29 November 2011

Der Weg aus der Schuldenkrise

Im Moment scheint die Debatte über die möglichen Lösungen der Euro-Krise in eine Phase des anything goes eingetreten zu sein: vorgestern der Hebel für den Rettungsschirm, gestern die Beteiligung der EZB, heute Elitebonds, morgen womöglich etwas völlig anderes. Nach dem trilateralen Gipfel zwischen Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und Mario Monti wissen wir ziemlich sicher, dass auf dem nächsten Treffen des Europäischen Rats etwas Größeres beschlossen wird, aber was genau, lässt sich nur vage erahnen. Und darum will ich heute noch einmal kurz ein paar Worte darüber verlieren, welchen Weg aus der Schuldenkrise ich selbst bevorzugen würde.

Zwei Komponenten: Eurobonds und Durchgriffsrechte
Der Rettungsschirm war nicht genug – wie kann jetzt die europäische Schuldenkrise gelöst werden?

Von allen Vorschlägen, die bisher offiziell vorgebracht wurden, scheint mir derjenige der Europäischen Kommission die umfassendste Lösung zu bieten. Er setzt sich, kurz gesagt, aus zwei Komponenten zusammen, nämlich einerseits der Einführung von Eurobonds und andererseits der Ermächtigung der Kommission zu einer schärferen Kontrolle der nationalen Haushalte, einschließlich Durchgriffsrechten bei einer anhaltenden Verletzung des Stabilitätspakts. Diese zwei Komponenten ergänzen sich: Eurobonds lösen das strukturelle Problem der Währungsunion, dass es aufgrund der unterschiedlichen Sicherheit bei einem exogenen Schock zu einer Kapitalflucht von den Anleihen der schwächeren in die der stärkeren EU-Mitgliedstaaten kommt: Wenn die Investoren gewusst hätten, dass irische Anleihen trotz der globalen Finanzkrise ebenso sicher sind wie deutsche, hätten sie ihr Vermögen auch in unsicheren Zeiten nicht aus Irland abgezogen und es wäre dort gar nicht erst zur Schuldenkrise gekommen. Allerdings bieten Eurobonds auch das Risiko von Moral Hazard: Einzelne Länder könnten beginnen, sich hemmungslos zu verschulden, da sie ja wissen, dass für ihre Anleihen im Zweifel die anderen Mitgliedstaaten geradestehen. (Man sollte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, dass dies bei den meisten der heute überschuldeten Staaten bislang nicht der Fall war – Spanien und Irland erzielten in den Jahren vor der Krise sogar Haushaltsüberschüsse, und auch Italien hatte seine Neuverschuldung stark gedrosselt. Aber immerhin, das Risiko besteht.) Und deshalb ist die zweite Komponente des Vorschlags wichtig, das Kontroll- und Durchgriffsrecht der Kommission auf die nationalen Haushalte, mit dem eben dieses Verhalten verhindert werden kann.

Dabei ist die Reihenfolge, mit der die beiden Komponenten eingeführt werden, von Bedeutung. Die Einführung von Eurobonds würde nämlich die gegenwärtige Schuldenkrise wahrscheinlich in sehr kurzer Zeit beenden – und wenn dieses kurzfristige Problem erst einmal gelöst ist, werden wohl viele Staaten nicht mehr zu der Souveränitätsübertragung bereit sein, die notwendig ist, um eine effektive Haushaltskontrolle durch die Kommission zu ermöglichen. Insofern ist es sinnvoll, Eurobonds nicht auf dem schnellstmöglichen Weg einzuführen, sondern in einer umfassenden Vertragsreform, bei der beide Komponenten des Vorschlags gleichzeitig beschlossen werden. (Das sollte dann auch für die deutsche Bundesregierung verdaulich sein. Wenigstens der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Norbert Barthle, hat so etwas ja bereits angedeutet.)

Eine kurzfristige Übergangslösung

Allerdings wird eine derartige umfassende Vertragsreform ihre Zeit dauern, schließlich geht es bei der Budgethoheit um einen zentralen Bestandteil der nationalen Souveränität. In dem ein oder anderen Land könnte ein Referendum notwendig sein, in Deutschland dank des Lissabon-Urteils sogar eine völlig neue Verfassung. Die Euro-Krise ist aber jetzt gerade akut – und es besteht die Frage, ob es am Ende eines mehrjährigen Reformprozesses mit ungewissem Ausgang überhaupt noch eine Währungsunion zu retten geben wird. Die Lösung, die die Bundesregierung für dieses Problem anstrebt, scheint eine Verkleinerung der Vertragsreform sein. So ist davon die Rede, eine Art „Währungs-Schengen“ zu beschließen: einen gesonderten Vertrag allein der Mitgliedstaaten der Eurozone (oder gar nur eines Teils von ihnen), der parallel zum EU-Vertragssystem existieren soll. Das hätte unter anderem den offensichtlichen Vorteil, Großbritannien aus den Verhandlungen herauszuhalten, das unter der Regierung Cameron wohl ohnehin nur querschießen würde. Es gäbe aber auch einige praktische Schwierigkeiten: Beispielsweise ist es schwer vorstellbar, wie neue Aufgaben der Europäischen Kommission in einem Vertrag geregelt werden sollten, der außerhalb des EU-Vertragssystems steht. Und vor allem gäbe es da ein demokratisches Problem: Wenn man eine solch große Reform beschließt, dann sollte man das nicht in einem eilig durchgepaukten Vertrag tun, sondern nach Möglichkeit eine breite öffentliche Auseinandersetzung darüber suchen, damit zwischen Alternativen abgewogen werden kann und die Bevölkerung versteht, wer zuletzt die Entscheidung zu verantworten hat und welche Gründe ihn dazu bewegen. Eine solche Auseinandersetzung wird es aber, wenn überhaupt, nur geben, indem man die große Vertragsreform auch als eine solche behandelt. Und das bedeutet nach Artikel 48 EU-Vertrag die Einberufung eines Konvents – auch wenn das ein aufwendiges Verfahren ist und sicher erst in zwei oder drei Jahren zu einem Ergebnis führen würde.

Um dem Konvent diese Zeit zu geben, wäre eine Übergangslösung notwendig, um die Euro-Krise schon jetzt zu zügeln. An dieser Stelle kommt nun die Europäische Zentralbank ins Spiel, die vorübergehend als lender of last resort auftreten und am Sekundärmarkt Staatsanleihen der meistbetroffenen Länder der Schuldenkrise aufkaufen müsste. Eine solche Aktivität der Zentralbank ist zwar grundsätzlich sehr bedenklich: zum einen aufgrund des damit verbundenen Moral Hazards (Staaten bekommen einen Anreiz, sich zu überschulden, da sie im Zweifel von der Zentralbank gerettet werden), zum anderen wegen der Gefahr, dass durch die massiven Anleihekäufe die Inflation steigt und das Vertrauen in die Zentralbank beschädigt wird, eine langfristig konstante Preissteigerungsrate zu garantieren. Beide Risiken wären aber unter Kontrolle, wenn die EZB von Anfang an klar stellt, dass sie die Ankäufe von Staatsanleihen nur für einen begrenzten Zeitraum durchführen wird – nämlich eben bis der Konvent und die Mitgliedstaaten die notwendigen institutionellen Reformen beschlossen haben, durch die weitere Rettungsmaßnahmen der Zentralbank unnötig werden.

Und dennoch …

Auf diese Weise ließe sich die europäische Schuldenkrise in den Griff bekommen, ohne die langfristige wirtschaftspolitische Stabilität zu gefährden, mit einem halbwegs anständigen Verfahren für die Vertragsreform – und doch will mir die Lösung nicht so ganz gefallen. Zum Beispiel graust mir vor dem Moment, in dem wirklich die Europäische Kommission die Haushaltsführung einzelner überschuldeter Mitgliedstaaten übernehmen würde. Wir würden dann ein Europa der zwei Klassen erhalten, wo die reicheren Staaten ihre Budgethoheit selbst ausüben, während die ärmeren zentral aus Brüssel verwaltet werden. Auf welche Akzeptanz in der Bevölkerung werden Steuererhöhungen oder Sozialkürzungen stoßen, die von der Kommission in einer solchen Situation angeordnet würden? Außerdem: Was, wenn ein Mitgliedstaat im falschen Moment spart, etwa weil er selbst gerade einen Aufschwung erlebt, während die Eurozone als Ganzes sich in der Rezession befindet und deshalb eigentlich Konjunkturimpulse bräuchte? Soll dann die Kommission nicht mitreden dürfen? Und schließlich: Wenn alle Mitgliedstaaten der Eurozone ihre Budgetpolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse ansehen, wenn alle makroökonomisch am selben Strang ziehen und zudem alle füreinander haften: Warum legen wir dann die Haushalte nicht einfach gleich zusammen zum Haushalt der Europäischen Union?

Die sinnvollste Lösung für die Euro-Krise scheint mir deshalb nach wie vor der Aufbau einer voll integrierten Fiskalunion zu sein das heißt eine massive Ausweitung des EU-Budgets und der Einbau automatischer Stabilisatoren auf EU-Ebene durch eine gesamteuropäische Einkommensteuer und ein gesamteuropäisches Sozialsystem. Das wäre natürlich mit großen staatenübergreifenden Umverteilungen verbunden, die aber jeweils von reicheren zu ärmeren Mitbürgern erfolgen würden, wie wir das von unseren nationalen Solidargemeinschaften ebenfalls kennen. Die Schuldenkrise wäre behoben, die EU hätte endlich die Mittel, um produktivitätssteigernde Investitionen in wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen zu tätigen und eine europaweite Angleichung der Lebensverhältnisse zu schaffen, und ein Moral-Hazard-Problem gäbe es nicht mehr und nicht weniger als auf nationaler Ebene auch. Und nicht zuletzt behielte die EU auf diese Weise ihre föderale Struktur, die wirtschaftlich starken Mitgliedstaaten hätten nicht mehr Rechte als die wirtschaftlich schwachen, und die demokratische Verantwortung für Entscheidungen wie die Erhöhung oder Senkung von Steuern und Sozialleistungen wäre wieder klar zurechenbar, nämlich der jeweiligen Mehrheit im Europäischen Parlament.

Nur würde natürlich mit der Übernahme der Budgethoheit auch der politische Einfluss der supranationalen Institutionen sehr gestärkt werden, während die nationalen Parlamente und Regierungen entsprechend an Macht verlieren würden. Und deshalb wird der Europäische Rat über einen solchen Schritt nicht einmal diskutieren. 

Bild: StromBer (Own work) [CC-BY-3.0], via Wikimedia Commons

23 November 2011

Thatcher, Chirac und Schockenhoff

Das ging schnell. Vor gerade einmal vier Tagen habe ich hier einen Beitrag dazu geschrieben, weshalb Joschka Fischers Vorschlag, eine „Euro-Kammer“, also eine Beratende Versammlung mit delegierten Abgeordneten der nationalen Parlamente der Eurozone einzurichten, nichts mit den Vereinigten Staaten von Europa zu tun hat und auch nicht dazu beitragen wird, der Europapolitik eine größere öffentliche Aufmerksamkeit oder eine bessere demokratische Legitimität zu verschaffen. Außerdem habe ich in einem weiteren Kommentar dargelegt, dass Fischers Idee nicht einmal besonders originell war, sondern bereits in den Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht diskutiert und verworfen wurde. Aufgebracht wurde der Vorschlag damals von Politikern wie Michael Heseltine und Valéry Giscard d'Estaing, die jeweils zu einer europafreundlichen Minderheit innerhalb einer mehrheitlich europafeindlichen Gruppierung gehörten und auf diese Weise versuchten, ihren skeptischen Partnern die Fortsetzung der europäischen Integration irgendwie nahe zu bringen. Angesichts des Nationalsouveränismus sowohl in der britischen Conservative Party als auch unter den französischen Gaullisten (mit denen Giscards UDF ein Wahlbündnis hatte) schien dafür die einzige Möglichkeit ein Modell zu sein, das zugunsten der nationalen Parlamente eine massive Beschädigung des Europaparlaments und der Kommission in Kauf genommen hätte – was Helmut Kohl letztlich jedoch nicht zuließ.

Ich beendete meinen Beitrag mit der Feststellung:
Wenn Joschka Fischer nun diese Idee in leicht abgewandelter Form als „Eurokammer“ wieder aufgreift, stellt sich die Frage, ob nicht auch er sich damit eigentlich an Europaskeptiker wendet – und wer dann die heutigen Thatchers und Chiracs sind, die er auf diese Weise von einer Vertiefung der europäischen Integration zu überzeugen versucht. [] [W]er weiß, vielleicht lässt sich die Bundestagsmehrheit und die von ihr getragene Regierung ja tatsächlich von dem Gedanken beeindrucken, dass eine Fiskalunion auch ohne supranationale Organe möglich sein könnte.
Und was berichtet heute EurActiv.de?
Zur Stärkung der demokratischen Legitimierung hat CDU/CSU-Fraktionsvize Andreas Schockenhoff ein neues Modell für ein Euro-Parlament ins Spiel gebracht. Natürlich muss eine stärkere Angleichung der Finanz- und Wirtschaftspolitik der Euro-Länder durch die nationalen Parlamente vorgenommen werden. Deswegen könnten wir uns eine parlamentarische Versammlung aus den Abgeordneten der Euro-Staaten vorstellen, die über die Konvergenz im Wirtschafts- und Finanzbereich berät und im Vorfeld der Euro-Gipfel Anregungen und Empfehlungen abgibt, sagte Schockenhoff vor der Auslandspresse in Berlin.
Künftig solle sichergestellt werden, dass auch die nationalen Parlamente und nicht nur die Regierungen der Euro-Länder über Maßnahmen zur stärkeren Angleichung der Finanz- und Wirtschaftspolitik der Euro-Länder in Kontakt stünden. [] Es gibt noch keine Überlegungen, inwieweit Nicht-Euro-Staaten oder Abgeordnete des Europäischen Parlaments beteiligt werden könnten, stellte Schockenhoff gegenüber EurActiv.de fest.

Grundregeln für faule EU-Berichterstattung

Das war aber auch Zeit: Kosmopolito hat endlich das aus zwanzig unschätzbar wertvollen Ratschlägen bestehende Regelwerk für faulen EU-Journalismus gefunden, Opalkatze hat es ins Deutsche übersetzt. Sehr schön! Hier ein paar Glanzstücke:
1. Sie sind nicht sicher, wie die EU funktioniert oder welche Institutionen es gibt? → Schreiben Sie einfach „Brüssel“.

8. Fakten sind überbewertet. Kümmern Sie sich nicht um die Überprüfung der ursprünglichen politischen EU-Dokumente. Es besteht keine Notwendigkeit, die Unterschiede zwischen Weiß- und Grünbuch, einem Bericht, einer Verordnung oder einer Richtlinie zu verstehen. […] Niemand wird überprüfen, ob eine EU-Geschichte wahr ist. Jeder weiß, dass die EU langweilig und böse ist. Darüber hinaus ist das einzige Ziel der EU, überflüssige Verordnungen zu erlassen (allgemein „red tape“ genannt).

11. Sie denken, dass die EU ein wenig zu komplex ist und alles ein wenig zu lange dauert? → Konzentrieren Sie sich auf die Nullsummenspiele, besonders anläßlich der Gipfeltreffen. Ein Land gewinnt, ein Land verliert. So ist das Leben. Das ist die EU. Ganz einfach.

15. EU-Haushalt und Budget-Verhandlungen bieten viele interessante Möglichkeiten für faule Journalisten. […] Nie darüber nachdenken, was die EU mit dem Geld machen könnte, einfach davon ausgehen, dass „Brüssel das ganze Geld verschwendet.“ Budget-Verhandlungen sind Nullsummenspiele (Regel 11). So etwas wie das „europäische Interesse“ gibt es nicht.
Nur ein paar kleine Einwände

Zu zwei Punkten sei aber respektvolle Kritik erlaubt. Zum einen Nummer 10:
10. Es ist nicht der Rede wert, dass Ihre Minister ein Vetorecht über die EU-Politik haben. → Schreiben Sie einfach, dass die EU die nationale Souveränität zerstört.
Wir sind dank des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens inzwischen glücklicherweise so weit, dass in den allermeisten Politikfeldern kein einzelner Minister mehr ein Vetorecht über die europäische Politik hat: Nur in wenigen Bereichen gibt es dieses Veto noch, etwa in der Außen-, der Finanz- und der Sozialpolitik, was übrigens bezeichnenderweise auch diejenigen Felder sind, wo die EU bislang am wenigsten Erfolg hat. (Im englischen Original heißt es deshalb auch etwas treffender „that ministers might have a veto“, dass Minister ein Veto haben könnten.) Was aber den meisten Journalisten tatsächlich nicht der Rede wert ist, ist, dass in allen Bereichen ohne nationale Vetorechte das Europäische Parlament ein Mitentscheidungsrecht über die EU-Politik besitzt – und das ist direkt von den europäischen Bürgern gewählt, genauso wie der Bundestag und das House of Commons, und sogar repräsentativer.

Und zum anderen Nummer 2:
2. Deutschland wird im Allgemeinen als für die EU-Politik wichtig angesehen, und Journalisten wissen, wie sie darüber berichten: Wenn Deutschland in einem bestimmten Politikbereich aktiv ist, schreiben Sie einfach etwas über „deutsche Dominanz“. Wenn Sie für eine britische Zeitung arbeiten, erwähnen Sie irgendwie den Krieg. Wenn Deutschland sich in einem bestimmten Politikbereich passiv verhält, schreiben Sie, dass Deutschland die EU aufgibt und dass es klar eine einseitige Strategie verfolgt. Wenn Sie für eine britische Zeitung arbeiten, erwähnen Sie irgendwie den Krieg.
Da ist es wieder, das Merkel-Dilemma. Doch so lächerlich die Aufregung gerade der britischen Boulevard-Medien über Deutschland in der Regel ist: Wie ich hier kürzlich schon geschrieben habe, könnte es manchmal auch einfach richtig sein, wenn man der Bundesregierung ein gewisses europapolitisches Hegemonialstreben attestiert.

Und schließlich sollte man auch noch fair sein und den EU-Korrespondenten zugestehen, dass sie in der Regel nicht faul, sondern schlicht überlastet sind. Die meisten großen europäischen Medien halten nach wie vor die nationale Politik für wichtiger als das, was auf EU-Ebene geschieht, und statten deshalb ihre Hauptstadtbüros großzügig mit Finanzmitteln und Personal aus, während die Korrespondentenbüros in Brüssel im besten Fall auf zwei, drei Mitarbeiter kommen. Und wenn deren Artikel zu gut sind, werden sie nicht gedruckt, weil die Heimatredaktion sie nicht versteht. Wenn wir also Blame Game spielen wollen, sollten wir nicht unbedingt auf das letzte, offensichtliche Glied der journalistischen Nahrungskette zielen, sondern lieber auf diejenigen, die – geleitet von dem, was sie für die Lesewünsche ihrer Kundschaft halten – die eigentliche Gatekeeper-Funktion ausüben.

Aber wie auch immer: Kosmopolito hat bereits einen zweiten Teil seines Leitfadens angekündigt, in dem der Schwerpunkt darauf liegen soll, wie ein fauler Journalist am besten über die Euro-Krise berichtet. Ich bin gespannt.

21 November 2011

Die Europäische Volkspartei auf dem Gipfel der Macht

Nach all den Wahlerfolgen braucht die EVP jetzt nur noch ein gemeinsames Ziel.
Fünf Tage vor den gestrigen Parlamentswahlen in Spanien hielt Afredo Pérez Rubalcaba, Spitzenkandidat der Regierungspartei PSOE (SPE), eine Rede über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, das Hauptthema des Wahlkampfes, und seine Lösungsvorschläge dafür. Die Optionen waren zwei: Entweder die Europäische Zentralbank müsse massiv intervenieren und spanische Staatsanleihen aufkaufen – oder der Europäische Rat ein öffentliches Investitionsprogramm beschließen, für das Spanien selbst das Geld fehlt. Das Problem: Beide Optionen sind von europäischen Institutionen abhängig und hätten deshalb von Rubalcaba nach einem Wahlsieg gar nicht alleine durchgesetzt werden können. Aber, wie El País etwas spöttisch schrieb, „wenigstens an den Ideen soll es nicht scheitern“. Oppositionsführer Mariano Rajoy von der konservativen Partido Popular (EVP) machte sich hingegen konsequenterweise gar nicht erst die Mühe, ein Wirtschaftsprogramm zu formulieren. Stattdessen schimpften beide Kandidaten noch ein wenig über „Merkozy“ (auch hierzu El País), und dann war dieser paradoxe Wahlkampf auch schon wieder vorbei. Am Ende fuhr die PSOE die erwartete verheerende Niederlage ein, womit nun im Lauf des Jahres 2011 in allen fünf Staaten, die am meisten unter der Euro-Krise leiden – Irland, Portugal, Griechenland, Italien und Spanien –, ein Regierungswechsel stattgefunden hat.

Zugleich erreicht die Europäische Volkspartei mit dem Wahlsieg in Spanien die wohl größte institutionelle Machtfülle, die sie jemals hatte. Sie stellt nicht nur den Präsidenten und die größte Fraktion des Europäischen Parlaments sowie den Präsidenten und die meisten Mitglieder der Europäischen Kommission, sondern auch den Präsidenten des Europäischen Rates und die Regierungschefs von 17 der 27 EU-Mitgliedstaaten. In weiteren drei Ländern (Österreich, Niederlande, Estland) ist sie als Juniorpartner an Koalitionen beteiligt, in Italien und Griechenland stützt sie die kürzlich ernannten Technokratenkabinette. Bei den slowenischen Wahlen Anfang Dezember hat die EVP ebenfalls gute Chancen auf den Sieg. Lediglich in den von Linksbündnissen regierten Ländern Zypern und Dänemark befindet sie sich in der Opposition, und in Großbritannien und Tschechien ist sie überhaupt nicht im nationalen Parlament vertreten – die dortigen konservativen Regierungsparteien gehören nicht der EVP, sondern der europaskeptischen Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten (AECR) an.

Parteitag in Marseille

Die Gelegenheit ist also günstiger denn je, dass die Europäische Volkspartei den Bürgern ein Programm vorstellt, wie sie die gegenwärtige Wirtschafts- und Schuldenkrise zu überwinden gedenkt. Wenn die EVP sich hier einigen kann und ihre Mitglieder einen gemeinsamen Kurs einschlagen, dann werden sie es wohl sein, die den Weg zur EU-Reform vorgeben. Und wie vom historischen Zufall bereitgelegt, wird prompt am nächsten 7./8. Dezember in Marseille der alle zwei Jahre tagende Parteikongress stattfinden, wo sicher auch das 2009 verabschiedete Positionspapier Erholung von der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise eine Überarbeitung erfahren wird (das viele gute Vorschläge sowie das aus der Retrospektive etwas rührende Zitat „Heute beginnen sich die Finanzmärkte schrittweise zu normalisieren“ enthält). Also Showdown an der Côte d'Azur?

Vermutlich nicht. Denn so einflussreich die EVP ist, so uneinig ist sie, was die Zukunft der Europäischen Union betrifft. Da ist Nicolas Sarkozy, der sich für eine Führungsrolle der Eurozone einsetzt, und Donald Tusk, der darauf pocht, auch die Nicht-Euro-Länder an allen wichtigen Entscheidungen zu beteiligen. Da ist Jean-Claude Juncker, der wichtigste Befürworter von Eurobonds, und Angela Merkel, ihre vehementeste Gegnerin. Da ist José Manuel Durão Barroso, der sich für eine Vertiefung der europäischen Integration einsetzt, und Horst Seehofer, der auf keinen Fall nationale Souveränitätsrechte abtreten will. Und dann sind da noch Angelino Alfano, der als italienischer Justizminister jahrelang für die Ad-personam-Gesetze Silvio Berlusconis zuständig war, Andonis Samaras, der in Griechenland bis vor wenigen Tagen Fundamentalopposition gegen alle Sparmaßnahmen betrieben hat, und Viktor Orbán, der in Ungarn die Meinungsfreiheit geknebelt und eine dubiose neue Verfassung mit einer Präambel namens „Nationales Bekenntnis“ erlassen hat.

Und doch wäre es schön, wenn es dieser Truppe gelingen würde, sich zusammenzuraufen und eine kohärente Resolution zu verabschieden, mit der sich dann auch wirklich alle Mitgliedsparteien identifizieren. Die Bürger könnten dann nämlich sehen, wofür die Marke EVP eigentlich steht – und hätten etwas, woran sie sich bei der nächsten Wahl orientieren können, wenn die entscheidenden politischen Fragen wieder einmal nur auf europäischer Ebene zu lösen sind.

PS. Noch vor dem EVP-Kongress findet am 25./26. November in Brüssel übrigens auch die Progressive Convention der Sozialdemokratischen Partei Europas statt. Auch von der hätte man natürlich gerne ein paar konkrete Antworten zum weiteren Umgang mit der Krise. Denn schließlich werden, wenn man den Umfragen trauen darf, in den nächsten Jahren in einem großen EU-Land nach dem nächsten (Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien) die SPE oder ihr nahestehende Parteien die Regierung übernehmen.

Bild: European People's Party (EPP Summit 18 June 2009) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons

20 November 2011

Deutsche, britische und europäische Reformvorschläge

Wieder einmal gibt es einen interessanten Kommentar von Timothy Garton Ash, der diesmal die EU-Reformpläne der deutschen und der britischen Regierung miteinander vergleicht. Dabei begrüßt er zunächst einmal, dass Merkel sich überhaupt dazu durchgerungen hat, mit der Forderung nach einer strikteren Durchsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und nach der Einführung einer Finanztransaktionssteuer eine Vision zu unterbreiten, wohin sich Europa entwickeln sollte.

I have in the past heard Merkel herself characterise the German dilemma in relation to Europe like this: if we don't lead, they charge us with lack of European commitment; if we do, they accuse us of throwing our weight around. For two years, she's been confronted with the first charge; now she faces the second. Damned if you do, damned if you don't.

Ich habe in der Vergangenheit Merkel selbst das deutsche Dilemma in Bezug auf Europa folgendermaßen beschreiben hören: Wenn wir nicht führen, werfen sie uns fehlenden europapolitischen Einsatz vor; wenn wir führen, beschuldigen sie uns, unsere Macht auszuspielen. Zwei Jahre lang hat sie den ersten Vorwurf ertragen, jetzt stellt sie sich dem zweiten. Was man auch tut, es ist falsch.
Insofern sei die heutige deutsche Haltung durchaus lobenswert, fährt Garton Ash fort. Es gebe damit nur zwei Probleme, nämlich eines im Stil und eines im Inhalt. Bei Ersterem handelt es sich natürlich um Volker Jetzt-wird-in-Europa-Deutsch-gesprochen Kauder, dessen Tonfall „schlimm genug wäre, wenn die deutschen Politikvorschriften zur Rettung der Eurozone zu hundert Prozent richtig wären“. Leider seien sie aber auch das nicht, da die Bundesregierung sich weiterhin gegen die Maßnahmen weigere, die inzwischen von „so ziemlich jedem Wirtschaftswissenschaftler außerhalb Deutschlands“ gefordert würden: nämlich entweder der Europäischen Zentralbank die Unterstützung von bedrohten Regierungen zu erlauben oder gemeinsam abgesicherte Eurobonds einzuführen. Wenn die Bundesregierung hier nicht flexibler werde, „wird es womöglich bald keine Eurozone mehr zu retten geben“. Immerhin aber habe Deutschland überhaupt einen Vorschlag vorgebracht, den man nun kritisieren könne – anders als die britische Regierung, deren Premierminister David Cameron nur leere Floskeln von einem „vernetzten Europa“ von sich gebe, ohne zu erklären, was das eigentlich sein soll. Zuletzt schlägt Garton Ash deshalb etwas ironisch vor, dass auf dem nächsten Europäischen Rat am 9. Dezember die Regierungschefs eine geheime Abstimmung durchführen, ob ihnen das deutsche oder das britische Zukunftsmodell für die EU lieber ist: Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich die Isolierung Camerons auszumalen.

Warum Deutschland als dominant wahrgenommen wird

Wie schön, wenn bei Volker Kauder nur der Stil ein Problem wäre!
Nun hat Garton Ash zweifellos recht, was den britischen Premierminister und seine Worthülsen betrifft. Seine Haltung gegenüber der Bundesregierung scheint mir jedoch etwas zu nachsichtig zu sein, wenn er deren Argument, dass man sich durch politische Führung immer unbeliebt macht, einfach übernimmt. Sicher ist Merkel in den letzten Jahren zuerst ihre Zögerlichkeit vorgeworfen worden, weil sie keinen Plan zur EU-Reform hatte, und dann ihre Dominanz, als sie mit einem aufwartete. Aber immerhin ist Deutschland wirtschaftlich bereits seit einigen Jahrzehnten das unangefochtene Schwergewicht des Kontinents und nimmt infolgedessen auch schon lange eine Führungsrolle ein – und dennoch kannten zum Beispiel Konrad Adenauer und Helmut Kohl in der Vergangenheit offenbar nicht dieses Dilemma, aus dem Merkel nun keinen Ausweg sieht.

Der Grund dafür war, dass diese Kanzler recht bald eingesehen hatten, dass es in der Europapolitik nicht um Sieg oder Niederlage geht und Deutschland seine Vorhaben nur dann würde durchsetzen können, wenn diese auch für alle anderen Mitgliedstaaten erkennbare Vorteile enthielten. Indem sich die Bundesregierung immer wieder auch auf Seiten der kleinen Länder schlug oder sich zum Fürsprecher der Kommission und des Europäischen Parlaments machte, gewann sie im Rest der EU Glaubwürdigkeit und konnte erfolgreich eigene Ideen vertreten, ohne als selbstherrlich wahrgenommen zu werden.

Die heutige CDU dagegen weist in ihrem jüngsten Parteitagsbeschluss die Schuld an der Euro-Krise allein den überschuldeten Ländern zu (dazu sehr lesenswert Kash Mansori), fordert unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip „vor allem Anstrengungen der Staaten selbst“ und verlangt ansonsten, dass die EU mehr Durchgriffsrechte auf die Haushaltspolitik von Ländern erhält, die gegen den Stabilitätspakt verstoßen. Im Gegenzug dafür bietet sie … nichts: keine Eurobonds, kein Einsatz der EZB als lender of last resort. Lediglich der Europäische Stabilisierungsmechanismus wird in dem Parteitagsbeschluss mehrmals als große Geste der Solidarität beschrieben, obwohl der längst beschlossen und schon jetzt klar ist, dass sein Volumen nicht genügen wird, um die Krise zu überwinden – und natürlich beharrt die CDU darauf, dass jedes Hilfsprogramm auch künftig einzeln vom Bundestag abgesegnet werden muss, sodass Deutschland auch weiterhin die Bedingungen diktieren kann, unter denen diese Rettungsleistungen erbracht werden. Sollte ein Mitgliedstaat dann „dauerhaft nicht willens oder in der Lage sein, die mit der gemeinsamen Währung verbundenen Regeln einzuhalten“, so soll er die Eurozone bitteschön verlassen.

Für Deutschland selbst will die CDU dagegen den Einfluss der Europäischen Kommission nach Möglichkeit zurückfahren, schließlich kann es „nicht darum gehen, die Starken zu schwächen“, und überhaupt ist die europäische Integration „kein Selbstzweck“, ein „Zuviel an Regelungen“ muss unbedingt vermieden werden und es „muss auch möglich sein, Aufgaben wieder auf die Mitgliedstaaten zurückzuführen“. Selbst wenn die Idee, die Stimmen im Rat der EZB künftig nach Kapitalanteilen zu gewichten, offenbar nicht weiterverfolgt wurde: Aus dem Parteitagsbeschluss spricht nach wie vor kein föderaler Geist, sondern der Wunsch nach einer deutschen Hegemonie, die Volker Kauder nur offener als andere in Worte gefasst hat. Wenn das in anderen Ländern auf Ablehnung stößt, dann vielleicht nicht ganz ohne Grund – insbesondere angesichts der Tatsache, dass Deutschland bislang auch ökonomisch einer der Hauptprofiteure der Krise ist.

Und die Kommission?

Aber warum eigentlich will Timothy Garton Ash die Mitglieder des Europäischen Rates in drei Wochen nur über die Reformvorschläge von Merkel und Cameron abstimmen lassen? Einmal ganz davon abgesehen, dass es ja noch andere Staats- und Regierungschefs gäbe, die man nach ihren Europa-Visionen fragen könnte – ist nicht eigentlich die Europäische Kommission die Institution, die qua EU-Vertrag dazu berufen ist, das europäische Gesamtwohl im Blick zu haben? Und sollte nicht deshalb eigentlich ihr die Führungsrolle bei der Weiterentwicklung der Währungsunion zufallen?

Man will sich gar nicht vorstellen, wie Jacques Delors als Kommissionspräsident mit der Wirtschafts- und Schuldenkrise umgegangen wäre: Offensichtlich war dessen Charisma und Protagonismus bei den Integrationserfolgen der späten 1980er und frühen 1990er Jahre den nationalen Regierungen ja so unangenehm, dass sie seitdem nur noch möglichst blasse Kandidaten für dieses Amt vorgeschlagen haben. Aber auch der Anticharismatiker José Manuel Durão Barroso und sein Währungskommissar Olli Rehn haben die letzten Monate nicht nur untätig herumgesessen, sondern einige Vorschläge entwickelt, wie die Währungsunion künftig gestaltet sein sollte.

Diese Reformpläne, die nächste Woche offiziell vorgestellt werden sollen, sind im Gegensatz zu den deutschen tatsächlich ausgewogen: Sie kombinieren die Forderung nach Eurobonds, mit denen den überschuldeten Staaten finanziell geholfen wäre, mit derjenigen nach Durchgriffsrechten, um diese Staaten zu den notwendigen Strukturreformen zu bringen. Zweifellos ließe sich auch hier noch einiges kritisieren und verbessern. Aber als Ausgangsposition für die weitere Reformdebatte taugen die Kommissionspläne allemal mehr als die der CDU.

Bild: Dirk Vorderstraße [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons.

19 November 2011

Alles schon mal da gewesen

Plagiatejäger aufgepasst: In meinem letzten Blogeintrag über Joschka Fischers Eurokammer findet sich eine Formulierung, die gar nicht von mir ist – nämlich die Feststellung, dass Fischers Vorschlag „darauf hinauslaufen würde, das gewählte Europäische Parlament durch die Wiederauferstehung der Beratenden Versammlung zu ergänzen, die bis 1979 existierte“.

Im Original lautet die Stelle:
La première idée consisterait en somme à doubler le Parlement élu au suffrage universel par la résurrection de l'Assemblée qui existait avant 1979 : comme si la démocratie consistait à émietter entre deux Chambres un pouvoir extrêmement faible, au lieu de l'accroître afin que les élus du peuple disposent enfin du droit de voter la loi et le budget.

Die erste Idee bestünde kurz gefasst darin, das in einer allgemeinen Wahl gewählte Parlament durch die Wiederauferstehung der Versammlung zu verdoppeln, die vor 1979 existierte: als ob die Demokratie darin bestünde, eine außerordentlich schwache Macht zwischen zwei Kammern zu zerkrümeln, statt sie zu vermehren, sodass die Volksvertreter endlich das Recht bekommen, über Gesetz und Haushalt abzustimmen.
Sie stammt aus einem Gastkommentar des Politikwissenschaftlers und sozialdemokratischen Europaabgeordneten Maurice Duverger, der am 30. Juni 1990 unter dem Titel Un gouvernement pour l'Europe in Le Monde veröffentlicht wurde. Tatsächlich ist Fischers Vorschlag einer Eurokammer, die parallel zum Europäischen Parlament existieren und sich aus Vertretern der nationalen Parlamente zusammensetzen soll, nämlich noch nicht einmal besonders originell: Sie wurde bereits in den Verhandlungen vor dem Vertrag von Maastricht diskutiert, mit dem die Europäische Union 1992 gegründet wurde.

Die Befürworter der Idee damals

Wer hat's erfunden? Michael Heseltine.
Aufgebracht wurde der Vorschlag eines „Senats“ aus Delegierten nationaler Parlamente Ende 1989 in einem Buch von Michael Heseltine, Unterstützung fand die Idee unter anderem durch Leon Brittan sowie später durch Valéry Giscard d'Estaing und Jean François-Poncet. Interessant ist dabei, welchen politischen Richtungen die damaligen Befürworter des „Senats“ angehörten: Sowohl Heseltine als auch Brittan zählten zum europafreundlichen Flügel der britischen Conservative Party, die unter der Regierung Thatcher ansonsten einen strikt antieuropäischen Kurs verfolgte. Giscard d'Estaing und François-Poncet wiederum waren wichtige Vertreter der UDF, die damals nach der gaullistischen RPR unter Jacques Chirac die wichtigste französische Oppositionspartei war. UDF und RPR traten zu Wahlen in der Regel mit gemeinsamen Listen an und bemühten sich deshalb beständig, nach außen ein möglichst geschlossenes Bild zu erwecken – was allerdings ausgerechnet in der Europapolitik immer wieder scheiterte, da die kleinere UDF mit einer weiteren Integration sympathisierte, während die größere RPR die Abgabe weiterer nationaler Kompetenzen an die Europäische Gemeinschaft ablehnte.
 
Was die Befürworter der Senatsidee miteinander vereinte, war, dass sie jeweils einer europafreundlichen Minderheit innerhalb einer eigentlich europaskeptischen Gruppierung angehörten. Ihr Vorschlag, das Europäische Parlament zugunsten einer „besseren Einbindung der nationalen Parlamente“ zu schwächen, war also eigentlich ein Versuch, ihren zweifelnden, national-souveränistischen Partnern eine Fortsetzung der europäischen Integration schmackhaft zu machen. Im Falle Heseltines war dies zum Scheitern verurteilt, nicht umsonst hatte er es mit Mrs. No zu tun, der die europäische Integration dermaßen zuwider war, dass sie sich wohl von keinerlei Argumenten mehr hätte beeindrucken lassen. Giscard d'Estaing dagegen war erfolgreicher: Anfang Mai 1990 konnte er Chirac dazu bringen, sich öffentlich für einen Senat aus nationalen Delegierten auszusprechen – durch den es, so Chirac, möglich sein würde, trotz Kompetenzübertragungen in wichtigen Politikbereichen die „nationale Idee“ in der EG zu wahren.

Damit setzten die beiden endlich einmal europapolitisch geeinten Oppositionsführer auch die Regierung unter François Mitterrand unter Druck, der seinerseits ohnehin eher den Europäischen Rat und nicht das Europäische Parlament als wichtigsten Akteur der zu gründenden Europäischen Union bevorzugte. Vor dem Gipfel von Dublin im Juni 1990 geisterte der Senatsvorschlag deshalb auch durch die Verhandlungen zwischen den Staats- und Regierungschefs – und löste nicht nur den kritischen Gastbeitrag Maurice Duvergers in Le Monde aus, sondern auch eine fraktionenübergreifende ablehnende Resolution des Europäischen Parlaments. Da auch die Europäische Kommission unter Jacques Delors und die deutsche Bundesregierung unter Helmut Kohl sich nicht so recht dafür erwärmen konnten, wurde die Idee schließlich fallen gelassen. Stattdessen steigerte der Vertrag von Maastricht durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens die gesetzgeberische Macht des Europäischen Parlaments (wenn auch nicht in dem Maß, in dem Duverger sich das gewünscht hätte). Mitterrand zog dabei mit, Thatcher dagegen dankte im November 1990 als Premierministerin ab, nachdem sie bei der Abstimmung um den Parteivorsitz von Michael Heseltine herausgefordert worden war und im ersten Wahlgang das notwendige Quorum nicht erreicht hatte. Ihr Nachfolger wurde der europapolitisch kompromissbereite John Major.

Und heute?

Wenigstens in der Frage des „Senats“ setzten sich in den Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht also die Föderalisten durch. Wenn Joschka Fischer nun diese Idee in leicht abgewandelter Form als „Eurokammer“ wieder aufgreift, stellt sich die Frage, ob nicht auch er sich damit eigentlich an Europaskeptiker wendet – und wer dann die heutigen Thatchers und Chiracs sind, die er auf diese Weise von einer Vertiefung der europäischen Integration zu überzeugen versucht. Sein eigenes politisches Lager wird es wohl kaum sein, denn von Seiten der Grünen, traditionell die europafreundlichste Partei in Deutschland, schlägt seinem Vorschlag eher Ablehnung entgegen. Aber vermutlich denkt Fischer ohnehin schon längst nicht mehr parteipolitisch. Und wer weiß, vielleicht lässt sich die Bundestagsmehrheit und die von ihr getragene Regierung ja tatsächlich von dem Gedanken beeindrucken, dass eine Fiskalunion auch ohne supranationale Organe möglich sein könnte.

Nur mit den Vereinigten Staaten von Europa, zu denen Fischer sich mit so entschlossener Rhetorik bekennt, hat das alles nicht viel zu tun. Ein Heseltine ist zwar besser als eine Thatcher, aber eben noch kein Duverger.

Bild: Financial Times [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

Joschka Fischers „Eurokammer“

Joschka Fischer meint, dass ein europäischer Bundesstaat ohne Europawahlen demokratischer wäre.
Man hat in der deutschen Politik lange nichts von Joschka Fischer gehört. Seit er nicht mehr Vizekanzler ist, hat er in den USA den Professor gegeben, eine Autobiografie geschrieben und einen Job als Lobbyist beim Nabucco-Projekt (dem europäischen Konkurrenzvorhaben zur russisch-deutschen Ostseepipeline mit Gerhard Schröder) angenommen. Hauptsächlich aber ist Fischer inzwischen als Politaktivist tätig – zum Beispiel als Gründungsmitglied der Spinelli-Gruppe.

Diese Gruppierung, der auch mehrere prominente Europaabgeordnete angehören, setzt sich für föderale Antworten auf europäische Fragen ein und kritisiert die intergouvernementalen Ansätze, mit denen viele nationale Politiker Europa in die „politische Impotenz“ führen (das durchaus scharfzüngig formulierte Manifest kann man hier nachlesen und unterstützen). Dabei ist ziemlich deutlich, auf wen die Spinellianer zielen: nämlich auf die nationalen Regierungen im Europäischen Rat, dessen Gipfeltreffen sie regelmäßig mit einem „Shadow Council“ begleiten, auf dem sie alternative Lösungsvorschläge präsentieren.

Joschka Fischer aber scheint sich in den letzten Wochen eines anderen besonnen zu haben. In einem über Project Syndicate europaweit verbreiteten Kommentar und einem anschließenden Interview in der Zeit bekennt er sich zwar immer noch zu den Vereinigten Staaten von Europa, aber was er sich darunter vorstellt, hat selbst bei Nichtmitgliedern der Spinelli-Gruppe reichlich Kopfschütteln ausgelöst. Reinhard Bütikofer, der Sprecher der deutschen Landesgruppe in der Fraktion Grüne/EFA des Europaparlaments, reagierte darauf jedenfalls mit einem etwas unwirschen Tweet; Martin Schulz, Vorsitzender der sozialdemokratischen S&D-Fraktion im Europaparlament kommentierte in einem Zeit-Interview, mit Fischers Vorschlag würde man nicht die Vereinigten Staaten, sondern höchstens die Vereinten Nationen von Europa schaffen.

Fischers Vorschlag

Was aber will Fischer eigentlich? Seine Analyse beginnt vollkommen zu Recht mit der Feststellung, dass die europäische Schuldenkrise vor allem auf das Problem zurückzuführen ist, dass die europäische Währungsunion keine gemeinsame Wirtschaftsregierung hat. Nötig ist deshalb eine Fiskalunion, also eine „gemeinsame Wirtschafts-, Steuer- und Haushaltspolitik und d.h. auch gemeinsame Haftung“. Auch der zweite Schritt des Arguments ist immer noch nachvollziehbar, obwohl sich darüber wohl eher streiten ließe: Fischer hält nämlich die EU für zu groß, um die notwendigen Vertragsreformen zu erzielen, und fordert deshalb, dass die Eurozone als Avantgarde vorangeht. Und auch seine Kernforderung ist vollkommen verständlich: Angesichts der großen Macht, die eine Eurozonen-Wirtschaftsregierung besitzen würde, muss sie auch demokratisch sein.

Dann aber wird es abenteuerlich. Fischer will nämlich unbedingt
auf die Wiederholung eines Fehlers verzichten, nämlich über den Nationalstaaten eine eigene Superstruktur zu schaffen. Denn die Erfahrung zeigt, dass weder EU-Kommission noch Europaparlament über die notwendige demokratische Legitimation in den nationalen Öffentlichkeiten verfügen, die für jede Demokratie unerlässlich ist.
Entsprechend soll die Regierung der Eurozone für ihn aus den nationalen Staats- und Regierungschefs bestehen, die sich möglichst permanent zu Gipfeltreffen versammeln und dort die zentralen Entscheidungen treffen sollen. Da es allerdings um Budgetfragen geht, können die Regierungschefs letztlich nichts ohne ihre nationalen Parlamente beschließen. Und darum wiederum, und hier kommt das eigentlich Neue an dem Vorschlag,
wird eine „Eurokammer“ unverzichtbar, entsprechend ihrer Stärke proportional aus den Führungen der nationalen Parlamente zusammengesetzt, beginnend als beratendes Gremium bei Beibehaltung der Entscheidungskompetenz bei den nationalen Parlamenten, später aber, auf der Grundlage eines zwischenstaatlichen Vertrages, als echtes parlamentarisches Kontroll- und Entscheidungsorgan, zusammengesetzt aus den entsandten Mitgliedern der nationalen Parlamente.
Um es also kurz zu machen: In der Wirtschaftsregierung, die Fischer für die Eurozone möchte, soll kein einziger Politiker vertreten sein, der der europäischen Bürgerschaft als Ganzer verantwortlich ist. Stattdessen sollen die nationalen Staats- und Regierungschefs das Ruder vollends in die Hand nehmen – ungeachtet der Tatsache, dass diese schon seit Anfang der Krise auf ungezählten Gipfeltreffen außerstande waren, sich auf eine dauerhafte Lösung zu verständigen (was wenig erstaunlich ist, da ja jeder von ihnen schon institutionell darauf verpflichtet ist, zuerst auf das Wohlergehen seiner nationalen Wählerschaft zu achten). Demokratisch soll das Ganze dadurch werden, dass man noch eine Körperschaft aus Delegierten der nationalen Parlamente gründet – was darauf hinauslaufen würde, das gewählte Europäische Parlament durch die Wiederauferstehung der Beratenden Versammlung zu ergänzen, die bis 1979 existierte. Den Machtverlust, den das Parlament und die Kommission dadurch erleiden würden, tut Fischer in aller Beiläufigkeit ab: eine Art Kollateralschaden, der ja nur Institutionen trifft, die sowieso niemand kennt.

Europäische Debatten mit nationalen Parlamentariern?

Weshalb aber auf nationaler Ebene gewählte und dann von ihren nationalen Fraktionen in eine Eurokammer entsandte Delegierte eine größere demokratische Legitimität zur Lösung europäischer Fragen besitzen sollen als die direkt gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments, weiß so genau wohl nur Fischer allein. Vermutlich geht er davon aus, dass nationale Parlamentarier einen höheren Bekanntheitsgrad haben und darum eher in der Öffentlichkeit über europäische Entscheidungen diskutieren können. Aber warum sollten sie das tun? Es gibt in Deutschland vom Mindestlohn bis zum Verfassungsschutz so viele wichtige nationale Themen, dass die prominentesten Bundestagsabgeordneten, die Kauders, Steinmeiers, Brüderles, Gysis und Trittins, sich auch künftig wohl kaum ständig in Brüssel aufhalten und mit Europathemen beschäftigen werden, auf die sie sowieso nur sehr begrenzt Einfluss nehmen können. Vielmehr werden in die Beratende Kammer der Eurozone Abgeordnete delegiert werden, die auf die Europapolitik spezialisiert sind und sich inhaltlich damit auskennen: Menschen wie Michael Stübgen, Michael Roth, Michael Link, Alexander Ulrich und Manuel Sarrazin. Das sind die europapolitischen Sprecher der derzeitigen Bundestagsfraktionen – wer alle fünf richtig zuordnen kann, darf sich ein Fleißkärtchen holen (Auflösung hier). Und wer meint, dass im nächsten Bundestagswahlkampf 2013 die Positionen der Parteien zur Zukunft der EU im Mittelpunkt stehen werden, der hat die Mechanismen politischer Kommunikation nicht verstanden.

Nationale Regierungen und nationale Parlamentarier haben eine wichtige politische Funktion, nämlich über nationale Angelegenheiten zu entscheiden. Dafür sind sie durch nationale Wahlen an eine nationale Bürgerschaft gebunden, die in einer nationalen Öffentlichkeit nationale Debatten führt. Gut. Europäische Angelegenheiten wie die Überwindung der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise, die Einrichtung einer europäischen Fiskalunion und die Führung einer europäischen Wirtschaftsregierung aber müssen die Aufgabe europäischer Politiker sein: eines Europäischen Parlaments, das möglichst mit europäischen Listen der europäischen Parteien gewählt werden sollte, und einer Europäischen Kommission, die dem Europäischen Parlament verantwortlich ist. Wenn auf diese Weise die Zuständigkeit der europäischen Institutionen klar erkennbar wird und eine relevante parteipolitische Auseinandersetzung auf europäischer Ebene entsteht, dann werden wir auch europäische Debatten in einer europäischen Öffentlichkeit haben, in der die Arbeit europäischer Politiker (Konservativer wie José Manuel Durão Barroso und Joseph Daul, Sozialdemokraten wie Martin Schulz und Poul Nyrup Rasmussen, Liberaler wie Guy Verhofstadt, Grüner wie Daniel Cohn-Bendit, Linker wie Lothar Bisky und Rechter wie Nigel Farage) von einer europäischen Bürgerschaft bewertet wird.

Das Hindernis auf dem Weg dorthin ist gerade die Tatsache, dass die wichtigsten europäischen Entscheidungen weiter von den nationalen Staats- und Regierungschefs getroffen und dann nur der Bestätigung durch nationale Parlamentarier unterworfen werden. Genau dies bewirkt, dass die Europapolitik immer wieder der Dynamik nationaler Debatten unterliegt und sich die Medien nicht von der Fixierung auf die eigene nationale Regierung und die Logik der nationalen Interessen befreien können. Wenn Fischer nun eine Eurokammer mit nationalen Delegierten vorschlägt, dann ist das nur ein weiterer Schritt in die falsche Richtung: eine Maßnahme zur Schwächung der supranationalen Demokratie auf dem Altar der Zwischenstaatlichkeit.

Bild: US State Department [Public Domain], via Wikimedia Commons