- David Cameron (Cons./AEKR) und Donald Tusk (PO/EVP) sind sich weitgehend einig – auch in ihrer Neigung zum Intergouvernementalismus.
Es
ist so weit: Nach mehreren Monaten, in denen man über die mögliche
Reaktion der EU auf die „Reform“-Forderungen der britischen
Regierung nur diskutieren und spekulieren konnte, hat nun der
Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk (PO/EVP), seinen
„Vorschlag für eine neue Vereinbarung mit dem Vereinigten
Königreich“ präsentiert (Wortlaut).
Die Reaktionen darauf hätten kaum vielfältiger ausfallen können;
allein die deutsche Tagesschau
bewertete den Vorschlag gleichzeitig
als „ein bisschen Kosmetik“ und als „Kniefall vor Cameron“.
Und während der britische Premierminister selbst in
einer Rede erklärte, wenn der Vorschlag angenommen würde, sehe
er keinen Grund mehr für einen EU-Austritt, dominierte unter
den britischen Medien die Skepsis.
Camerons
Forderungen
Zur
Erinnerung: Bis
spätestens Ende 2017, wahrscheinlich aber noch in diesem Sommer,
wird Großbritannien ein Referendum über die weitere Mitgliedschaft
des Landes in der EU durchführen. Die regierende Conservative Party
(Cons./AEKR) ist zu dem Thema tief gespalten, selbst die
Kabinettsminister werden vor
der Abstimmung für unterschiedliche Positionen werben.
Regierungschef David Cameron selbst allerdings hat seine Haltung
davon abhängig gemacht, ob es ihm gelingt, gegenüber dem Rest der
EU vor dem Referendum bestimmte Forderungen durchzusetzen.
Vergangenen
November formulierte Cameron diese Forderungen in
einem Brief an den Ratspräsidenten im
Einzelnen aus (Wortlaut).
Insbesondere
verlangte
er:
●
eine
Garantie, dass Entscheidungen der Euro-Mitgliedstaaten den
Nicht-Mitgliedern nicht zum Nachteil gereichen und den einheitlichen
Binnenmarkt nicht gefährden und dass Nicht-Mitglieder sich nicht
finanziell an Euro-Stabilisierungsmaßnahmen wie dem ESM beteiligen
müssen;
●
ein
Bekenntnis der EU zur Förderung von „Wettbewerbsfähigkeit“,
insbesondere durch Deregulierung und Bürokratieabbau;
●
eine
Ausnahmeregelung für Großbritannien vom Prinzip der „immer
engeren Union“, wie es in Art.
1 EUV festgeschrieben ist;
●
ein
„Rote-Karte-Verfahren“, durch das eine Gruppe nationaler
Parlamente gemeinsam einen EU-Gesetzesentwurf kippen könnte;
●
eine
Einschränkung der EU-Freizügigkeitsrichtlinie, sodass
Großbritannien eingewanderten Unionsbürgern leichter den Zugang zu
britischen Sozialleistungen versperren und kriminelle Unionsbürger
leichter ausweisen kann.
All
dies sollte, so Camerons Forderung weiter, „rechtsverbindlich und
unumkehrbar“ gemacht werden und „wo nötig, Vertragskraft
erhalten“.
Ein
gelungenes Stück Ratsdiplomatie?
Liest
man nun Tusks Vorschlag, so scheint es wenigstens auf den ersten
Blick, als ob Cameron sich auf voller Linie durchgesetzt hätte. Auf
jede einzelne seiner Forderungen hat der Ratspräsident eine Antwort,
und in keinem Fall fällt diese negativ aus. Die dahinterstehende
Botschaft ist klar: Der Europäische Rat ist bereit, Camerons
Bedenken weit entgegenzukommen – niemand in Großbritannien soll
sagen können, der Starrsinn und die Unnachgiebigkeit der EU machten
einen Austritt unvermeidlich.
Auf
den zweiten Blick fallen die Zugeständnisse allerdings schon weniger
spektakulär aus. Tatsächlich beschränkt sich Tusks Angebot in
vielen Fällen auf „Klarstellungen“ zur Vertragsinterpretation
oder auf Maßnahmen, die ohnehin bereits geplant waren. Aus dieser
Sicht wirkt der Vorschlag wie ein gelungenes Stück Ratsdiplomatie:
ein Kompromiss, der mit minimalem Aufwand an tatsächlichen
Veränderungen alle Seiten maximal gut dastehen lässt, ohne dabei
den Kern des europäischen Projekts anzutasten.
Auf
den dritten Blick allerdings kommen auch an dieser Interpretation
Zweifel auf. Denn gerade in seinem Bemühen, einen möglichst gut
aussehenden Kompromiss zu präsentieren, geht Donald Tusk mit dem
institutionellen Aufbau und den geltenden Verfahren der EU
ausgesprochen grob um. Sein Vorschlag ist das Ergebnis von
Verhandlungsdiplomatie der alten Schule – etwas, worüber die EU
eigentlich längst hinausgewachsen ist. Doch dazu weiter unten mehr.
Selbstverständlichkeiten
zur Währungsunion
Wie
sieht Tusks Angebot nun konkret aus? In Bezug auf die Währungsunion
besteht es zum großen Teil aus einer Aufzählung von
Selbstverständlichkeiten: Die Euro-Länder und die Mitgliedstaaten,
die nicht den Euro verwenden, schulden sich wechselseitigen Respekt.
Diskriminierung im Binnenmarkt ist verboten. Die Beteiligung an
Maßnahmen zur Stützung der Währungsunion ist für Nichtmitglieder
freiwillig. Die Euro-Finanzminister treffen sich zwar informell in
der Eurogruppe, für formale Entscheidungen ist jedoch der
Ministerrat zuständig, wo die Nicht-Euro-Staaten zwar in Sachen
Währungsunion nicht mitentscheiden, aber mitreden dürfen.
Noch
das Interessanteste in diesem Bereich ist ein neues Verfahren, mit
dem Nicht-Mitgliedstaaten der Bankenunion im Rat Bedenken anmelden
können, wenn sie der Meinung sind, dass sie durch einen
Mehrheitsbeschluss der übrigen Länder diskriminiert werden könnten.
Auch in diesem Fall soll der Rat aber nur verpflichtet sein, „die
Angelegenheit zu diskutieren“ und „alles in seiner Macht Stehende
zu tun, um in einem vernünftigen Zeitrahmen […] eine
zufriedenstellende Lösung zu finden“. Eine Mehrheitsabstimmung
verhindern könnten die Nicht-Mitglieder auch zukünftig nicht.
Noch
unspektakulärer fällt das Bekenntnis zur „Wettbewerbsfähigkeit“
aus, die sich die EU-Institutionen ohnehin längst auf die Fahnen
geschrieben haben. Tusks Vorschlag nimmt daher vor allem auf schon
laufende Maßnahmen Bezug, speziell das Better-Regulation-
und das REFIT-Programm
der
Europäischen Kommission.
„Immer
engere Union“ und „rote Karte“
In
Bezug auf die „immer engere Union“ vermeidet Tusk den Anschein
einer Sonderbehandlung für das Vereinigte Königreich. Stattdessen
legt sein Angebot wortreich dar, dass diese Formulierung nur
signalisieren solle, „dass es das Ziel der Union ist, Vertrauen und
Verständnis unter Völkern zu schaffen, die in offenen und
demokratischen Gesellschaften leben und ein gemeinsames Erbe
universeller Werte teilen“. Eine Rechtspflicht zu mehr politischer
Integration sei daraus nicht zu entnehmen; zusätzliche Kompetenzen
könne die EU nur durch Vertragsreformen erhalten; und wenn es dazu
komme, stehe es Großbritannien frei, sich so viele Ausnahmeklauseln
herauszuverhandeln, wie es wolle.
Etwas
substanzieller ist Tusks Vorschlag zur „roten Karte“ der
nationalen Parlamente. Im Wesentlichen knüpft er dabei an das
schon existierende Verfahren zur Subsidiaritätskontrolle an, mit
dem nationale Parlamente Bedenken anmelden können, wenn sie einen
vorgeschlagenen EU-Rechtsakt für unnötig halten. Wenn 55 Prozent
der nationalen Parlamente eine solche Subsidiaritätsrüge äußern,
so Tusks Angebot, soll der Ministerrat das entsprechende
Gesetzgebungsverfahren künftig automatisch fallen lassen. Das klingt erst einmal drastisch – doch zum vollen Bild gehört auch, dass bei allen
bisherigen Subsidiaritätskontrollverfahren die nationalen Parlamente
nicht einmal in die Nähe dieser 55-Prozent-Hürde gekommen sind.
Einfachere
Ausweisungen von Unionsbürgern
Am
ausführlichsten sind schließlich Tusks Vorschläge in Bezug auf die
letzte britische Forderung, die Einschränkung der Freizügigkeit.
Dies betrifft zum einen die Ausweisung von Unionsbürgern „aus
Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“.
Nach der Unionsbürger-Richtlinie
von 2004 ist dies schon heute möglich, allerdings nur, wenn das
„persönliche Verhalten“ des betreffenden Bürgers eine
„tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr“ darstellt.
Tusk
will den Wortlaut dieser Richtlinie nicht ändern. Durch
neue Leitlinien der Kommission soll sie
künftig
allerdings
so
interpretiert werden, dass eine
„gegenwärtige“ Gefahr auch durch vergangenes
Verhalten begründet werden kann und dass eine strafrechtliche
Verurteilung dafür keine Vorbedingung ist. Dadurch würden
die nationalen Regierungen bei Ausweisungen einen größeren
Handlungsspielraum erhalten – wenn
auch zulasten der Rechtsstaatlichkeit, was Tusk jedoch nicht so
explizit formuliert.
Eine
zweifelhafte „Notbremse“ für Sozialleistungen
Zum
anderen beinhaltet Tusks Angebot auch eine Möglichkeit,
Sozialhilfeleistungen für eingewanderte Unionsbürger zu streichen.
Hierfür soll es einen neuen sogenannten „Notbremse“-Mechanismus
für Mitgliedstaaten geben, die ihr Sozialsystem aufgrund des
Zustroms von Bürgern aus anderen EU-Ländern gefährdet sehen. Auf
Antrag könnten die Kommission und der Ministerrat solchen Ländern
gestatten, die neu eingewanderten Bürger für bis zu vier Jahre von
Sozialleistungen auszuschließen.
Diese
„Notbremse“, ohne Zweifel die größte materielle Reform in Tusks
Entwurf, setzt allerdings eine Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie
von 2011 voraus – und diese ist nur in Form des ordentlichen
Gesetzgebungsverfahrens möglich. Damit Tusks Angebot umgesetzt
werden kann, ist also zunächst einmal ein formeller Vorschlag der
Kommission und anschließend eine Einigung zwischen dem Ministerrat
und dem Europäischen Parlament notwendig.
In
seinem Schreiben betont Tusk deshalb ausdrücklich die „enge und
gute Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission“, die sich
dazu bereit erklärt habe, im Falle einer Einigung mit Großbritannien
einen entsprechenden Gesetzgebungsvorschlag vorzulegen. Wen Tusk
jedoch überhaupt nicht erwähnt, ist das Europäische Parlament. Es
scheint, als setze er die Zustimmung der Abgeordneten zu der
„Notbremse“ einfach voraus, ohne sie auch nur gefragt zu haben.
Aber warum sollten diese so ohne Weiteres in ein neues Verfahren
einwilligen, das es den Mitgliedstaaten bzw. dem Rat erlauben würde,
Unionsbürgerrechte zu beschränken – ohne dass das Parlament
selbst daran irgendwie beteiligt wäre?
Auch
Ministerrat und EuGH werden übergangen
Betrachtet
man Tusks Vorschläge unter dieser Perspektive genauer, fällt auf,
dass das Europäische Parlament nicht einmal die einzige Institution
ist, über die sich der Ratspräsident nonchalant hinwegsetzt. Auch
die Umsetzung des Rote-Karte-Mechanismus ist rechtlich zweifelhaft:
Tusk möchte dafür nicht die formellen Verfahren ändern; die
nationalen Regierungen sollen vielmehr im Ministerrat von sich aus
jeden Vorschlag fallen lassen, den 55 Prozent der Parlamente
ablehnen. Nun ist der Ministerrat aber rechtlich ein eigenständiges
EU-Organ, dem der Europäische Rat, dessen Präsident Tusk ist,
formal keine Vorschriften zu machen hat.
Und
auch die Neuinterpretation der Unionsbürgerrichtlinie ist nicht so
unproblematisch, wie Tusk sie darstellt. Sicherlich kann die
Kommission Leitlinien für deren Umsetzung erlassen. Die Kompetenz zu einer rechtsverbindlichen Auslegung der
Richtlinie hat aber letztlich nur der Europäische Gerichtshof –
und ob dieser eine solche Einschränkung der Unionsbürgerrechte, wie
sie Tusk und Cameron vorschwebt, akzeptieren wird, ist immerhin
fraglich.
Von
Zuständigkeitsfragen unbeeindruckt
Tusk
selbst jedoch zeigt sich von derlei Zuständigkeitsfragen gänzlich
unbeeindruckt. In seinem Schreiben sichert er David Cameron sogar zu,
der größte Teil seines Vorschlags habe „die Form eines rechtlich
verbindlichen Beschlusses der Staats- und Regierungschefs“. Nur:
Nach Art.
15 Abs. 1 Satz 2 EUV wird der Europäische Rat ausdrücklich
nicht gesetzgeberisch tätig. „Rechtlich verbindlich“ sind seine
Beschlüsse nur in einigen sehr begrenzten Bereichen wie der
gemeinsamen Außenpolitik oder der Ernennung bestimmter Amtsträger.
Und
hier liegt nun das eigentliche Kernproblem mit Tusks Vorschlag. In
seinen Verhandlungen mit der britischen Regierung tut der
Ratspräsident so, als stünden sämtliche Errungenschaften der
europäischen Integration zur diplomatischen Disposition der Staats-
und Regierungschefs im Europäischen Rat. Das aber ist mitnichten der
Fall.
Vertragsgemäße Verfahren werden diplomatisch ausgehebelt
Die
Europäische Union hat längst einen Grad an konstitutioneller
Eigenständigkeit erreicht, in dem nicht mehr nur die Mitgliedstaaten
über die gemeinsame Rechtsordnung entscheiden. Auch das Europäische
Parlament, der Europäische Gerichtshof und die Unionsbürger als
solche haben ihre jeweils eigenen verfassungsmäßigen Rechte, über
die sich die nationalen Regierungen nicht einfach hinwegsetzen
können, ohne Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verletzen.
Natürlich:
Die gegenwärtige Situation ist besonders. Mit seiner
Austrittsdrohung setzt David Cameron die EU unter Druck und erzwingt
eine klare und entschiedene Antwort. Um die Situation nicht zu
verkomplizieren, könnten die übrigen EU-Organe deshalb am Ende
durchaus bereit sein, Donald Tusks Linie ohne weiteren Protest zu
folgen. Doch die Leichtigkeit, mit der der Ratspräsident hier die
vertragsgemäßen Verfahren der EU zugunsten einer rein
diplomatischen Verhandlungslogik ausgehebelt hat, ist
besorgniserregend. Wenn dieses Beispiel Schule macht, könnte das
europäische Projekt weitaus größeren Schaden nehmen als durch
jedes einzelne Zugeständnis an die britische Regierung.
Bild: Number 10 [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
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