10 Dezember 2018

„Das Spitzenkandidaten-Verfahren kann dazu beitragen, dass Personen wie Viktor Orbán Einfluss gewinnen“: Ein Interview mit Lars Becker

Lars Becker.
Die Nominierung von Spitzenkandidaten für die Wahl des Kommissionspräsidenten bedeutete einen Fortschritt für die europäische Demokratie: Darin waren sich Freunde der europäischen Integration lange Zeit einig. Entsprechend breit ist die Zustimmung zu dem neuen Verfahren – von der Union Europäischer Föderalisten über das Europäische Parlament selbst bis zum Autor dieses Blogs. Ablehnung kam 2014 hingegen vor allem aus den Reihen jener, die das supranationale Europa ohnehin mit Skepsis sehen, etwa David Cameron (Cons./AKRE) oder Viktor Orbán (Fidesz/EVP). Umso befremdlicher war es für viele, als in den vergangenen Monaten auch einige prominente Proeuropäer scharfe Kritik am Spitzenkandidaten-Verfahren äußerten, etwa der französische Präsident Emmanuel Macron (LREM/–) und der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE).

Zu diesen proeuropäischen Skeptikern gehört auch Lars Becker, Mitglied im Bundesvorstand der Europa-Union Deutschland. Zeit für ein klärendes Gespräch.

Warum Spitzenkandidaten?

D(e)F: In einer parlamentarischen Demokratie sollte die Exekutive vom gewählten Parlament ernannt werden, nicht diplomatisch zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt. Die Spitzenkandidaten waren das Instrument, um dieses Prinzip wenigstens für den Präsidenten der EU-Kommission durchzusetzen. Das neue Verfahren ist nicht perfekt, aber es wieder abzuschaffen, würde bedeuten, das Ruder wieder allein dem Europäischen Rat zu überlassen. Welcher Teil dieser Argumentation überzeugt Dich nicht?

Lars Becker: Um ehrlich zu sein: mehrere. Angefangen bei der Generalisierung über den idealen Aufbau einer parlamentarischen Demokratie – es gibt in manchen Ländern auch direkt gewählte Staats- und Regierungschefs – über die implizite Annahme, dass das Instrument den Zielen gerecht würde. Ich habe insbesondere in den letzten beiden Jahren bei vielen Gesprächen festgestellt, dass es unter Proeuropäern und Föderalisten zwar eine große Einigkeit darin gibt, dass Spitzenkandidaten irgendwie eine gute Idee seien, dass die Gründe hierfür aber weit auseinander gehen.

So gibt es zum Beispiel jene, die mit dem Instrument lediglich die Hoffnung auf mehr Öffentlichkeit verbinden und die (meines Erachtens etwas naive) Annahme haben, dass nur mangelnde Personalisierung das Problem sei. Und es gibt jene, für die die Spitzenkandidaten auch ein Mittel sind, um die Politisierung der Kommission voranzutreiben.

Nur ein kleiner Baustein

Bleiben wir erst einmal bei letzterer Position: Ist es angesichts der zunehmend politischen (und nicht nur technischen) Aufgaben der Europäischen Kommission nicht wünschenswert, dass eine solche Politisierung stattfindet – und dadurch die europäischen Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit bekommen, mit demokratischen Verfahren auf den Kurs der EU einzuwirken?

Natürlich. Ich teile die Sicht, dass wir eine Politisierung der Kommission brauchen. Ich glaube aber nicht, dass uns die Spitzenkandidaten allein dabei weiterhelfen. Sie sind ein kleiner Baustein, in einem ganzen Set von Bausteinen, die wir bräuchten. Jean-Claude Juncker spricht zwar oft davon, dass er eine politische Kommission führe – aber was heißt denn das genau? Ich würde bezweifeln, dass diese Kommission, wenn man sie nach ihrem Handeln bewertet, politischer ist als zum Beispiele die früheren Kommissionen von Walter Hallstein oder Jacques Delors.

Momentan sehen wir, dass die „Politisierung“ über Spitzenkandidaten eher Probleme verstärkt als löst. Der durchschnittliche wahlberechtigte Bürger nimmt keine Veränderung im Politisierungsgrad der Kommission wahr, während viele Mitgliedstaaten zunehmend argwöhnisch auf die Kommission sehen und sich sicherlich viele Akteure schon überlegen, was sie dieser von ihnen als Problem wahrgenommenen Politisierung entgegenstellen.

Personalisierung allein ist nicht das Ziel

Dass das Spitzenkandidaten-Verfahren nur ein erster Schritt sein kann, sehe ich ebenso: Um die Kommission wirklich parlamentarisch verantwortlich zu machen, müsste sich erstens das Ernennungsverfahren auch für die übrigen Kommissare ändern und zweitens die Möglichkeit eines Misstrauensvotums deutlich gestärkt werden.

Dennoch ist das neue Verfahren immerhin ein Anfang. Schon 2014 erfuhren die Spitzenkandidaten insgesamt mehr mediale Aufmerksamkeit als andere Europawahl-Kandidaten vor ihnen. Und das, obwohl 2014 ja noch eine Art Testlauf war: Viele Journalisten und andere Beobachter glaubten damals nicht an einen Erfolg des Verfahrens. Wenn die Spitzenkandidaten zur Normalität werden, dürfte sich ihre Sichtbarkeit auch in der breiten Öffentlichkeit deutlich erhöhen.

Und auch auf die Qualität der Personalauswahl scheint das Spitzenkandidaten-Verfahren eher einen positiven Einfluss zu haben: Hallstein und Delors waren Ausnahmefiguren in Umbruchszeiten. Die übrigen Kommissionspräsidenten in den letzten Jahrzehnten – Jacques Santer, Romano Prodi, José Manuel Durão Barroso – blieben in Sachen Charisma und politische Durchsetzungskraft hingegen deutlich hinter Juncker zurück.

Natürlich erfuhren die Spitzenkandidaten mehr Aufmerksamkeit! Wenn jeder Abgeordnete vorher im Durchschnitt 20 Interviews gegeben hat und ein Spitzenkandidat auf einmal 500, dann ist das ein signifikanter Anstieg, der ihnen mehr Aufmerksamkeit beschert. Aber trotz dieses Mehr an Aufmerksamkeit für die einzelnen Kandidaten maßen die meisten Wähler den Wahlen nicht wesentlich mehr Bedeutung bei als zuvor. Ich habe jedenfalls keine Studien gesehen, die mich zu der Annahme verleiten würden, dass die Spitzenkandidaten auf die Wählerschaft eine starke Auswirkung hinsichtlich der Bedeutung der Wahlen oder bei der Entscheidungsfindung gehabt hätten. Personalisierung alleine ist ja nicht das Ziel. Das Ziel ist eine Politisierung, die perspektivisch demokratische Alternanz mit klaren politischen Richtungsentscheidungen ermöglichen soll.

Und ja, klar: Juncker war ein Glücksfall, der durch die Spitzenkandidaten möglich wurde. Aber das war eben nur einer von vielen Kontextfaktoren. Der nächste Kommissionspräsident könnte Manfred Weber sein – nicht trotz, sondern wegen des Spitzenkandidaten-Verfahrens. Für Viktor Orbán und Co. wird das Spitzenkandidatensystem in der jetzigen Form jedenfalls ein Grund sein, sich einer weiteren Europäisierung der Parteien entgegenzustellen: Mit dem jetzigen Delegiertensystem kann man „Probleme“ wie Alex Stubb besser ausschließen, als wenn man lebendige europäische Parteien hätte.

Machtkalküle in der Institutionendebatte

Du siehst das Spitzenkandidaten-Verfahren als Hindernis zu einer weiteren Europäisierung der Parteien? Gerade Orbán hat sich doch sowohl 2014 als auch 2018 gegen das Verfahren ausgesprochen – eben weil er es als Schritt zu mehr Supranationalität versteht.

Das Verfahren ist natürlich nicht als Hindernis gedacht, sondern als Baustein in einer Gesamtstrategie zur Politisierung der Kommission. Wir erleben aber nun, dass das Spitzenkandidatensystem institutionalisiert werden soll, während weitere Maßnahmen von einer relevanten Zahl von Akteuren blockiert werden. Die Zahl der Kommissare soll nicht gesenkt werden, jedes Land soll weiterhin mit einem Kommissar vertreten sein, es soll keine transnationalen Listen zu den Wahlen geben. Es zeichnet sich also ab, dass die weiteren unbedingt notwendigen Schritte nicht verwirklicht werden – auch weil über das institutionelle Setup der EU zunehmend nicht mehr unter dem Gesichtspunkt einer sinnvollen und fairen demokratischen Struktur entschieden wird, sondern aus machttaktischen Kalkülen.

Dass sich dabei ausgerechnet zwischen EVP und ALDE eine Bruchlinie auftut, ist doch kein Zufall. Warum ist die EVP für Spitzenkandidaten und gegen transnationale Listen und Macron (mit der ALDE) für transnationale Listen und gegen Spitzenkandidaten? Ganz einfach: Weil kurz- und mittelfristig der EVP vor allem die Spitzenkandidaten nützen und Macron (und der ALDE) die transnationalen Listen. Die unterschiedlichen Positionen haben weniger damit zu tun, welches Setup für sinnvoll gehalten wird, sondern folgen Machtkalkülen.

Aufgrund dieser Machtkalküle wird es dann aber auch zunehmend schwieriger, die fehlenden Bausteine nachzuholen. Wenn die Spitzenkandidaten sich als neue Normalität etablieren, kann die EVP es sich damit gemütlich machen und alles andere verhindern. Das Ergebnis müsste stattdessen eine Paketlösung sein, bei der Spitzenkandidaten und transnationale Listen zusammen festgeschrieben werden. Langfristig sind Letztere ein viel wichtigeres Vehikel, um das Parlament zu stärken. Die Spitzenkandidaten hingegen haben in ihrer heutigen Form keinen großen Mehrwert und führen momentan eher dazu, dass die machtpolitischen Interessen einer Partei besser bedient werden als die der anderen.

Die zentrale Rolle der EVP

Dass das Spitzenkandidaten-Verfahren einen einseitigen Vorteil für die EVP – als auf absehbare Zeit stärkste Fraktion – darstelle, ist auch von anderen Kritikern wie Guy Verhofstadt zu hören. Allerdings verlangt das Spitzenkandidaten-Verfahren ja nicht zwingend, dass der Kandidat der stärksten Fraktion gewählt wird. Es könnte sich im Europäischen Parlament auch eine Mehrheit ohne die EVP zusammenfinden.

Dass das zurzeit recht unwahrscheinlich ist, liegt an der internen Zersplitterung des Parlaments: Eine Mehrheit ohne die EVP wäre nur unter Beteiligung von Europagegnern oder mit einem wenig realistischen „rot-rot-grün-gelben“ Mitte-Links-Bündnis möglich. Aber diese Zersplitterung ist nun einmal Teil der demokratischen Realität in Europa. Muss man die zentrale Rolle der EVP in unserem Parteiensystem nicht einfach als Folge des Wählerwillens akzeptieren?

So einfach ist es nicht. Hierzulande wählt „die EVP“ der Wähler, der mit den Politikangeboten der CDU/CSU etwas anfangen kann. Über die Politikangebote der Fidesz, die ebenfalls der EVP angehört, weiß er in der Regel nur wenig. Das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit führt dazu, dass die Positionen der Partei im eigenen Land oft übergeneralisiert und die Positionen der anderen Mitgliedsparteien für die Wahlentscheidung nicht mit in Betracht gezogen werden.

Die Stärke der EVP rührt aber genau daher, dass sie extrem heterogen ist und in ihren Reihen neben liberalen auch autoritäre, europaskeptische Parteien hat. Auch wenn Manfred Weber das gerne herunterspielt: Der Grund, warum die EVP Problemfälle wie die Fidesz in den eigenen Reihen duldet, ist der Wunsch, ihre Rolle als stärkste Kraft zu erhalten. Dieser Wunsch wird durch die Spitzenkandidaten noch verstärkt.

Gerade die Institutionalisierung der Spitzenkandidaten kann also dazu beitragen, dass Personen wie Viktor Orbán Einfluss gewinnen. Das ist ein echtes Problem, das man nicht alleine mit einer Argumentation über „den“ Wählerwillen wegwischen kann. Denn Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und ähnliche Dinge sind aus guten Gründen Dinge, die normalerweise nicht über Wahlen verhandelt werden.

Weber und Orbán

Immerhin: Mitte September hat Manfred Weber seine EVP-Fraktion mehrheitlich für den Sargentini-Bericht stimmen lassen, mit dem sich das Europäische Parlament für ein Artikel-7-Verfahren gegen die Fidesz-Regierung aussprach. Nun ist es nicht ganz abwegig, dahinter vor allem taktische Beweggründe zu sehen – die Abstimmung fiel genau in die Tage, in denen der mediale Druck besonders groß war, weil Weber kurz zuvor seine Spitzenkandidaten-Bewerbung angekündigt hatte; und als die öffentliche Aufmerksamkeit danach wieder zurückging, blieben jegliche Folgemaßnahmen innerhalb der EVP aus. Aber trotzdem: Ist es nicht gut, wenn das Spitzenkandidaten-Verfahren Politikern wie Weber größere Sichtbarkeit verschafft und sie auf diese Weise zwingt, sich von zweifelhaften Parteifreunden wie Orbán zu distanzieren?

Das war aber ein Einzelfall. Das letzte Ereignis aus Ungarn, das öffentliche Bedeutung erlangte, war wohl, dass die Central European University aus Budapest nach Wien umziehen muss. Weber hat diesbezüglich noch 2017 von einer „roten Linie“ gesprochen, die Orbán nicht überschreiten dürfe. Jetzt ist er hingegen bemerkenswert still, oder?

Sein Votum für den Sargentini-Bericht wirkt deshalb wie ein „Deal“, der nur dem Wahlkampf dienen sollte. Dass das nur symbolisch war, wurde Orbán gegenüber durch das Votum der restlichen CSU-Kollegen unterstrichen, die alle gegen den Bericht gestimmt haben. Ich vermute, Orbán wird auch weiterhin regelmäßig nach Bayern eingeladen werden, und der stellvertretende CSU-Vorsitzende Weber wird damit wohl auch in Zukunft keine Probleme haben, sondern mit seinem positiv klingenden Ausspruch „Ich will Brücken bauen“ die Einbindung der autoritären Rechten begründen. Wirkliche Distanzierung sieht anders aus.

Nicht in einer Position der Stärke

Zurück zu der Verbindung zwischen Spitzenkandidaten und gesamteuropäischen Listen: Verstehe ich richtig, dass Du die Spitzenkandidaten vor allem taktisch ablehnst, solange kein Durchbruch zu einem voll parlamentarischen Regierungssystem erreicht werden kann?

Ja. Ich glaube, dass wir damit ein Instrument mit gutem Potenzial haben, das aber nur im Zusammenspiel mit anderen Instrumenten wirklichen Nutzen entfalten kann. Und die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass wir diese Instrumente bekommen werden. Im übrigen nicht nur wegen der EVP, sondern auch weil auch unter jenen, die nicht machttaktisch argumentieren, manchmal nur scheinbare Einigkeit besteht. Ich habe im Präsidium meines Verbands zum Beispiel auch schon Diskussionen erlebt, in denen Vertreter der Grünen oder Sozialdemokraten argumentiert haben, dass man auch in Zukunft jedem Mitgliedstaat seinen eigenen Kommissar zubilligen müsse – obwohl das dem Ziel einer Politisierung der Kommission entgegenläuft.

Selbst unter Föderalisten bestehen intern also unterschiedliche Vorstellungen, was mit den Spitzenkandidaten erreicht werden soll. Und mein Eindruck ist, dass dabei jene, die eine echte Politisierung der Institutionen wollen, derzeit nicht in einer Position der Stärke sind. Das muss man berücksichtigen, bevor man jenen, die nur Machtinteressen folgen, die von ihnen gewünschten Instrumente in die Hand gibt.

Der Widerstand wächst

Die „Methode der kleinen Schritte“ hat in der Geschichte der europäischen Integration freilich eine lange Tradition: Man einigt sich auf das Machbare, auch wenn man dabei ein System mit Ungleichgewichten und inneren Widersprüchen produziert – in der bis jetzt meistens zutreffenden Hoffnung, dass die dadurch entstehenden Krisen später produktiv gelöst werden und zu weiteren Fortschritten führen. Die Alternative wären oft nur Stagnation und Rückschritt.

Und ist es bei den Spitzenkandidaten nicht genauso? Sie in ihrer jetzigen Form einfach zu verwerfen, würde wenigstens kurzfristig wohl eher nicht zu einer großen Paketlösung führen, sondern dazu, dass das Parlament als gescheitert gilt und der Europäische Rat die Zügel der Kommissionswahl noch fester in der Hand hält als zuvor.

Diese neofunktionalistische Methode der kleinen Schritte hat lange gut funktioniert und wird in einigen Politikfeldern auch weiterhin noch tragen. Man muss aber sehen, dass diese Theorie problematisch ist, wenn sie zu einer handlungsleitenden Weltanschauung wird. Man landet schnell bei einer Form der Teleologie, das heißt bei der Annahme, dass die Integration am Ende quasi ganz von selbst zu den Vereinigten Staaten von Europa führen würde. Ich glaube mittlerweile, wer das glaubt, macht sich etwas vor.

In allen Politikfeldern, die bei Fragen nationaler Souveränität ans Eingemachte gehen, sind wir nicht viel weiter als vor zwanzig Jahren. Und da die nächsten Integrationsschritte immer dichter an diese zentralen Politikfelder heranführen, sehen wir, dass auf Seiten eher intergouvernementalistischer Vertreter der Widerstand gegen weitere Integrationsmaßnahmen wächst – während umgekehrt auf Seiten der Integrationsbefürworter die normativen Erwartungen an die EU, z.B. an die Demokratisierung ihrer Institutionen oder an ihre Fähigkeit zur Intervention bei nationalen Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit, steigen. Das ist ein Problem.

Auf die Spitzenkandidaten gewendet bedeutet das: Wenn wir das Verfahren in seiner heutigen Form akzeptieren, weil wir hoffen, dass es später ein Baustein für unsere Pläne sein wird – dann akzeptieren wir auch, dass sich die EVP ein Machtinstrument gesichert hat, während sie andere Instrumente, die noch sinnvoller, aber ihr nicht dienlich sind, weiter ablehnen kann. Das Ziel der Orbáns in dieser EU wird sein, auf absehbare Zeit schwache Kommissionen zu produzieren. So paradox es klingt: Spitzenkandidaten in der jetzigen Form können ihnen dabei helfen.

Eine Paketlösung bis 2024

Was wäre in Deinen Augen denn die Alternative? Wäre eine Kommission, deren Präsident wieder vor allem durch den Europäischen Rat ausgewählt wird, denn stärker?

Ich glaube tatsächlich, dass unter jetzigen Bedingungen im Europäischen Rat bessere Chancen auf einen integrationsfreudigen Kommissionspräsidenten bestünden als im Parlament. Durch die Festlegung auf einen Spitzenkandidaten und durch die Ansage, dass nur ein Spitzenkandidat Kommissionspräsident werden darf, gibt es keine einfache Möglichkeit, „schlechte“ Kandidaten wieder abzuräumen. Eine solche blinde Festlegung haben wir bei der Wahl unserer Bundeskanzlerinnen und Bundeskanzler ja übrigens auch nicht.

Es muss gelingen, die Debatte so zu verändern, dass die Spitzenkandidaten nicht mehr als Selbstzweck gelten, sondern als eine Maßnahme, die nur im Zusammenspiel mit weiteren Integrationsschritten erstrebenswert ist. Wir sollten deshalb deutlich machen, dass wir das Spitzenkandidaten-Verfahren für die Zukunft nur dann unterstützen, wenn für den Anfang zumindest auch ein paar Sitze über transnationale Listen eingeführt werden.

Damit hätte man dann gleichzeitig auch die Chance, die starke Selbstzweckorientierung der derzeitigen Debatte zu verschieben in Richtung einer Debatte über das Ziel einer demokratischen, politischen Kommission. Das Ziel muss sein, bis 2024 eine Debatte über eine Paketlösung zu bekommen, denn das könnte für längere Zeit die letzte Chance sein, dass den Spitzenkandidaten etwas folgen wird.

Das Parlament ist in der Pflicht

Und wer hätte aus Deiner Sicht eine realistische Chance, 2019 als Kommissionspräsident gewählt zu werden, um dann bis 2024 eine solche Agenda voranzutreiben?

Hier ist Personalisierung fehl am Platz: Statt auf einen Kommissionspräsidenten zu hoffen, der diese Agenda antreibt, muss das Parlament gestalten. Das Problem in dieser Frage war nicht die Kommission: Juncker hätte bei transnationalen Listen problemlos mitgemacht. Es war das Europäische Parlament, das Fortentwicklungen verhindert hat – und, das muss man so deutlich sagen, dort im Wesentlichen die EVP, nicht die ALDE, die jetzt wegen der Spitzenkandidaten kritisiert wird. Man muss in dieser Frage also die Abgeordneten in die Pflicht nehmen und darf sie nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.

Lars Becker ist stellvertretender Vorsitzender der Europa-Union Hamburg und Mitglied im Bundesvorstand der Europa-Union Deutschland. Die hier geäußerten Positionen geben seine persönliche Meinung wieder.

Dieses Interview wurde im Dezember 2018 als Online-Chat geführt und nachträglich redaktionell bearbeitet.

Bild: Lars Becker (alle Rechte vorbehalten).

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