- Der designierte Klimakommissar Miguel Arias Cañete (PP/EVP) hat es zuletzt auch auf Twitter zu einiger Bekanntheit gebracht.
Nein, ein triumphaler
Durchmarsch ist es nicht gerade, was die designierten Mitglieder der
neuen Europäischen Kommission im Europäischen Parlament derzeit
erleben. Bei den Anhörungen, die am vergangenen Montag begonnen
haben und noch bis zum morgigen Dienstag andauern (mit
Livestream auf der Website des Parlaments), stellten sich bislang
21 der 27 Kommissarsanwärter den Fragen der Abgeordneten – und in
nicht weniger als sechs Fällen beschlossen diese, ihre Zustimmung
zur Ernennung der Kandidaten zunächst zurückzuhalten und von
weiteren Informationen abhängig zu machen. Die Aufregung ist deshalb
groß, die Sorge vor einem Fehlstart der Kommission macht die Runde.
Zugleich sehen sich aber auch die Parlamentarier Kritik ausgesetzt:
Verbirgt sich hinter ihrem Zögern nur ein Machtspiel? Dass es bei
den Anhörungen nicht immer nur um die fachliche Kompetenz der
Kandidaten geht, scheint offensichtlich zu sein. Aber andererseits:
Wäre das wirklich ein Problem?
Die Anhörungen im
Europäischen Parlament
In aller Kürze zu den
Hintergründen des Verfahrens: Nach Art.
17 Abs. 7 EU-Vertrag werden die Mitglieder der neuen Europäischen
Kommission von den nationalen Regierungen vorgeschlagen und vom
EU-Ministerrat nominiert. Anschließend verteilt der designierte
Kommissionspräsident zwischen ihnen die Zuständigkeitsbereiche. Und
schließlich müssen sich alle Kandidaten noch einem Zustimmungsvotum
des Europäischen Parlaments stellen. Dabei können die Abgeordneten
formal nur das Kollegium als Ganzes annehmen oder ablehnen. Wenn es
nur mit einzelnen Kommissaren unzufrieden ist, kann es den Rat vor
der Abstimmung aber auch informell auffordern, seinen Vorschlag
abzuändern.
Zu diesem Zweck finden
die Anhörungen statt, bei denen jeder einzelne Kommissarsanwärter
jeweils drei Stunden lang von Mitgliedern der Parlamentsausschüsse
befragt wird, die für sein jeweiliges Ressort zuständig sind. Die
Ausschüsse geben dann eine Empfehlung, ob sie den Kandidaten für
geeignet halten. Auf dieser Grundlage erfolgt zuletzt die
entscheidende Abstimmung im Parlamentsplenum. Nach dem derzeitigen
Zeitplan ist sie für den 22. Oktober angesetzt – anderthalb
Wochen, bevor die neue Kommission am 1. November ihr Amt antreten
soll.
In der Vergangenheit
nutzte das Parlament sein Zustimmungsrecht bereits mehrfach, um
kleinere Änderungen in der Besetzung der Kommission zu erzwingen.
2004 verhinderte es die Ernennung des
designierten Justizkommissars Rocco Buttiglione (FI/EVP), der
zuvor durch homophobe und sexistische Äußerungen aufgefallen war.
2010 war es die
designierte Kommissarin für humanitäre Hilfe, Rumjana Schelewa
(GERB/EVP), die vom Parlament wegen unklaren Informationen zu
ihren finanziellen Verhältnissen abgelehnt wurde. Daneben musste
2010 auch
die Kommissarin für digitale Agenda Neelie Kroes (VVD/ALDE)
„nachsitzen“. Nach einer zweiten Anhörung erhielt sie aber
doch noch die Bestätigung des Parlaments.
Die Wackelkandidaten
In diesem Jahr allerdings
ist die Zahl dieser Nachsitzer so hoch wie noch nie zuvor. Dabei sind
die Vorwürfe, mit denen sich die betreffenden Kandidaten
auseinandersetzen müssen, durchaus vielfältig:
● Dass der Brite
Jonathan Hill (Cons./AECR) als Finanzmarktkommissar designiert wurde,
stieß im Parlament von Anfang an auf Kritik. Nicht nur, dass
Großbritannien in der Bankenpolitik sehr starke Eigeninteressen hat
– der britische Premierminister David Cameron (Cons./AECR) hatte
bei seiner Nominierung auch noch explizit
erklärt, dass Hill „die britischen Interessen in Brüssel
voranbringen“ solle. In seiner Anhörung musste Hill deshalb
mehrmals betonen, dass er sich natürlich in erster Linie dem
europäischen Gesamtinteresse verpflichtet sehe. Zu seinen konkreten
politischen Absichten als Kommissar blieben
jedoch zahlreiche Fragen offen, weshalb die Parlamentarier eine
neue Anhörung verlangten.
● Auch der Spanier
Miguel Arias Cañete (PP/EVP)
hatte von Beginn an einen schlechten Stand, nachdem er als nationaler
Spitzenkandidat seiner Partei im Europawahlkampf im Mai mit
sexistischen Äußerungen aufgefallen war. Hinzu kam, dass der
designierte Kommissar für Klima und Energie bis vor kurzem selbst an
einem Ölunternehmen beteiligt war – und einige seiner
Familienmitglieder dies noch immer sind. In einer turbulenten
Anhörung entschuldigte sich Cañete (zum wiederholten Mal) für
seine Äußerungen im Wahlkampf, wies den Vorwurf eines
Interessenkonflikts jedoch zurück. Die Abgeordneten beschlossen
deshalb, den Fall zunächst vom
Rechtsausschuss überprüfen zu lassen und ihre Zustimmung bis
dahin zurückzustellen.
● Dem
Ungar Tibor Navracsics (Fidesz/EVP), designierter Kommissar für
Bildung, Kultur, Jugend und Unionsbürgerschaft, wird vor allem seine
bisherige Rolle in der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán
(Fidesz/EVP) vorgeworfen. Als Justizminister und Vizeregierungschef
war er seit 2010 an
zahlreichen umstrittenen Reformen beteiligt, von denen er sich
nun nur
mit Mühe distanzierte.
● Der
Franzose Pierre Moscovici (PS/SPE) war als Kommissar für Wirtschaft
und Finanzen bereits umstritten, bevor er überhaupt offiziell für
dieses Amt nominiert worden war: Bereits im Sommer versuchte die
deutsche Bundesregierung seine
Ernennung zu hintertreiben. Hauptgrund dafür sind
unterschiedliche wirtschaftspolitische Überzeugungen. Während
Moscovici (ebenso wie die französische Regierung und die meisten
europäischen Sozialdemokraten) für die Überwindung der Eurokrise
mehr öffentliche Investitionen anstrebt und dafür auch eine höhere
Verschuldung der Mitgliedstaaten akzeptieren will, setzt die
Bundesregierung (in Übereinstimmung mit den europäischen
Christdemokraten) weiterhin auf einen harten Sparkurs und
Strukturreformen. Entsprechend war Moscovici auch im Parlament vor
allem konservativer Kritik ausgesetzt; schließlich wurde eine
zweite Anhörung anberaumt.
● Die
designierte
Justizkommissarin Věra
Jourová (ANO/ALDE) und die Kommissarin
für Regionalpolitik Corina Crețu (PSD/SPE) schließlich sahen
sich vor allem dem Vorwurf mangelnder Vorbereitung ausgesetzt: Zu
unkonkret und unklar seien ihre Antworten geblieben. In beiden Fällen
forderten die Abgeordneten deshalb noch weitere Informationen, bevor
sie grünes Licht geben.
Was ist von all dem
Streit zu halten?
Was also ist von all dem
Streit zu halten? Ist die neue Kommission weniger kompetent als ihre
Vorgänger? Ist die Strategie des Kommissionspräsidenten Jean-Claude
Juncker (CSV/EVP) gescheitert, der viele Ressorts gerade
an jene Kandidaten verteilte, die dafür wegen ihres nationalen oder
politischen Hintergrunds zunächst eher unplausibel erschienen?
Oder zerlegt
sich gerade die Große Koalition, die sich nach der Europawahl
deutlich als
altes und neues Machtzentrum im Europäischen Parament abzeichnet
hatte?
In meinen Augen sind die
Vorgänge, die derzeit in den Anhörungen zu beobachten sind, weitaus
weniger dramatisch: Wie die Neue Zürcher Zeitung vor
einigen Tagen formulierte, handelt es sich dabei in erster Linie
um „parteipolitische Muskelspiele“ – und es ist sehr gut
möglich, dass am Ende kein einziger der jetzt umstrittenen
Kandidaten auf das Amt, für das er vorgesehen ist, verzichten muss.
Politische Geiselnahme
Betrachtet man den
Verlauf der Debatte in den letzten Wochen, wird die parteitaktische
Dimension der verzögerten Bestätigungen sehr deutlich. Die beiden
Kandidaten, die in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit auf
die größte Ablehnung stießen, waren zunächst Cañete
und Navracsics. So wandten sich sowohl das European
Civic Forum als auch die Junge
Europäische Bewegung in offenen Briefen gegen die Ernennung
Navracsicsʼ; gegen Cañete gab es unter anderem eine öffentliche
Demonstration auf dem Vorplatz des Europäischen Parlaments, eine
Online-Petition
und den recht erfolgreichen Twitter-Hashtag StopCanete.
Nun
gehören Cañete und Navracsics jedoch beide der christdemokratischen
Europäischen Volkspartei an – ebenso wie Rocco Buttiglione und
Rumjana Schelewa, die 2004 und 2010 in den Anhörungen durchfielen.
Hätte das Parlament einem von ihnen die Zustimmung versagt, so wäre
dies also bereits das dritte Mal in Folge gewesen, dass ein
christdemokratischer Kandidat in den Anhörungen scheitert. Es ist
nachvollziehbar, dass die EVP dies nicht auf sich sitzen lassen
wollte. Und da Pierre Moscovici mit seiner „linken“
wirtschaftspolitischen Agenda vielen Konservativen ohnehin ein Dorn
im Auge ist, nahmen sie ihn nun gewissermaßen als politische Geisel:
Sollten die europäischen Sozialdemokraten Cañete oder Navracsics
stürzen wollen, so müssten sie damit rechnen, dass im Gegenzug die
EVP auch einem der ihren die Zustimmung versagt.
Eine
Eskalation würde die ganze Kommission in Frage stellen
Die
übrigen „Nachsitzer“ komplettieren dieses Bild: Mit Jourová und
Hill sind darunter noch zwei Vertreter der beiden anderen
europäischen Parteien, die an der Kommission beteiligt sind (die
liberale ALDE und die nationalkonservative AECR). Auch deren
Fraktionen wissen also, dass sie bei einem Votum gegen Cañete,
Navracsics oder Moscovici mit einem Gegenschlag gegen einen ihrer
Parteifreunde rechnen müssten.
Dass
es zuletzt soweit kommt, ist aber eher unwahrscheinlich: Schließlich
wissen alle Parteien, dass eine Eskalation schnell die Kommission
Juncker insgesamt in Frage stellen würde. Insbesondere Moscovici
dürfte schlicht zu wichtig für das politische Gleichgewicht sein,
um an parteitaktischen Spielen zu scheitern: Neben dem Ersten
Vizepräsidenten Frans Timmermans (PvdA/SPE) und der Außenkommissarin
Federica Mogherini (PD/SPE) ist er der prominenteste Vertreter der
europäischen Sozialdemokraten in der neuen Kommission – und zudem
der einzige mit einem bedeutenden wirtschaftspolitischen Ressort.
Ohne ihn ist es deshalb fraglich, ob die Sozialdemokraten der
Kommission insgesamt zustimmen werden. Ohne die Sozialdemokraten aber
gäbe es in der Schlussabstimmung wohl keine Mehrheit. Und daran hat
keine einzige der großen Parteien ein Interesse.
Ein
ganz normaler politischer Prozess
Womit
wir es bei den jüngsten Vorfällen in den Anhörungen zu tun haben,
ist also ein ganz normaler politischer Prozess: Damit die Kommission
ins Amt kommen kann, braucht sie die Zustimmung der großen
europäischen Parteien. Diese müssen sich also zu einer Art
Koalition zusammenfinden, wobei jede Seite versucht, die Posten ihrer
eigenen Parteimitglieder zu sichern. Dabei mag die Parteibasis (und
die Öffentlichkeit) einzelne Kandidaten der jeweils anderen Partei
ablehnen: Hill und Navracsics mögen den Sozialdemokraten und
Liberalen zu „rechts“, Moscovici den Christdemokraten und
Konservativen zu „links“ sein. Aber wenn man Kandidaten des
Koalitionspartners verhindern will, dann muss man in Kauf nehmen,
dass sich dieser auch in die eigenen Personalia einmischt. Und
deshalb kommt man am Schluss meist zu einer Einigung, bei der jeder
einfach die Kandidaten der Gegenseite akzeptiert.
Dass
dieser recht alltägliche Vorgang auf europäischer Ebene solch hohe
Wellen schlägt, liegt an einigen Besonderheiten des EU-Systems –
insbesondere daran, dass die Kandidaten in erster Linie von ihren
nationalen Regierungen ausgewählt wurden und nicht von ihren
europäischen Parteien. Die Verhandlungen zwischen den Fraktionen im
Europäischen Parlament beginnen deshalb erst, wenn die Namen bereits
auf dem Tisch liegen. Vieles, was in nationalen Koalitionsgesprächen
diskret hinter verschlossenen Türen geklärt wird, wird deshalb auf
EU-Ebene in aller Öffentlichkeit ausgetragen. Die wesentliche
politische Logik dahinter aber bleibt dieselbe.
Die
Vorstellung, dass die Anhörungen im Europäischen Parlament in
erster Linie dazu dienen würden, die fachliche Eignung der
Kommissare zu überprüfen, ist naiv. Sowohl die Kommission als auch
das Parlament sind politische, nicht technokratische Organe, und
darum werden sie eben auch politisch besetzt. Wenn wir Bürger
Cañete, Moscovici oder irgendeinen anderen Kandidaten für
ungeeignet halten, dann sollten wir also nicht darüber klagen,
wen uns die EU da schon wieder als Kommissar vorsetzt. Sondern wir
sollten darauf achten, welcher europäischen Partei sie angehören –
und bei der nächsten Europawahl gegebenenfalls eine andere wählen.
Bilder: by La Moncloa Gobierno de España (lamoncloa_gob_es) [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
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