Der erste Beitrag wurde von Katrin Böttger und Funda Tekin verfasst und erscheint auf diesem Blog in deutscher Übersetzung. Das englischsprachige Original ist hier zu finden.
- „Die Bundesregierung übernimmt den Ratsvorsitz in schwierigen Zeiten. Dennoch sollte sie nicht auf die Chance verzichten, die europäische Integration zu prägen und mehr als eine bloße ‚Corona-Präsidentschaft‘ zu sein“.
Vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2020 hat Deutschland zum ersten Mal seit dem ersten Halbjahr 2007 den Vorsitz im Rat der EU inne. Dies kommt zu einer Zeit, in der die Brüsseler Institutionen zwar nach den Führungswechseln im Zuge der Europawahl 2019 ihren Rhythmus wiedergefunden haben, in der aber gleichzeitig viele wichtige und dringende Fragen auf der Tagesordnung stehen. Das Vereinigte Königreich ist am 31. Januar 2020 aus der EU ausgetreten, und die Verhandlungen über die Post-Brexit-Beziehungen sollen bis zum Auslaufen der Übergangsperiode Ende Dezember 2020 abgeschlossen sein. Der neue mehrjährige Finanzrahmen (MFR), über den noch verhandelt wird, soll am 1. Januar 2021 beginnen. Darüber hinaus wird die Migrationspolitik überarbeitet, und es müssen Fragen wie der European Green Deal, die Digitalisierung und die Rolle der EU in der globalen Ordnung behandelt werden. Die Brüsseler Institutionen haben nach den Führungswechseln im Zuge der Europawahl 2019 pünktlich zur deutschen Ratspräsidentschaft wieder ihren Rhythmus gefunden.
Als größter Mitgliedstaat und, wie es oft heißt, widerwilliger Hegemon in der EU wird Deutschland von den anderen Mitgliedern als gut geeignet wahrgenommen, um zu diesen Fragen die Verhandlungen zu führen und einen Konsens zu erzielen. Die europaweiten Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft waren bereits hoch, als die Covid-19-Pandemie, um die Situation noch schwieriger zu machen, alle Pläne und Agenden für den Rest des Jahres durcheinanderbrachte. Dies stellt die deutsche Ratspräsidentschaft in zweierlei Hinsicht vor große Herausforderungen: Erstens in Bezug auf die Logistik, da die meisten Verhandlungen und Treffen virtuell stattfinden müssen. Zweitens was den Inhalt und die Struktur der Präsidentschaft betrifft, denn die Pandemie und ihre Folgen erfordern ein umfassendes Wiederaufbauprogramm, über das die Mitgliedstaaten geteilter Meinung sind.
Die deutsche Präsidentschaft steht deshalb vor der Herausforderung, nicht von der Vielzahl der Aufgaben überlastet zu werden, mit denen sie in einer solchen Zeit der Unsicherheit konfrontiert ist. Es wird darauf ankommen, Themen zu priorisieren und gleichzeitig die Debatte über die Zukunft Europas neu zu eröffnen.
Erwartungsmanagement
Der allgemeine Ansatz Deutschlands bestand zunächst darin, eine dezentrale Präsidentschaft vorzubereiten und umzusetzen – inhaltlich durch die Einbeziehung aller Ministerien und strukturell durch die Durchführung von Veranstaltungen, insbesondere informellen Ratssitzungen, deutschlandweit in großen und mittleren Städten. Das Auswärtige Amt zögerte anfangs, Einzelheiten seines Programms preiszugeben. Einerseits sollte der vorangehenden kroatischen Präsidentschaft nicht das Rampenlicht entzogen werden. Andererseits war man bestrebt, das Programm so zu gestalten, dass es aktuelle Bedarfe, die in den sechs Monaten auftreten würden, adressieren konnte. Zu den wenigen recht früh angekündigten Elementen zählte die Abhaltung eines EU-China-Gipfels, der im September 2020 in Leipzig stattfinden sollte, nun aber verschoben wurde.
Insgesamt
gab es, insbesondere im Rückblick auf die erfolg- und folgenreiche deutsche Ratspräsidentschaft aus dem Jahr 2007, innerhalb und außerhalb des Landes große Hoffnungen, dass es auch diesmal gelingen würde, den gordischen Knoten der vielen blockierten Themen wie Migration und MFR zu durchschlagen. Die 2019 in Berlin gehegte Hoffnung, dass die Verhandlungen über den MFR bis zur Übernahme der Präsidentschaft abgeschlossen sein würden, hat sich dabei als Wunschdenken erwiesen.
Herausfordernde Zeiten
Als
sich die Covid-19-Pandemie entwickelte und die gesamte Politikgestaltung beeinflusste, wurde den deutschen Beamten bald klar, dass sich ihre Erwartung, das Präsidentschaftsprogramm entlang aktueller Bedarfe zu gestalten, als zutreffender herausstellte, als sie hatten ahnen können. Die vielschichtige Covid-19-Krise stellt die deutsche Ratspräsidentschaft vor zusätzliche Herausforderungen: Gesundheitsfragen, soziale Auswirkungen, die wirtschaftliche Rezession, die mangelnde Solidarität bei den ersten staatlichen Reaktionen, unkoordinierte Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die Schengen und den Binnenmarkt gefährdeten, und die Notwendigkeit, viele, wenn nicht sogar alle Sitzungen virtuell abzuhalten, wofür die Infrastruktur des Rates schlecht gerüstet ist.
Die deutsche Regierung begann, sich Schritt für Schritt an die Situation anzupassen. Erstens erkannte sie an, dass sie ihr Programm allgemein würde überarbeiten müssen. Zweitens überdachte sie ihre Position zum MFR, die ursprünglich auf eine Begrenzung bei 1 % des BIP der EU-27 abzielte. Drittens verstand sie, dass aufgrund der Konzentration auf kurzfristige Notfallmaßnahmen in der ersten Hälfte des Jahres 2020 alle großen Dossiers, einschließlich der Brexit-Verhandlungen, voll in die Zuständigkeit der deutschen Präsidentschaft fallen würden, was wiederum die verfügbare Zeit für die Behandlung aller nicht obligatorischen Fragen verkürzte.
Die Prioritäten der deutschen Regierung wurden daher an dem geänderten Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für 2020 neu ausgerichtet, auch indem einige Themen auf die Tagesordnung für 2021 verschoben wurden. Doch auch nach diesen Priorisierungsbemühungen bleibt eine lange Liste an Themen, die in diesem Jahr in Angriff genommen werden sollen. Sie umfasst dringende Themen wie die Anpassung des Konjunkturprogramms an den Green Deal („grüner Wiederaufbau“), die Stärkung der Jugenddimension, die digitale und technologische Souveränität, einen funktionierenden Binnenmarkt, das Gemeinsame Europäische Asylsystem, die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit auf Grundlage der jährlichen Überprüfung durch die Europäische Kommission, die Stabilisierung der fragilen Nachbarschaft sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Nicht erwähnt wird die Konferenz über die Zukunft Europas, was deutsche Beamte damit begründen, dass die Liste Themen und keine Formate enthalte.
Optionen für die Gestaltung des Vorsitzes
Dabei ist zu bedenken, dass neben der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in den nächsten sechs Monaten auch andere institutionelle Akteure der EU eine entscheidende Rolle spielen werden. Der Handlungsspielraum Deutschlands wird durch das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission, die strategische Agenda des Europäischen Rates und das Programm der Triopräsidentschaft, das Deutschland mit Portugal und Slowenien teilt, eingeschränkt oder muss zumindest mit diesen in Einklang stehen. Dennoch hat die deutsche Regierung drei Hauptoptionen, die den Funktionen einer Ratspräsidentschaft entsprechen: als Verwalter, als Agenda-Manager oder als ehrlicher Makler und repräsentative Figur.
Die erste Option besteht darin, dass Deutschland sein Programm auf der Grundlage einer Bedarfsanalyse sorgfältig kalibriert. Das bedeutet, dass einige Themen auf die Tagesordnung der folgenden Präsidentschaften verschoben werden können, um Raum für dringendere Aufgaben zu schaffen, die nicht warten können. Zudem könnte die deutsche Regierung Themen verschieben, die sie während der Präsidentschaft nicht angehen will oder die zu schwierig zu behandeln sind.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, sich irgendwie durchzuschlagen und Maßnahmen zu ergreifen, wo und wann es gerade nötig ist. Auf diese Weise könnte es Deutschland gelingen, zu ausgewählten Themen hart erkämpfte Lösungen zu vermitteln. Zugleich birgt dies aber auch die Gefahr, Dinge nur halbherzig zu tun – zum Beispiel eine rein virtuelle Konferenz über die Zukunft Europas abzuhalten –, was zu unbefriedigenden Ergebnissen führen würde.
Eine dritte Option für Deutschland wäre der Versuch eines mutigen qualitativen Sprungs nach vorn, den die EU dringend braucht. Dazu bedarf es strukturierter Debatten über Visionen für die EU, die den Rahmen dafür setzen, die EU gezielt widerstandsfähiger zu machen. Deutschland kann dabei auf seine Ratspräsidentschaft 2007 zurückgreifen, während der es erfolgreich die Grundlagen für den Vertrag von Lissabon gelegt hat.
Der Weg voran
Zweifellos übernimmt die deutsche Bundesregierung den EU-Ratsvorsitz in schwierigen Zeiten. Dennoch sollte sie nicht auf die damit verbundene Chance verzichten, die europäische Integration zu prägen – so wie es ihr 2007 gelungen ist. Die Covid-19-Pandemie erfordert dringende Wiederaufbaumaßnahmen. Sie stellt Deutschland aber auch vor die Herausforderung, mehr als eine bloße „Corona-Präsidentschaft“
zu sein.
Die Pandemie hat strukturelle Defizite in der EU aufgezeigt und verstärkt, etwa die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in mehreren Mitgliedstaaten, nationale Rückschläge in Form von wachsendem europaskeptischem Populismus oder sozioökonomische Spaltungen innerhalb der Mitgliedstaaten. Um die EU wieder auf den richtigen Weg zu bringen, ist mehr nötig als selektive Einzelmaßnahmen. Deshalb sollte die deutsche Ratspräsidentschaft einen zweigleisigen, ausbalancierten Ansatz verfolgen, bei dem sie Dringendes und Wichtiges gegeneinander abwiegt und ein Durchwursteln vermeidet.
Während der deutschen Ratspräsidentschaft muss die EU beim Covid-19-Wiederaufbauplan, beim MFR und beim Brexit Ergebnisse liefern. Sie muss bei Digitalisierung und Klimawandel substanzielle Fortschritte erzielen, wenn die EU die Ziele der Europäischen Kommission nicht verfehlen will, und sie muss einen Weg zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems finden. Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, dass die deutsche Ratspräsidentschaft nicht vor fundamentalen Fragen zurückschreckt, die die Grundwerte der EU berühren. Dazu gehört, wie die EU ihre Werte nach innen sichern und welche Rolle sie für ihre Bürger und als außenpolitischer Akteur spielen will.
Die Antworten auf diese Fragen sollten die EU intern beim Schutz des Schengen-Raums und des Binnenmarkts sowie bei der Vollendung der Wirtschafts- und Fiskalunion leiten. Sie sollten die EU auch in ihrem außenpolitischen Handeln leiten, einer Dimension, in der sie nicht nur in Bezug auf China, sondern auch in Bezug auf die Vereinigten Staaten und die Türkei mit besorgniserregenden Entwicklungen konfrontiert ist.
Nur wenn Deutschland es wagt, mit seiner Präsidentschaft über kurzfristige Lösungen hinauszugehen und dabei umfassenden Gesprächen über die Zukunft Raum zu geben, kann es die Richtung für das europäische Integrationsprojekt für die kommenden Jahre prägen.
Dr. Katrin Böttger und Dr. Funda
Tekin sind die Direktorinnen des Instituts für Europäische Politik Berlin.
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Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller.
Bilder: Deutsche und europäische Flagge: whitecat sg [CC BY-NC 2.0], via Flickr; Porträts Katrin Böttger, Funda Tekin: privat [alle Rechte vorbehalten].
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