (hier der Wortlaut, hier das Sitzungsprotokoll samt Video); und weil es so schön
passte, deckten zahlreiche Online-Medien diese Rede in den
Livetickern mit ab, die sie für das ESM-Urteil eingerichtet hatten.
Für zahlreiche deutsche Unionsbürger dürfte dies das erste Mal
gewesen sein, dass sie davon erfuhren, dass es eine solche Rede zur
Lage der Union überhaupt gibt.
In dieser Rede kündigte
Barroso unter anderem Pläne für eine Vertiefung der Wirtschafts-
und Währungsunion, insbesondere durch die rasche Einrichtung einer
gemeinsamen Bankenaufsicht an. Außerdem sprach er sich für eine
wichtigere Rolle der europäischen Parteien, für das
EZB-Anleihenkaufprogramm und für die Einrichtung einer europäischen
Staatsanwaltschaft aus.
Höhepunkt der Rede jedoch war zweifellos der Abschnitt, in dem er erklärte, dass die Kommission noch vor der Europawahl 2014 Vorschläge für eine neue Reform der EU-Verträge vorlegen werde. Eine solche Reform sei zwar schwierig, aber notwendig, da der derzeitige institutionelle Rahmen nicht mehr genüge, um eine „echte Wirtschafts- und Währungsunion“ und eine „politische Union“ zu erreichen (die Barroso zufolge wiederum die Voraussetzung dafür sind, um „unsere Werte, unsere Freiheit und unseren Wohlstand in die Zukunft einer globalisierten Welt zu übertragen“). Ziel dieser Vertragsreform müsse eine „demokratische Föderation von Nationalstaaten“ sein:
Höhepunkt der Rede jedoch war zweifellos der Abschnitt, in dem er erklärte, dass die Kommission noch vor der Europawahl 2014 Vorschläge für eine neue Reform der EU-Verträge vorlegen werde. Eine solche Reform sei zwar schwierig, aber notwendig, da der derzeitige institutionelle Rahmen nicht mehr genüge, um eine „echte Wirtschafts- und Währungsunion“ und eine „politische Union“ zu erreichen (die Barroso zufolge wiederum die Voraussetzung dafür sind, um „unsere Werte, unsere Freiheit und unseren Wohlstand in die Zukunft einer globalisierten Welt zu übertragen“). Ziel dieser Vertragsreform müsse eine „demokratische Föderation von Nationalstaaten“ sein:
Let’s not be afraid of the words: we will need to move towards a federation of nation states. This is what we need. This is our political horizon. This is what must guide our work in the years to come. Today, I call for a federation of nation states. Not a superstate. A democratic federation of nation states that can tackle our common problems, through the sharing of sovereignty in a way that each country and each citizen are better equipped to control their own destiny.
Wie
das genau aussehen sollte, ließ Barroso offen: Erst einmal sei „eine
ernsthafte Diskussion zwischen den Bürgerinnen und Bürgern Europas
über die Zielrichtung unseres weiteren Vorgehens“ notwendig.
Dennoch löste sein Appell sowohl unter den anwesenden
Europaabgeordneten als auch in den Medien starke und ganz
unterschiedliche Reaktionen aus – insbesondere über die Frage, was
man sich unter einer solchen „Föderation von Nationalstaaten“
überhaupt vorzustellen habe.
Die Rückkehr des F-Worts
In
Deutschland war diese Debatte zuerst von einer etwas eigentümlichen
Begrifflichkeit geprägt: Der Übersetzungsdienst der Europäischen
Kommission nämlich hatte in der amtlichen deutschen Fassung der Rede
das Wort „federation“ mit „Bund“ übersetzt, woraus die
Deutsche Presse-Agentur (und mit ihr ein Großteil der deutschen Medien) dann einen „Staatenbund“ machte. Ein Staatenbund
aber ist nach gängiger Terminologie die loseste Form eines
zwischenstaatlichen Zusammenschlusses – und damit genau das
Gegenteil einer Föderation. In späteren Versionen immerhin
korrigierten die meisten Medien ihre Wortwahl.
Denn
Barrosos Aufruf, „keine Angst vor dem Wort“ zu haben, ergibt nur
Sinn, wenn man seine Rede in die breitere europapolitische
Auseinandersetzung um den Begriff „föderal“ einordnet. Seit den
1940er Jahren wurde dieser von der Union Europäischer Föderalisten
gebraucht, die sich für einen demokratischen kontinentalen
Bundesstaat einsetzten. Anfang der 1990er Jahre wurde dies in den
Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht aufgegriffen, wo im ersten
Vertragsentwurf von einer „federal vocation“ der EU die Rede war.
Dies stieß jedoch auf vehemente Ablehnung der damaligen britischen
Regierung, sodass das „F-Wort“ in Maastricht zu einem zentralen
Streitthema wurde. Am Ende wurde der Begriff im Vertragstext
gestrichen und seitdem von Kommission und Rat behutsam vermieden.
Dass Barroso
nun auf das Wort zurückgriff, wurde deshalb von vielen Befürwortern
einer vertieften und demokratischeren Integration mit Freude
wahrgenommen. So stellte etwa Eva Peña
in ihrem spanischsprachigen Blog Eva en Europa fest, dass sich Barroso „selbst übertroffen“ habe und dass es gut sei, dass die Kommission
„ohne Komplexe Position bezieht“.
Betonung des Nationalen
Doch
ganz so eindeutig war Barroso dann doch nicht: Tatsächlich löste
seine Formulierung gerade unter den Föderalisten im Europäischen
Parlament auch Kritik aus. Insbesondere der liberale
Fraktionsvorsitzende Guy Verhofstadt (Open-VLD/ELDR) erklärte, das
Ziel könne nicht eine „Föderation der Nationalstaaten“, sondern
nur eine „föderale Union der europäischen Bürger“ sein: Nötig
sei nicht noch mehr Macht für den Europäischen Rat, in dem die
nationalen Regierungschefs versammelt sind, sondern ein
„post-nationales“ Europa, das die Bürger selbst in den
Mittelpunkt stelle (und, wie man unterstellen darf, das von den
Bürgern direkt gewählte Europäische Parlament). Barroso antwortete
hierauf in etwas zweideutiger Weise, indem er davor warnte, zu
„übereifrig“ zu sein, und indem er seine „demokratische
Föderation der Staaten“ indirekt mit einer „Föderation der
Bürger, einer Union für die Bürger Europas“ gleichsetzte.
Dass
der Kommissionspräsident also nicht bereit war, auf seine Betonung
der Nationalstaatlichkeit zu verzichten, führte dazu, dass einige
Kommentatoren seine Rede gerade als (wenn auch sorgsam verkleidete) Zurückweisung des klassischen Föderalismus interpretierten. Protesilaos
Stavrou sah in seinem Blog vor
allem ein Bestreben Barrosos, „die existierende
intergouvernementale Ordnung zu stärken und ihr einen stärker
zentralisierten Charakter zu geben“. Ein solches
intergouvernementales („konföderales“) System jedoch sei nicht
nur viel komplizierter als ein föderales Europa, sondern könne
anders als dieses auch niemals wirklich demokratisch werden.
Für Staatsrechtler ist die EU längst schon ein „Bund“
Was
also will Barroso uns mitteilen? Das Rätsel um seine Formulierung
wird auch nicht klarer, wenn man sich den Stand der
verfassungsrechtlichen Debatte über das Wesen der Europäischen
Union ansieht. So ist es unter Europarechtlern längst eine
Selbstverständlichkeit, dass sich die heutige EU mit traditionellen
Konzepten von Souveränität nicht mehr angemessen beschreiben lässt,
da in ihrem politischen System kein Letztentscheidungsorgan
existiert. Insbesondere gibt es keine klare Hierarchie zwischen
Europarecht und nationalem Verfassungsrecht, und sowohl der
Europäische Gerichtshof als auch die nationalen Verfassungsgerichte
nehmen für sich in Anspruch, die höchste judikative Instanz ihres
jeweiligen Rechtssystems zu sein. Dadurch entsteht ein rechtliches
Spannungsverhältnis, der sogenannte Verfassungspluralismus.
Hinfällig ist damit aber auch das Begriffspaar „Bundesstaat“ und
„Staatenbund“, das jeweils eine klare Souveränitätsordnung
voraussetzt. Staatsrechtler wie Armin von Bogdandy, Christoph Schönberger, Olivier Beaud
oder Claudio Franzius sind deshalb schon seit Jahren dazu
übergegangen, für die EU einen neuen Begriff zu verwenden: nämlich
„Bund“ oder
„Föderation“.
Weshalb
aber sollte man die EU zu einer „Föderation“ weiterentwickeln,
wenn sie das längst schon ist? Die einzig sinnvolle Antwort darauf
ist wohl, dass Barroso den Begriff in einer anderen Weise gebraucht
als die Juristen. Was genau er sagen wollte, wenn er überhaupt etwas sagen wollte, wird sich jedoch
erst dann zeigen, wenn die Kommission konkret wird und
tatsächlich vor der nächsten Europawahl Vorschläge für eine
Vertragsreform vorlegt.
Was
ich unter Föderalismus verstehe
Ist also das ganze Gerede über das
F-Wort nichts als Schall und Rauch? In einem Blog, das den Titel
Der (europäische)
Föderalist trägt,
würde man es sich wohl allzu einfach machen, wenn man den Begriff
vollständig als hohle Phrase abtäte, und darum will ich hier noch
in ein paar Worten skizzieren, was ich selbst für die wichtigsten Elemente einer „föderalistischen“ Vertragsreform hielte.
Mit den Verfassungspluralisten teile ich die Ansicht, dass die
Kategorie der Souveränität in Europa keine zentrale Bedeutung mehr
spielt. Ziel der europäischen Integration braucht nicht ein nach
außen und innen souveräner Bundesstaat nach Art der „Vereinigten
Staaten von Europa“ zu sein. Rechtlich ist die EU schon heute eine
Föderation – politisch jedoch sind in ihr einige Werte
des Föderalismus noch nicht ausreichend verwirklicht. Dies betrifft speziell das
Subsidiaritätsprinzip und die demokratische Kontrolle.
Das Subsidiaritätsprinzip besagt,
dass jede politische Frage auf der niedrigsten staatliche Ebene
gelöst werden sollte, auf der dies sinnvoll möglich ist. Dies
bedeutet zum einen, dass die EU keine Zuständigkeiten an sich ziehen
sollte, wo die Mitgliedstaaten ebenso effizient tätig sein können.
Es bedeutet zum anderen aber auch, dass die Kompetenz über Bereiche,
in denen Entscheidungen einzelner Mitgliedstaaten gravierende
Auswirkungen auf die Bürger anderer Staaten haben können, auf der
gemeinsamen europäischen Ebene liegen muss. Und während das erste
Problem – ein Übermaß an Unionskompetenzen – bislang eher
selten vorkommt, ist das zweite, wie nicht zuletzt die Eurokrise
zeigt, nur allzu verbreitet. Insbesondere in der Wirtschafts-,
Steuer- und Sozialpolitik, aber zum Beispiel auch in Energiefragen
(etwa was die Sicherheit von Atomkraftwerken betrifft) bräuchte eine
föderale EU deshalb mehr Befugnisse; und um die
Kompetenzverteilung auch in Zukunft flexibel an die Erfordernisse der
sich verändernden Welt anpassen zu können, sollte optimalerweise
das nationale Vetorecht bei künftigen Vertragsreformen abgeschafft werden.
Die Frage der demokratischen
Kontrolle wiederum geht Hand in Hand mit dem Konzept der
Unionsbürgerschaft. Wie Guy Verhofstadt betont hat, kann die
Forderung nach mehr Kompetenzen für die EU leicht zu einer Stärkung
des Europäischen Rates führen, in dem die nationalen Regierungen
versammelt sind. Eine solche Herrschaft durch die nationalen
Exekutiven aber ist von der Logik nationaler Interessengegensätze geprägt, in der
die Einwohner der Union zunächst als Mitglieder eines nationalen
Staatsvolks gesehen werden und demokratische Legitimation nur durch die nationalen Wahlen entsteht. Aus föderalistischer Sicht hingegen gibt
es keine „Völker“, sondern nur Bürger, die sich auf
verschiedenen politischen Ebenen zusammengeschlossen haben – und auf
jeder einzelnen dieser Ebenen gleichberechtigt sind. Versteht man die
Europäer solcherart als gleichberechtigte Unionsbürger, dann sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten im Wesentlichen von denjenigen politischen Gremien geregelt
werden, die sie auch gemeinsam gewählt haben. Dabei mag es zu einer
besseren Verzahnung der Ebenen sinnvoll sein, dass es auch
intergouvernementale Organe wie den Europäischen Rat gibt. Die wichtigste Legitimationsquelle einer
föderalen Union aber muss die Europawahl sein, und ihr institutioneller Mittelpunkt deshalb das Europäische
Parlament, dem auch die Europäische Kommission verantwortlich wäre.
Ich weiß nicht, ob Barroso sämtliche dieser Ansichten teilt. Jedenfalls darf man gespannt sein, was davon sich am Ende in den Vorschlägen wiederfinden wird, die
er in den nächsten anderthalb Jahren präsentieren will.
Bis dahin aber wird die „demokratische Föderation der
Nationalstaaten“ wohl ein Schlagwort bleiben, das jeder nach seinem
Geschmack mit Inhalt füllen kann. Und schließlich hat der Kommissionspräsident selbst uns um eine „ernsthafte Diskussion […] über die Zielrichtung unseres weiteren Vorgehens“ gebeten.
Bild: Kremlin.ru [CC-BY-3.0], via Wikimedia Commons.
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