Ende
eines Zyklus: Im Wahljahr 2019 werden nicht nur das Europäische
Parlament, die Europäische Kommission und die Präsidentschaft des
Europäischen Rates neu besetzt; auch die mittelfristige
Politikplanung der europäischen Institutionen – etwa der
„Fahrplan“
der Kommission oder die „Leadersʼ Agenda“ des Europäischen Rates – ist nur bis zum Horizont
der Europawahl ausgelegt. Entsprechend
geht es derzeit vor allem darum, laufende Vorhaben abzuschließen:
vom Verbot
von Einwegplastik bis zur Reform
der Eurozone, auch wenn Letztere nicht alle Hoffnungen erfüllte.
Sogar den Streit über den italienischen Haushalt legte die Kommission jüngst nach
begrenzten Zugeständnissen der italienischen Regierung bei,
vermutlich um ihn nicht zum zentralen Thema des Europawahlkampfs
werden zu lassen. Die EU ist dabei, mit der ausgehenden Wahlperiode
reinen Tisch zu machen. Was wird das neue Jahr bringen?
Europawahl
und Neubesetzung der Spitzenämter
Über das zentrale
europapolitische Thema 2019, die Europawahl am 23.-26. Mai und die
Neubesetzung von Kommission und Ratspräsidentschaft in den
darauffolgenden Monaten, ist auf diesem Blog regelmäßig und
ausführlich zu lesen: Für eine Übersicht über die wichtigsten
Fragen siehe
hier, für einen Zeitplan der Schlüsselereignisse hier.
An dieser Stelle deshalb nur eine kurze Aufzählung der
wichtigsten Erwartungen:
Falls die Wahlumfragen nicht
sehr irren, wird auch 2019 wieder die christdemokratisch-konservative
Europäische Volkspartei stärkste
Kraft im Europäischen Parlament werden. Das Bündnis aus EVP und
Sozialdemokraten wird jedoch nicht mehr über eine absolute Mehrheit
verfügen und deshalb stärker als bisher auf die Liberalen (oder die
Grünen) angewiesen sein. Rechte Parteien werden zulegen,
aber weiterhin nur eine Nebenrolle spielen.
Sofern die großen Fraktionen im
Europäischen Parlament sich nach der Europawahl schnell hinter einem
der Spitzenkandidaten versammeln, werden sie sich bei der Wahl des
Kommissionspräsidenten auch
diesmal gegen den Europäischen Rat durchsetzen. Ob es dazu
kommt, ist allerdings unsicher, da EVP-Kandidat Manfred Weber bei
den übrigen Fraktionen auf starke Ablehnung stößt. Ausgehend
von der Person des Kommissionspräsidenten wird
der Europäische Rat dann die
übrigen „Top-Jobs“ (der Hohe Vertreter für die Außenpolitik
und der Ratspräsident) so zu
besetzen versuchen,
dass dabei große und kleine, nördliche und südliche, westliche und
östliche Mitgliedstaaten, beide Geschlechter und
alle Parteien der Großen
Koalition vertreten sind
– wobei anders als 2014
diesmal wohl nicht nur EVP und Sozialdemokraten, sondern auch die
Liberalen auf einem „Top-Job“ bestehen werden. Falls
der Zeitplan ähnlich verläuft wie vor
fünf Jahren, könnte die
neue Kommission dann am 1. November ihr Amt antreten.
Neue Langfrist-Strategien
Gleichzeitig mit der Neubesetzung der Ämter werden auch neue inhaltliche Schwerpunkte für
die nächsten Jahre gesetzt werden. Der Europäische Rat plant dazu
gleich zwei Treffen in der ersten Jahreshälfte. Am Europatag, dem 9.
Mai, treffen sich die Staats- und Regierungschefs im rumänischen
Sibiu zu einem informellen Gipfel, der wohl nur zu einer feierlichen
Erklärung führen wird. Nach der Europawahl wollen
sie dann aber am 20./21.
Juni eine „Strategische Agenda 2019-24“ verabschieden und
damit implizit auch
den politischen
Rahmen für den (auf
demselben Gipfel
nominierten)
neuen Kommissionspräsidenten abstecken. Doch
auch dieser wird
sich wohl nicht damit begnügen, nur
die Wünsche des
Europäischen Rates umzusetzen, sondern eigene Pflöcke einschlagen –
so wie das auch sein
Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) 2014 tat.
Spätestens Mitte 2019 wird sich
also abzeichnen, welche Ziele die EU-Institutionen in den nächsten
Jahren vorrangig verfolgen wollen. Zu den zentralen
Themen werden
dabei wahrscheinlich auch
weiterhin die
Migrationspolitik, die Stärkung der außen- und
verteidigungspolitischen Zusammenarbeit, der
digitale Binnenmarkt und die Energie- und Klimapolitik
gehören. Gespannt darf
man hingegen sein, welchen Stellenwert etwa die
weitere Vertiefung der Eurozone, die
europäische
Sozialpolitik oder die
Erweiterung der EU auf dem westlichen Balkan einnehmen
werden.
Mehrjähriger
Finanzrahmen
Mit der Festlegung der
inhaltlichen Prioritäten für die nächsten Jahre geht
passenderweise auch die Diskussion über den neuen mehrjährigen
Finanzrahmen der EU einher. Das ist einem glücklichen Zusammenfall
geschuldet, da der Finanzrahmen traditionell auf sieben Jahre
beschlossen wird und nicht mit dem fünfjährigen Europawahlzyklus
übereinstimmt. Diesmal ergibt es sich jedoch, dass der aktuelle
Finanzrahmen 2020 ausläuft. Die
Diskussion
über den neuen Finanzrahmen 2021-27, für den die Kommission bereits
im vergangenen Mai erste Vorschläge
vorgelegt hat, wird
deshalb nach
der Europawahl so richtig anlaufen.
Dass das offizielle Ziel, die
Verhandlungen noch bis Ende 2019 abzuschließen, erreicht werden
kann, ist jedoch unwahrscheinlich. Der Finanzrahmen muss nicht
nur vom Europäischen
Parlament, sondern auch
von allen nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten
gebilligt werden – und deren Vorstellungen darüber, wie viel Geld
der EU zur Verfügung stehen sollte, gehen weit auseinander, umso
mehr, als mit Großbritannien künftig ein wichtiger Nettozahler aus
der EU ausscheidet.
Hinzu kommt, dass die Kommission
auch neue
Einnahmequellen für das EU-Budget erschließen will, dass
einzelne
Ausgabenbereiche wie die Gemeinsame Agrarpolitik stark umstritten
sind, dass die EU-Strukturfonds künftig an
die Einhaltung von demokratischen Grundwerten gekoppelt
sein
sollen
(was
Regierungen wie Ungarn,
Polen und Rumänien wohl nicht einfach durchwinken werden) und dass
die
Mitgliedstaaten der Eurozone einen eigenen Euro-Haushalt verankern
wollen, was unter den Nicht-Euro-Staaten durchaus
auf Skepsis stößt. An
Streitthemen mangelt es also nicht, und
auch in der Vergangenheit
wurde der neue Finanzrahmen oft erst wenige Monate vor Ablauf des
alten verabschiedet.
Brexit-Endspiel
Mit Einigungen in letzter Minute
hat die EU also einige Erfahrung. Das könnte ihr helfen, auch im
Drama über den Brexit die Nerven zu bewahren, in dem drei
Monate vor dem
offiziellen britischen Austrittstermin am 29. März noch fast
alle Fragen offen sind.
Zwar gibt es seit Mitte November ein Austrittsabkommen zwischen der
britischen Regierung und
der EU (hier
im Wortlaut), doch im
britischen Parlament gibt
es bislang keine Mehrheit für dessen Ratifikation.
Aber
auch jede der
naheliegenden Alternativen stößt
unter den britischen Abgeordneten mehrheitlich auf Widerstand, sodass
völlig offen ist, was im Januar weiter
geschehen könnte. Die
Optionen reichen vom
„No-Deal-Brexit“
(also
dem härtestmöglichen Austritt ganz ohne Abkommen oder
Übergangsfristen)
über ein neues Referendum bis zur vollständigen Absage des
Austritts (die
Großbritannien nach
einem EuGH-Urteil auch einseitig erklären kann).
Ausgeschlossen hat die EU
lediglich, dass das bereits ausgehandelte Abkommen noch einmal
aufgeschnürt wird. Im
Brexit-Endspiel nehmen die europäischen Institutionen damit selbstgewählt nur eine Zuschauerrolle ein: Die
Entscheidung wird letztlich im britischen Parlament fallen,
während die EU sich auf
jede Eventualität gefasst machen muss.
Ungarn
und Polen: Wie weiter im Artikel-7-Verfahren?
Aber
auch innerhalb der EU wird im nächsten Jahr nicht alles auf Start
gestellt. Zu den Fragen, die die Europäer seit Jahren beschäftigen
und auch 2019 aktuell bleiben werden, gehört das Ringen um die
gemeinsamen demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerte, die in
mehreren Mitgliedstaaten von den nationalen Regierungen untergraben
werden.
Besonders prominent sind dabei Ungarn und Polen: Gegen beide
Regierungen
laufen
inzwischen Verfahren nach Art.
7 Abs. 1 EUV, in
einem Fall angestoßen Ende
2017 durch
die Europäische Kommission, im anderen
im
September 2018 durch
das Europäische Parlament. Der
nächste Schritt in diesen Verfahren wäre nun jeweils eine
Abstimmung des Ministerrates, der mit Vierfünftelmehrheit
„Empfehlungen“ an die betreffende Regierung richten oder „die
eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der
EU-Grundwerte feststellen kann.
Da
eine solche Abstimmung als starke Eskalation angesehen würde (und
überdies nicht sicher ist, ob die nötige Vierfünftelmehrheit
überhaupt zustande käme), wird sie wohl kaum vor der Europawahl und der für Spätherbst 2019 geplanten polnischen Parlamentswahl
stattfinden. Fraglich ist aber, wie lange der Rat dem Thema noch aus
dem Weg gehen kann, ohne Artikel 7 EUV vollständig bedeutungslos zu
machen. Die Ereignisse in Ungarn in den letzten Wochen haben jedenfalls deutlich
gemacht, dass sich die dortige Regierung durch gutes Zureden allein
nicht bremsen lassen wird.
Instabilität
in Italien und Spanien
Aber
auch in anderen Ländern kündigt
sich das neue Jahr politisch unruhig an.
Auch
wenn die
Auseinandersetzung
um den italienischen Haushalt nun beigelegt wurde, bleibt in Italien
das Konfliktpotenzial hoch. Die Regierungskoalition aus Lega (BENF)
und M5S (–) ist in fast allen wichtigen Fragen uneins und wird im Europawahlkampf einer schweren Zerreißprobe ausgesetzt sein. Wenn sich diese internen Konflikte nach außen entladen, könnte es
angesichts der ohnehin
ambivalenten europapolitischen Haltung der beiden Parteien schon
in den kommenden Monaten zum nächsten
großen Streit mit den EU-Institutionen kommen.
In Spanien wiederum köchelt
der Katalonien-Konflikt weiter und ist in letzter Zeit wieder etwas
heißer geworden. Allein
im Dezember kam es zu zweideutigen
Äußerungen des katalanischen
Ministerpräsidenten Quim Torra, der die
slowenische Unabhängigkeit von Jugoslawien (und
damit, wie seine Kritiker meinten, implizit auch den
Zehn-Tage-Krieg
1991) zum Vorbild für Katalonien erklärte, zu einem fast
dreiwöchigen Hungerstreik von
vier inhaftierten katalanischen Politikern und zu
mehreren Festnahmen, als selbsternannte „Komitees zur Verteidigung der Republik“ anlässlich einer in Barcelona abgehaltene Kabinettssitzung der spanischen Regierung
Straßen
blockierten und Polizeiabsperrungen zu durchbrechen versuchten.
Für
die spanische Regierung unter Pedro Sánchez (PSOE/SPE) ist diese
Eskalation auch deshalb problematisch, weil sie für ihre prekäre
Mehrheit im nationalen Parlament auch
auf die Stimmen der separatistischen
katalanischen
Parteien
angewiesen ist.
Sollte
die Regierung deshalb im Januar mit ihrem Haushaltsentwurf scheitern,
könnte es vorgezogene
Neuwahlen geben, womöglich gleichzeitig mit der Europawahl im
Mai. Davon würde nicht
zuletzt auch
die
rechtsextreme Partei Vox profitieren, die in
Spanien bislang ein außerparlamentarisches Schattendasein führte und nun in
Umfragen auf bis zu 10 Prozent gelangt.
Frankreich
und Deutschland: mit sich selbst beschäftigt
Und auch die beiden größten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich
werden im neuen Jahr vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Die
Unruhen
um die französischen
gilets jaunes
scheinen
sich nach den sozialpolitischen
Zugeständnissen der Regierung (und angesichts der bevorstehenden
Festtage) zwar erst einmal gelegt zu haben. Doch Präsident Emmanuel
Macron (LREM) ist politisch angeschlagen und könnte durch einen
Erfolg der links- und rechtsnationalen Oppositionsparteien bei der
Europawahl weiter unter Druck geraten.
In Deutschland wiederum steht im Herbst 2019 die im Koalitionsvertrag
zwischen CDU/CSU (EVP) und SPD (SPE) vorgesehene Halbzeit-Überprüfung an, was die umfragengebeutelten
Sozialdemokraten wohl zum Anlass für eine parteiinternen Debatte über einen Regierungsaustritt nehmen dürften.
Die CDU wiederum will sich unter der neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer bis 2020 ein neues Grundsatzprogramm geben – wobei von den Leitfragen im Abschnitt zur Europa- und Außenpolitik die erste den deutschen „nationalen Interessen“ und erst die zweite der Zukunft der „europäischen Idee“ gewidmet ist. Auch der deutschen Politik dürfte in den nächsten Monaten also einiges an
nationaler Nabelschau bevorstehen.
Unsere
Chance auf eine demokratische Debatte
2019 könnte für die Europäische Union zu
einem Jahr des Aufbruchs werden, mit einem frisch gewählten
Parlament, einer neuen Kommission und einer Debatte über die
strategischen Herausforderungen und Ziele für die nächsten Jahre.
Doch dieser Neuanfang droht die Regierungen der großen
Mitgliedstaaten, die mit anderen Sorgen beschäftigt sind, auf dem
falschen Fuß zu erwischen. Es ist deshalb zu befürchten, dass sie
sich zuletzt für den Weg des geringsten Widerstands und ein
weitgehend ambitionsloses Weiter-so entscheiden. Das aber könnte sich später als bitterer Fehler erweisen: Jean-Claude Junckers
Warnung von 2017, man müsse „das
europäische Haus fertigstellen, solange die Sonne noch scheint“,
hat nichts von ihrer Aktualität verloren.
Erst einmal aber steht im Mai 2019 die Europawahl an – und vielleicht
entfaltet der Wahlkampf ja eine ganz eigene Dynamik, aus der die
europäische Integration neue Impulse bezieht. Hoffen wir zum Jahreswechsel jedenfalls das Beste: Hier liegt unsere Chance auf eine breite demokratische Debatte über die Zukunft der Europäischen Union!
Und damit geht dieses Blog in seine alljährliche Winterpause. Allen
Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein
gutes neues Jahr!
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