D(e)F: Im Februar ist Dein jüngstes Buch erschienen. Darin schlägst Du vor, eine öffentlich-rechtliche „Plattform Europa“ zu gründen – ein, wie es im Untertitel heißt, „neues digitales Netzwerk“, mit dem wir „den Nationalismus überwinden“ könnten. Was hat es damit auf sich?
Johannes Hillje: Die Ausgangsthese meines Buches lautet: Es muss eine europäische Öffentlichkeit geben oder es wird eine lebendige europäische Demokratie niemals geben. Deshalb begebe ich mich in dem Buch auf die Suche danach, wie wir einen zeitgemäßen europäischen Kommunikationsraum schaffen können.
Denn Europa hat in den heutigen Strukturen von Öffentlichkeit ein Problem. Die Öffentlichkeiten sind in erster Linie national und zunehmend digital organisiert. Das spielt populistischen Nationalisten zweifach in die Hände: Zum einen brauchen sie ihre nationalistischen Positionen nicht gegenüber einem europäischen Gemeinwohl rechtfertigen, weil es dieses als Bewertungsmaßstab im Diskurs nationaler Medien praktisch nicht gibt. Zum anderen profitieren sie von den Algorithmen sozialer Medien, die keinem Demokratieauftrag, sondern allein einem Aufmerksamkeitsauftrag der Digitalkonzerne folgen.
Dennoch bin ich der Meinung, dass das Internet wie für die europäische Demokratie gemacht ist. Es kann geographische, sprachliche und kulturelle Grenzen besser überwinden als jedes andere Medium. Ich meine deshalb, dass wir mit einer öffentlich-rechtlichen Plattform zwei Problemen gleichzeitig begegnen könnten: Erstens könnten wir die komplette Privatisierung der digitalen Öffentlichkeit durch Google, Facebook und Co. verhindern, indem wir das duale System der klassischen Medien ins Digitale übertragen und den privaten Plattformen als Ausgleich eine öffentlich-rechtliche Plattform gegenüberstellen. Zweitens könnten wir mit der „Plattform Europa“ die Infrastruktur für einen europäischen Kommunikationsraum schaffen, der die zentralen Bedürfnisse einer europäischen demokratischen Öffentlichkeit erfüllen kann.
Eine digitale Plattform in öffentlicher Hand
Du beschreibst verschiedene inhaltliche Eckpfeiler für die „Plattform Europa“: einen Newsroom mit einer eigenen Redaktion, eine Mediathek mit kulturellen Inhalten wie europäischen Serien, Formate für Dialog, Vernetzung und politisches Engagement, und schließlich externe Apps von Unternehmen. Das klingt nach einer Mischung aus Tagesschau, Netflix, Campact und Facebook – aber alles öffentlich-rechtlich und gesamteuropäisch. Ist es realistisch, das alles unter einem Dach zu vereinen?
Das sind normativ hergeleitete Vorschläge für eine Basisausstattung, die es meines Erachtens für eine europäische demokratische Öffentlichkeit bräuchte. Zwei Grundgedanken sind aber noch wichtiger als diese vier Bausteine: Erstens ist das flexible Konzept der Plattform zentral. Plattformen sind eine digitale Infrastruktur, auf der verschiedene Typen von Nutzern (wie zum Beispiel Buchverkäufer und Buchkäufer oder Restaurants und Hungrige) vernetzt werden, um miteinander interagieren zu können. Bei Facebook oder Twitter werden Nutzer auch miteinander vernetzt, um einen politischen Diskurs zwischen ihnen zu ermöglichen.
Die Art der Interaktion regelt sich aber eben auch nach den Interessen der Nutzer. Die Plattform ist nur der Ort dafür, wie ein Markplatz in der analogen Welt. Und so ein Marktplatz ist in öffentlicher Hand, dort gelten demokratisch definierte Regeln des Zusammenlebens – deswegen sollten wir auch das Regelwerk für die Plattformen nicht allein den privaten Unternehmen überlassen.
Zweitens schlage ich vor, dass man die Bürgerinnen und Bürger Europas in die Entwicklung der Plattform Europa direkt mit einbindet. Die vielleicht wichtigste Lehre aus dem Scheitern von Euronews und anderen europäischen Medienprojekten ist, dass ein Angebot nicht ohne die entsprechende Nachfrage erfolgreich sein kann. Ein großer Fehler ist, dass solche Projekte aus einer Angebots- und weniger aus einer Nachfrageperspektive entwickelt wurden. Das möchte ich umdrehen: Im Gegensatz zur Top-down-Bauweise der EU, sollte die Plattform Europa bottom-up entwickelt werden. Als Erstes müssten die Bürgerinnen und Bürger in der EU befragt werden, welche Angebote, welchen Mehrwert eine solche Plattform bieten müsste, damit sie diese in ihre Gewohnheiten aufnehmen. Übrigens geht fast jedes Tech-Unternehmen so vor: Keine App, keine Software wird bürokratisch am Schreibtisch konzipiert, sondern im Dialog mit der Zielgruppe.
Facebook Konkurrenz machen?
Ist nicht gerade die Nachfrage-Dimension auch hier ein wunder Punkt? Auch deine Ausgangsfrage ist ja aus Perspektive des politischen Systems gedacht: Mit welcher Kommunikationsinfrastruktur könnten wir eine demokratische Öffentlichkeit für die EU schaffen? Aus Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer lautet die Frage aber einfach: Warum sollte ich zu einer solchen neuen europäisch-öffentlichen Plattform wechseln? Die meisten Menschen wirken ja persönlich ganz zufrieden mit den nationalen Nachrichtensendungen und privaten Social Media, die sie heute haben.
Gerade bei Vernetzungsplattformen gibt es zudem drastische Skaleneffekte: Wenn StudiVZ und Google+ gescheitert sind, warum sollte dann ausgerechnet die Plattform Europa Facebook Konkurrenz machen können?
Ich sehe das etwas anders: Die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer fühlen sich als EU-Bürgerinnen und Bürger. Das Interesse an EU-Politik steigt. Schon heute sind skandinavische Serien im deutschen Fernsehen erfolgreich. Der Eurovision Song Contest ist äußerst beliebt. Das sind alles gute Voraussetzungen für europäische Politik- und Unterhaltungsformate.
Gerade was die Serien angeht, kritisiere ich, dass es zwar schon eine Menge länderübergreifende Co-Produktionen gibt, aber die Drehbücher dadurch eben nicht europäischer geworden sind. Es geht dann doch wieder um die Mafia irgendwo in Italien oder Kriminalfälle in Schweden. Das soll gerne bleiben, aber in der Realität findet eben auch europäisches Zusammenleben statt. In Grenzregionen, in Brüssel oder bei Erasmus-Programmen für Studierende oder Auszubildende. Auch dieses europäische Zusammenleben sollte in Kultur- und Unterhaltungsformaten abgebildet werden.
Was die sozialen Netzwerke betrifft: Erstens haben wir schon heute eine Debatte über Plattforminteroperabilität. Skaleneffekte könnten in Zukunft irrelevanter werden und die Chance alternativer Anbieter steigen. Ich halte das für eine wichtige Aufgabe für die Plattformregulierung.
Zweitens hätte eine Plattform in öffentlicher Hand den entscheidenden Vorteil, dass das Geschäftsmodell nicht auf der Monetarisierung der persönlichen Daten der Nutzerinnen und Nutzer beruhen würde. Das heißt, der Datenschutz könnte viel höher sein und im Interesse der Menschen geregelt werden. Facebook und Co. werden diesbezüglich immer nur niedrigste Standards einhalten, sonst verdienen sie kein Geld mehr. Mein Eindruck ist, dass der Unmut über den Umgang von Facebook und anderen Plattformen mit persönlichen Daten zunimmt und Alternativen deshalb eine Chance haben.
Europapolitische Meinungsbildung muss früher einsetzen
Kommen wir noch einmal zu dem Aspekt der politischen Nachrichten, der für eine demokratische Öffentlichkeit ja essenziell ist. Du sprichst in Deinem Buch selbst das Problem des fehlenden Nachrichtenwerts an: Die konsensorientierte europäische Alltagspolitik ist für die Medien eher uninteressant – die Nachrichten, die es in die Schlagzeilen schaffen, handeln deshalb meist entweder von Konflikten zwischen Regierungen (wie das „Deutschland gegen Griechenland“ in der Eurokrise) oder vom Protest der Populisten und Europagegner. Eine normale parteipolitische Auseinandersetzung, etwa zwischen konservativen und sozialdemokratischen Positionen, findet in der Öffentlichkeit hingegen kaum statt.
Aber liegt die zentrale Ursache dafür nicht weniger bei den Medien als im politischen System der EU, das durch die fehlende Regierungs-Oppositions-Dynamik und die „ewige Große Koalition“ schlicht zu wenig Nachrichtenwert generiert? Europapolitik ist wichtig, aber oft zu komplex, um sich zu einfachen, spannenden Geschichten verarbeiten zu lassen. Medien, die sie zum Mittelpunkt ihrer Berichterstattung machen, leiden deshalb oft an schlechten Quoten. Wie sollte der Newsroom einer Plattform Europa dieses Problem überwinden?
Der fehlende Konflikt zwischen Regierung und Opposition ist in der Tat ein Problem für die EU-Berichterstattung. Das Europäische Parlament neigt stets dazu, einen möglichst breiten Konsens zu finden, um in den Verhandlungen über ein Gesetz mit Rat und Kommission besonders wirksam auftreten zu können. Dennoch gibt es regelmäßig handfeste Konflikte und Kontroversen im Europäischen Parlament und auch im Rat: Man denke an die Urheberrechtsreform, die Handelsverträge TTIP und CETA, Abgasnormen, Glyphosat oder Datenschutz.
Ich stelle fest, dass die Berichterstattung über die Abstimmungen im Europäischen Parlament immer erst spät einsetzt, meistens erst dann, wenn einem Gesetz bereits zugestimmt oder es abgelehnt wurde. Die Schlagzeilen lauten dann „EU-Parlament stimmt für XY“. Alles, was davor passiert – Vorschlag der Kommission, Abstimmung in den Ausschüssen, Änderungsanträge etc. –, findet in der Berichterstattung kaum statt. Das sind aber die Prozesse, die für die Meinungsbildung der Öffentlichkeit relevant wären. Und übrigens auch jene Prozesse, in denen der Lobbyismus in Brüssel besonders aktiv ist.
Mehr öffentliche Aufmerksamkeit in früheren Stadien der Gesetzgebung könnte auch zu einem Gegenwicht zu wirkmächtigen privaten Interessen führen. Aber um das leisten zu können, bräuchten die Medien deutlich mehr Ressourcen in Brüssel. Von den Öffentlich-Rechtlichen einmal abgesehen, haben die meisten Medien ja nur ein, zwei, in Ausnahmefällen drei Journalisten vor Ort.
Ein europäischerer Europawahlkampf
Machen wir es einmal an einem konkreten Beispiel fest: Der aktuelle Europawahlkampf verläuft ja (wieder einmal) nicht allzu aufregend. Nach einer YouGov-Umfrage von Ende April kennen 45 Prozent der Deutschen keinen einzigen der nationalen Spitzenkandidaten – nach den Spitzenkandidaten der europäischen Parteien wurde gar nicht erst gefragt. Wie anders würde der Wahlkampf aussehen, wenn es die Plattform Europa schon gäbe?
Die gleiche Umfrage hat auch gezeigt: Die Bekanntheit der Spitzenkandidaten zur Europawahl korreliert nicht mit den Umfragewerten ihrer Parteien oder ihren jeweiligen Ämtern auf EU-Ebene, sondern mit ihrer bundespolitischen Rolle. AfD-Chef Jörg Meuthen ist zum Beispiel um einiges bekannter als EVP-Fraktionschef Manfred Weber. Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Udo Bullmann, hat den geringsten Bekanntheitswert von allen. Das trifft den Kern meiner Kritik: Politische Relevanz in der EU bedeutet eben noch keine Prominenz in nationalen Medien.
Also wie würde der Wahlkampf auf der Plattform Europa aussehen? Europäischer! Es wäre die Bühne für europapolitisches Personal und Themen. Was wir dieses Jahr wieder sehen – abgesehen von ein paar Debatten zwischen den EU-Spitzenkandidaten – sind 28 nationale Wahlkämpfe für ein Europäisches Parlament.
Interessant war in diesem Zusammenhang auch der Versuch von Emmanuel Macron, den Wahlkampf mit einem programmatischen Meinungsbeitrag in allen EU-Sprachen zu transnationalisieren. Aber er musste sein Europa-Plädoyer in 28 unterschiedlichen Zeitungen veröffentlichen, er hatte kein europäisches Medium zur Hand. Was war die Folge? Es gab danach wiederum nationale Debatten über Macrons Vorschläge, keine europäische. Wir in Deutschland wissen jetzt, was SPD, Union, Grüne, FDP und Linke über Macrons Vorschläge denken, aber nicht, was die Sozialisten in Spanien oder Syriza in Griechenland dazu meinen.
Es bewegt sich etwas
Und wann ist es so weit? In Deinem Buch machst du recht konkrete Vorschläge, wie die Plattform Europa unter dem Dach der Europäischen Rundfunkunion EBU angesiedelt werden könnte. Welche Fortschritte sind in den nächsten Jahren zu erwarten?
Es bewegt sich tatsächlich sehr viel bei dem Thema: Die SPD hat die „Plattform Europa“ in ihr Europawahlprogramm aufgenommen, auch die Grünen zeigen Sympathie für die Idee. Aber noch wichtiger: Bei den Öffentlich-Rechtlichen selbst gibt es erste Gedankenspiele. Der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm fordert zum Beispiel ein deutsch-französisches Plattformprojekt.
Ich finde, wir sollte das Projekt von Anfang an vollständig europäisch denken, deswegen wäre die Europäische Rundfunkunion ein geeigneter Rahmen. Es könnte eine Fortsetzung der Kooperation rund um die Eurovision-Debatte zur Europawahl werden. Die ersten Schritte wären eine öffentliche Konsultation zu den Funktionen der Plattformen sowie die Entwicklung erster Angebote im Sinne von Pilotprojekten. Für die Finanzierung sollte die EU-Kommission Fördergelder bereitstellen, ohne natürlich inhaltlich und konzeptionell einzugreifen. Aber die Millionen, die derzeit jedes Jahr von der EU-Kommission in den Sender Euronews fließen, der aber nur von rund 1 Prozent der Europäerinnen und Europäer geschaut wird, könnten der Plattform zugutekommen.
Johannes Hillje: Plattform Europa: Warum wir schlecht über die EU reden und wie wir den Nationalismus mit einem neuen digitalen Netzwerk überwinden können, Bonn (Dietz) 2019, 176 Seiten, Broschur: 18,00 Euro.
|
Johannes Hillje (@JHillje) arbeitet als Politik- und Kommunikationsberater in Berlin und Brüssel. Außerdem ist er Policy Fellow bei der Denkfabrik Das Progressive Zentrum und war Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Partei zur Europawahl 2014.
Dieses Interview wurde im April/Mai 2019 per E-Mail geführt.
Bild: Erik Marquardt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.