21 Dezember 2018

Was die EU im Jahr 2019 erwartet

Zeit zu gestalten: Im Europawahljahr 2019 wird die EU neue Form annehmen.
Ende eines Zyklus: Im Wahljahr 2019 werden nicht nur das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und die Präsidentschaft des Europäischen Rates neu besetzt; auch die mittelfristige Politikplanung der europäischen Institutionen – etwa der „Fahrplan“ der Kommission oder die „Leadersʼ Agenda“ des Europäischen Rates – ist nur bis zum Horizont der Europawahl ausgelegt. Entsprechend geht es derzeit vor allem darum, laufende Vorhaben abzuschließen: vom Verbot von Einwegplastik bis zur Reform der Eurozone, auch wenn Letztere nicht alle Hoffnungen erfüllte.

Sogar den Streit über den italienischen Haushalt legte die Kommission jüngst nach begrenzten Zugeständnissen der italienischen Regierung bei, vermutlich um ihn nicht zum zentralen Thema des Europawahlkampfs werden zu lassen. Die EU ist dabei, mit der ausgehenden Wahlperiode reinen Tisch zu machen. Was wird das neue Jahr bringen?

Europawahl und Neubesetzung der Spitzenämter

Über das zentrale europapolitische Thema 2019, die Europawahl am 23.-26. Mai und die Neubesetzung von Kommission und Ratspräsidentschaft in den darauffolgenden Monaten, ist auf diesem Blog regelmäßig und ausführlich zu lesen: Für eine Übersicht über die wichtigsten Fragen siehe hier, für einen Zeitplan der Schlüsselereignisse hier. An dieser Stelle deshalb nur eine kurze Aufzählung der wichtigsten Erwartungen:

Falls die Wahlumfragen nicht sehr irren, wird auch 2019 wieder die christdemokratisch-konservative Europäische Volkspartei stärkste Kraft im Europäischen Parlament werden. Das Bündnis aus EVP und Sozialdemokraten wird jedoch nicht mehr über eine absolute Mehrheit verfügen und deshalb stärker als bisher auf die Liberalen (oder die Grünen) angewiesen sein. Rechte Parteien werden zulegen, aber weiterhin nur eine Nebenrolle spielen.

Sofern die großen Fraktionen im Europäischen Parlament sich nach der Europawahl schnell hinter einem der Spitzenkandidaten versammeln, werden sie sich bei der Wahl des Kommissionspräsidenten auch diesmal gegen den Europäischen Rat durchsetzen. Ob es dazu kommt, ist allerdings unsicher, da EVP-Kandidat Manfred Weber bei den übrigen Fraktionen auf starke Ablehnung stößt. Ausgehend von der Person des Kommissionspräsidenten wird der Europäische Rat dann die übrigen „Top-Jobs“ (der Hohe Vertreter für die Außenpolitik und der Ratspräsident) so zu besetzen versuchen, dass dabei große und kleine, nördliche und südliche, westliche und östliche Mitgliedstaaten, beide Geschlechter und alle Parteien der Großen Koalition vertreten sind – wobei anders als 2014 diesmal wohl nicht nur EVP und Sozialdemokraten, sondern auch die Liberalen auf einem „Top-Job“ bestehen werden. Falls der Zeitplan ähnlich verläuft wie vor fünf Jahren, könnte die neue Kommission dann am 1. November ihr Amt antreten.

Neue Langfrist-Strategien

Gleichzeitig mit der Neubesetzung der Ämter werden auch neue inhaltliche Schwerpunkte für die nächsten Jahre gesetzt werden. Der Europäische Rat plant dazu gleich zwei Treffen in der ersten Jahreshälfte. Am Europatag, dem 9. Mai, treffen sich die Staats- und Regierungschefs im rumänischen Sibiu zu einem informellen Gipfel, der wohl nur zu einer feierlichen Erklärung führen wird. Nach der Europawahl wollen sie dann aber am 20./21. Juni eine „Strategische Agenda 2019-24“ verabschieden und damit implizit auch den politischen Rahmen für den (auf demselben Gipfel nominierten) neuen Kommissionspräsidenten abstecken. Doch auch dieser wird sich wohl nicht damit begnügen, nur die Wünsche des Europäischen Rates umzusetzen, sondern eigene Pflöcke einschlagen – so wie das auch sein Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) 2014 tat.

Spätestens Mitte 2019 wird sich also abzeichnen, welche Ziele die EU-Institutionen in den nächsten Jahren vorrangig verfolgen wollen. Zu den zentralen Themen werden dabei wahrscheinlich auch weiterhin die Migrationspolitik, die Stärkung der außen- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit, der digitale Binnenmarkt und die Energie- und Klimapolitik gehören. Gespannt darf man hingegen sein, welchen Stellenwert etwa die weitere Vertiefung der Eurozone, die europäische Sozialpolitik oder die Erweiterung der EU auf dem westlichen Balkan einnehmen werden.

Mehrjähriger Finanzrahmen

Mit der Festlegung der inhaltlichen Prioritäten für die nächsten Jahre geht passenderweise auch die Diskussion über den neuen mehrjährigen Finanzrahmen der EU einher. Das ist einem glücklichen Zusammenfall geschuldet, da der Finanzrahmen traditionell auf sieben Jahre beschlossen wird und nicht mit dem fünfjährigen Europawahlzyklus übereinstimmt. Diesmal ergibt es sich jedoch, dass der aktuelle Finanzrahmen 2020 ausläuft. Die Diskussion über den neuen Finanzrahmen 2021-27, für den die Kommission bereits im vergangenen Mai erste Vorschläge vorgelegt hat, wird deshalb nach der Europawahl so richtig anlaufen.

Dass das offizielle Ziel, die Verhandlungen noch bis Ende 2019 abzuschließen, erreicht werden kann, ist jedoch unwahrscheinlich. Der Finanzrahmen muss nicht nur vom Europäischen Parlament, sondern auch von allen nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten gebilligt werden – und deren Vorstellungen darüber, wie viel Geld der EU zur Verfügung stehen sollte, gehen weit auseinander, umso mehr, als mit Großbritannien künftig ein wichtiger Nettozahler aus der EU ausscheidet.

Hinzu kommt, dass die Kommission auch neue Einnahmequellen für das EU-Budget erschließen will, dass einzelne Ausgabenbereiche wie die Gemeinsame Agrarpolitik stark umstritten sind, dass die EU-Strukturfonds künftig an die Einhaltung von demokratischen Grundwerten gekoppelt sein sollen (was Regierungen wie Ungarn, Polen und Rumänien wohl nicht einfach durchwinken werden) und dass die Mitgliedstaaten der Eurozone einen eigenen Euro-Haushalt verankern wollen, was unter den Nicht-Euro-Staaten durchaus auf Skepsis stößt. An Streitthemen mangelt es also nicht, und auch in der Vergangenheit wurde der neue Finanzrahmen oft erst wenige Monate vor Ablauf des alten verabschiedet.

Brexit-Endspiel

Mit Einigungen in letzter Minute hat die EU also einige Erfahrung. Das könnte ihr helfen, auch im Drama über den Brexit die Nerven zu bewahren, in dem drei Monate vor dem offiziellen britischen Austrittstermin am 29. März noch fast alle Fragen offen sind. Zwar gibt es seit Mitte November ein Austrittsabkommen zwischen der britischen Regierung und der EU (hier im Wortlaut), doch im britischen Parlament gibt es bislang keine Mehrheit für dessen Ratifikation.

Aber auch jede der naheliegenden Alternativen stößt unter den britischen Abgeordneten mehrheitlich auf Widerstand, sodass völlig offen ist, was im Januar weiter geschehen könnte. Die Optionen reichen vom „No-Deal-Brexit“ (also dem härtestmöglichen Austritt ganz ohne Abkommen oder Übergangsfristen) über ein neues Referendum bis zur vollständigen Absage des Austritts (die Großbritannien nach einem EuGH-Urteil auch einseitig erklären kann). Ausgeschlossen hat die EU lediglich, dass das bereits ausgehandelte Abkommen noch einmal aufgeschnürt wird. Im Brexit-Endspiel nehmen die europäischen Institutionen damit selbstgewählt nur eine Zuschauerrolle ein: Die Entscheidung wird letztlich im britischen Parlament fallen, während die EU sich auf jede Eventualität gefasst machen muss.

Ungarn und Polen: Wie weiter im Artikel-7-Verfahren?

Aber auch innerhalb der EU wird im nächsten Jahr nicht alles auf Start gestellt. Zu den Fragen, die die Europäer seit Jahren beschäftigen und auch 2019 aktuell bleiben werden, gehört das Ringen um die gemeinsamen demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerte, die in mehreren Mitgliedstaaten von den nationalen Regierungen untergraben werden. Besonders prominent sind dabei Ungarn und Polen: Gegen beide Regierungen laufen inzwischen Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV, in einem Fall angestoßen Ende 2017 durch die Europäische Kommission, im anderen im September 2018 durch das Europäische Parlament. Der nächste Schritt in diesen Verfahren wäre nun jeweils eine Abstimmung des Ministerrates, der mit Vierfünftelmehrheit „Empfehlungen“ an die betreffende Regierung richten oder „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Grundwerte feststellen kann.

Da eine solche Abstimmung als starke Eskalation angesehen würde (und überdies nicht sicher ist, ob die nötige Vierfünftelmehrheit überhaupt zustande käme), wird sie wohl kaum vor der Europawahl und der für Spätherbst 2019 geplanten polnischen Parlamentswahl stattfinden. Fraglich ist aber, wie lange der Rat dem Thema noch aus dem Weg gehen kann, ohne Artikel 7 EUV vollständig bedeutungslos zu machen. Die Ereignisse in Ungarn in den letzten Wochen haben jedenfalls deutlich gemacht, dass sich die dortige Regierung durch gutes Zureden allein nicht bremsen lassen wird.

Instabilität in Italien und Spanien

Aber auch in anderen Ländern kündigt sich das neue Jahr politisch unruhig an. Auch wenn die Auseinandersetzung um den italienischen Haushalt nun beigelegt wurde, bleibt in Italien das Konfliktpotenzial hoch. Die Regierungskoalition aus Lega (BENF) und M5S (–) ist in fast allen wichtigen Fragen uneins und wird im Europawahlkampf einer schweren Zerreißprobe ausgesetzt sein. Wenn sich diese internen Konflikte nach außen entladen, könnte es angesichts der ohnehin ambivalenten europapolitischen Haltung der beiden Parteien schon in den kommenden Monaten zum nächsten großen Streit mit den EU-Institutionen kommen.

In Spanien wiederum köchelt der Katalonien-Konflikt weiter und ist in letzter Zeit wieder etwas heißer geworden. Allein im Dezember kam es zu zweideutigen Äußerungen des katalanischen Ministerpräsidenten Quim Torra, der die slowenische Unabhängigkeit von Jugoslawien (und damit, wie seine Kritiker meinten, implizit auch den Zehn-Tage-Krieg 1991) zum Vorbild für Katalonien erklärte, zu einem fast dreiwöchigen Hungerstreik von vier inhaftierten katalanischen Politikern und zu mehreren Festnahmen, als selbsternannte „Komitees zur Verteidigung der Republik“ anlässlich einer in Barcelona abgehaltene Kabinettssitzung der spanischen Regierung Straßen blockierten und Polizeiabsperrungen zu durchbrechen versuchten.

Für die spanische Regierung unter Pedro Sánchez (PSOE/SPE) ist diese Eskalation auch deshalb problematisch, weil sie für ihre prekäre Mehrheit im nationalen Parlament auch auf die Stimmen der separatistischen katalanischen Parteien angewiesen ist. Sollte die Regierung deshalb im Januar mit ihrem Haushaltsentwurf scheitern, könnte es vorgezogene Neuwahlen geben, womöglich gleichzeitig mit der Europawahl im Mai. Davon würde nicht zuletzt auch die rechtsextreme Partei Vox profitieren, die in Spanien bislang ein außerparlamentarisches Schattendasein führte und nun in Umfragen auf bis zu 10 Prozent gelangt.

Frankreich und Deutschland: mit sich selbst beschäftigt

Und auch die beiden größten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich werden im neuen Jahr vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Die Unruhen um die französischen gilets jaunes scheinen sich nach den sozialpolitischen Zugeständnissen der Regierung (und angesichts der bevorstehenden Festtage) zwar erst einmal gelegt zu haben. Doch Präsident Emmanuel Macron (LREM) ist politisch angeschlagen und könnte durch einen Erfolg der links- und rechtsnationalen Oppositionsparteien bei der Europawahl weiter unter Druck geraten.

In Deutschland wiederum steht im Herbst 2019 die im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU (EVP) und SPD (SPE) vorgesehene Halbzeit-Überprüfung an, was die umfragengebeutelten Sozialdemokraten wohl zum Anlass für eine parteiinternen Debatte über einen Regierungsaustritt nehmen dürften. Die CDU wiederum will sich unter der neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer bis 2020 ein neues Grundsatzprogramm geben – wobei von den Leitfragen im Abschnitt zur Europa- und Außenpolitik die erste den deutschen „nationalen Interessen“ und erst die zweite der Zukunft der „europäischen Idee“ gewidmet ist. Auch der deutschen Politik dürfte in den nächsten Monaten also einiges an nationaler Nabelschau bevorstehen.

Unsere Chance auf eine demokratische Debatte

2019 könnte für die Europäische Union zu einem Jahr des Aufbruchs werden, mit einem frisch gewählten Parlament, einer neuen Kommission und einer Debatte über die strategischen Herausforderungen und Ziele für die nächsten Jahre. Doch dieser Neuanfang droht die Regierungen der großen Mitgliedstaaten, die mit anderen Sorgen beschäftigt sind, auf dem falschen Fuß zu erwischen. Es ist deshalb zu befürchten, dass sie sich zuletzt für den Weg des geringsten Widerstands und ein weitgehend ambitionsloses Weiter-so entscheiden. Das aber könnte sich später als bitterer Fehler erweisen: Jean-Claude Junckers Warnung von 2017, man müsse „das europäische Haus fertigstellen, solange die Sonne noch scheint“, hat nichts von ihrer Aktualität verloren.

Erst einmal aber steht im Mai 2019 die Europawahl an – und vielleicht entfaltet der Wahlkampf ja eine ganz eigene Dynamik, aus der die europäische Integration neue Impulse bezieht. Hoffen wir zum Jahreswechsel jedenfalls das Beste: Hier liegt unsere Chance auf eine breite demokratische Debatte über die Zukunft der Europäischen Union!

Und damit geht dieses Blog in seine alljährliche Winterpause. Allen Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein gutes neues Jahr!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.