- Ein demokratisches Parlament für die ganze Menschheit ist für Jo Leinen und Andreas Bummel nicht nur nötig, sondern auch möglich.
Das
wesentliche Argument für einen demokratischen Weltföderalismus ist
schnell gemacht. Die Menschheit sieht sich heute immer mehr
gemeinsamen Herausforderungen ausgesetzt, die jeden einzelnen Staat
überfordern: ob nun Klimawandel oder globale Ungleichheit, globale
Finanzkrisen, grenzüberschreitende Migrationsbewegungen oder
internationaler Terrorismus. All diese Herausforderungen sind nicht
naturgegeben, sondern abhängig von menschlichen Verhaltensweisen,
und können deshalb politisch gelöst werden. Allerdings ist es dafür
notwendig, nicht nur auf nationaler, sondern auch auf globaler Ebene
verbindliche und effektive politische Entscheidungen zu treffen.
Diese politischen Entscheidungen würden das Leben sehr vieler
Menschen stark beeinflussen, sodass für sie die gleichen Maßstäbe
politischer Legitimität gelten sollten wie für
Entscheidungen auf einzelstaatlicher Ebene. Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit oder Grundrechtebindung müssen also auch auf globaler Ebene
verankert werden – und damit führt auf die Dauer kein
Weg an einem demokratisch gewählten Weltparlament vorbei.
Ein
solches Weltparlament ist natürlich nicht auf die Schnelle zu haben.
Insbesondere setzt es voraus, dass alle Staaten freie Wahlen zulassen
würden, und auch wenn der
weltweite Anteil an demokratischen Staaten tendenziell zunimmt,
sind wir davon noch ein gutes Stück entfernt. Dennoch ist das
Leitbild einer globalen Demokratie keine reine Kopfgeburt, sondern
kann schon heute Inspiration für konkrete Schritte zur Reform der
Vereinten Nationen sein. Ein Beispiel dafür ist das 2016 erstmals
angewandte transparentere
Verfahren zur Wahl des UN-Generalsekretärs, ein anderes die seit
längerer Zeit diskutierte, aber bis heute nicht verwirklichte
Einrichtung einer Parlamentarischen
Versammlung bei den Vereinten Nationen (UNPA).
Naivität,
Dystopie und Resignation erschweren die Debatte
Allerdings
leidet die Debatte über eine weltweite Demokratie (oder, wenn man so
will, eine Demokratisierung der Vereinten Nationen) derzeit oft an
den übertriebenen Erwartungen, die sowohl Befürworter als auch
Gegner mit dieser Idee verbinden. Auf der einen Seite ergehen sich
manche Weltföderalisten gern in naiven Utopien – ganz als ob eine
demokratischere politische Ordnung ganz von selbst den Klimawandel
stoppen, die globalen Verteilungskonflikte lösen und alle Menschen
zu Freunden machen würde.
Auf
der anderen Seite löst der Weltföderalismus bei seinen Kritikern
bisweilen wilde dystopische Fantasien aus, als müsste jeder Versuch, die globale Ordnung zu demokratisieren, unweigerlich in eine alptraumhafte Weltdiktatur führen. Und wieder eine andere Gruppe hat
sich resigniert damit abgefunden, dass die UN nun einmal „nicht zu
reformieren sind“ und man deshalb jede Hoffnung auf eine bessere
Weltordnung von vornherein aufgeben sollte.
Alle
drei Herangehensweisen, die naive, die dystopische und die
resignierte, erschweren eine rationale Auseinandersetzung mit
weltföderalistischen Vorschlägen ungemein. Umso willkommener ist
deshalb der Beitrag, den Jo Leinen und Andreas Bummel mit ihrem im
vergangenen Frühling erschienenen Buch Das
demokratische Weltparlament zu
dieser Debatte leisten.
Dankenswert
unaufgeregt
Beide
Autoren sind unter Freunden
der überstaatlichen Demokratie
keine Unbekannten:
Jo Leinen ist
Europaabgeordneter der SPD (SPE),
Vorsitzender der Europäischen Bewegung International und
Ehrenpräsident der Union Europäischer Föderalisten; Andreas
Bummel hat den Verein Democracy
without Borders gegründet
und leitet die internationale
UNPA-Kampagne.
In
ihrem Buch beschreiben sie
den historischen Verlauf und
den heutigen Stand der Diskussion über eine demokratische
Weltordnung. Dabei legen
sie dar,
weshalb sie die
„kosmopolitische Vision“
eines Weltparlaments
nicht nur für wünschenswert und
notwendig, sondern
(wenigstens auf längere
Sicht) auch für möglich
und realistisch halten.
Vor
allem aber vertreten Leinen
und Bummel ihre Positionen
mit einem schlichten, gut
lesbaren und dankenswert unaufgeregten Stil. Zwar
schrecken auch sie nicht
davor zurück, große welthistorische Linien zu ziehen, in
denen das Weltparlament als Fluchtpunkt der aufgeklärten Moderne
erscheint. Doch
statt sich
in der Esoterik des
Utopischen zu verlieren,
binden die
beiden Autoren ihre Argumente
immer wieder an konkrete
Debatten in Wissenschaft
und politischer Praxis zurück
– und
bieten damit jene
Verwurzelung in der Realität,
die der
Weltföderalismus so
dringend benötigt.
Lesenswerter
historischer Abriss
Das
Buch besteht aus drei Teilen, von denen der erste für sich allein
schon die Lektüre lohnt. Auf rund 120 Seiten beschreiben Leinen und Bummel, wie
sich die Idee eines „Menschheitsstaats“ historisch entwickelte.
Nach kosmopolitischen Vorläufern in der griechischen, indischen und chinesischen Antike
erfuhr diese in der neuzeitlichen Aufklärung einen frühen Höhepunkt. Vom Nationalismus des 19. Jahrhunderts zurückgeworfen,
fand sie zugleich in der internationalen Zusammenarbeit nationaler Parlamentarier ein neues Bett. Im
Zeitalter der Weltkriege erstarkte sie dann noch einmal als Hoffnung auf eine andere, friedlichere Welt,
ehe sie schließlich im Kalten Krieg zwischen Ost-West-Konfrontation und UN-Bürokratie zermahlen wurde. Erst
mit der Demokratisierungswelle der 1990er Jahre erfuhr die Idee einer demokratischen Weltordnung einen neuen Schub.
Dabei gerät der
historische Abriss
im ersten Teil des Buches immer
mehr zur Zeitlupe, je näher er sich der
Gegenwart nähert:
Detailliert beschreiben
Leinen und Bummel die
vielfältigen Akteure und Initiativen, die sich im letzten
Vierteljahrhundert auf
unterschiedliche Weise für ein Weltparlament stark gemacht haben –
ein geradezu
enzyklopädischer Überblick
über eine oft zersplitterte
und
nur mühsam zusammengehaltene
Debatte.
Die
globalen Herausforderungen in den Griff bekommen
Der
zweite und mit
rund 230 Seiten umfangreichste
Teil des Buches
beinhaltet das eigentliche
politische Argument der
Autoren, wie
ich es auch am Anfang dieser Rezension kurz skizziert habe: Nur durch ein demokratisches Weltparlament mit echten Durchgriffsrechten kann
die Menschheit jene Herausforderungen
in den Griff bekommen, mit
denen das „Erdsystem“ konfrontiert ist.
Diese
Kernthese deklinieren Leinen und Bummel für zahlreiche
Einzelprobleme durch – vom Finanzsystem über die Steuerpolitik,
künstliche Intelligenz und neue Viren, Atomwaffen und
Terrorismusbekämpfung, Datenschutz und internationale
Strafverfolgung, Ernährungssicherheit, Wasserpolitik und
die Abschaffung von Armut.
Immer wieder zeigen die
beiden Autoren dabei auf, wie das heutige, auf die freiwillige
Zusammenarbeit souveräner Staaten ausgerichtete Völkerrecht nicht
in der Lage ist, nachhaltige
Lösungen durchzusetzen:
Entweder bleiben die Maßnahmen der Weltgemeinschaft zu
schwach, worunter oft gerade
die Ärmsten zu leiden haben. Oder es kommt (etwa im Kampf gegen
Terror und Kriminalität) zu überschießenden
Reaktionen, denen
es aber an Legitimität und Kontrolle fehlt.
Der
Ausweg aus diesem Dilemma ist
immer wieder: das demokratische Weltparlament.
Während der Leser diesen
Dreh recht bald verstanden hat, bleibt es doch beeindruckend, wie
viele Einzelbeispiele die Autoren dafür finden – und wie viele
Experten sie zitieren, die für ihr jeweiliges Feld die Forderung
nach einer
effizienteren
und
demokratischeren
Weltordnung erheben.
Die
Möglichkeit einer globalen kollektiven Identität
Die
letzten Kapitel des zweiten Teils lösen sich von dieser
funktionalistischen Perspektive, um stärker die Frage in den Blick
zu nehmen, ob die Menschheit zu einer globalen Demokratie
überhaupt bereit wäre. In einer
der schwächeren Passagen des
Buches greifen Leinen und Bummel die „transnationale
kapitalistische Klasse“ an, der
daran gelegen sei, dass die
globalisierten
Märkte kein
Gegengewicht in Form demokratisch
legitimierter globaler
politischer Institutionen bekämen –
ein an sich bedenkenswertes
Argument, das im Buch jedoch
leider durch
den allzu
klassenkämpferischen Tonfall
an Überzeugungskraft verliert.
Was
die Bereitschaft der
breiteren
Bevölkerung betrifft, sich auf eine weltweite Demokratie
einzulassen, sind Leinen und Bummel optimistischer.
Durchaus plausibel
legen sie
dar, dass nationaler
„Gruppennarzissmus“ nicht
alternativlos ist
und eine globale kollektive
Identität –
entgegen einem oft
wiederholten Klischee –
auch ohne Begegnung
mit „außerirdischen
‚Anderen‘“
entstehen kann.
So
wie die nationalen Identitäten im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts
durch politische
Mythenbildung konstruiert wurden, gibt es heute die
Chance, ein Bewusstsein von
der Menschheit als „real existierende Schicksalsgemeinschaft“ zu
schaffen, die durch
demokratische Weltinstitutionen in kollektiver Selbstbestimmung über
ihre eigene Zukunft entscheidet. Als
zentrale Akteure sehen Leinen
und Bummel dabei
nicht zuletzt die Historiker,
die mit der Globalgeschichte
eine neue Perspektive entwickelt
haben, aus der ein
„Selbstverständnis als Bürger dieser Welt“ entstehen könne.
Eine
UNPA nach Vorbild des Europäischen Parlaments
Den
konkreten Aussichten
auf Verwirklichung einer Weltdemokratie ist schließlich
der dritte Teil des Buches
gewidmet, der mit nicht
einmal 40 Seiten leider eher
knapp ausfällt. Leinen und
Bummel geben sich darin als Pragmatiker: Auch wenn ein vollwertiges
Weltparlament „so schnell
wie möglich gelingen
muss“, seien
„übereilte und gewagte Experimente“ nicht
das Mittel der
Wahl.
„Bis
auf weiteres“ sollte man sich vielmehr
„auf einen stufenweisen und evolutionären Prozess einstellen“.
Wenig
überraschend schwebt den Autoren dabei das Vorbild des Europäischen
Parlaments vor, das 1952 als bloße Parlamentarische Versammlung
begann, dessen Mitglieder von den nationalen
Parlamenten delegiert wurden
und das im
Wesentlichen nur beratende
Funktionen
einnahm
– ehe es im Lauf der Zeit nach und nach aufgewertet wurde. Einen
ähnlichen Weg sehen Leinen und Bummel auch als Möglichkeit für
eine Parlamentarische
Versammlung bei den Vereinten Nationen (UNPA).
Auch die Sitzverteilung
könnte wie
beim Europäischen Parlament zunächst mit degressiv-proportionalen
Länderkontingenten
erfolgen, ehe man eines Tages
womöglich zu grenzüberschreitenden Wahlkreisen übergeht.
Ohnehin
würde die UNPA, sobald
es sie erst
einmal gäbe,
rasch zum Aktionsfeld
der globalen Parteien und
könnte dann
– als das
bestlegitimierte Organ der
Weltpolitik – leicht selbst zum Motor weiterer Veränderungen
werden. Entscheidend
ist für Leinen und Bummel deshalb nicht
so sehr die finale Ausgestaltung des Weltparlaments, sondern
dass mit der Einrichtung
einer UNPA überhaupt der demokratische
Reformprozess in Gang gesetzt
wird.
Wie
ist ein institutioneller Durchbruch möglich?
Bei
der Frage, wie es zu einem
solchen institutionellen Durchbruch kommen könnte,
bleibt das Buch jedoch
unvermeidlich etwas
schemenhaft. Zu Recht weisen
Leinen und Bummel darauf hin, dass historische Ereignisse wie
der Berliner Mauerfall 1989 oder der arabische Frühling 2011 oft
plötzliche und unerwartete
Gelegenheitsfenster öffnen.
Auch
für die UNPA können sich die Autoren deshalb ganz unterschiedliche
Auslöser vorstellen: ein drohender Dritter Weltkrieg, klimabedingte
Naturkatastrophen, eine Demokratisierung Chinas. In
der Zwischenzeit setzen Leinen und Bummel darauf,
in der Zivilgesellschaft und
unter den politischen Eliten
ein möglichst großes Netz
von Unterstützern
aufzubauen, damit
es dann im
entscheidenden Moment zu
einer gleichzeitigen „Revolution von unten“ und „von oben“
kommen kann.
Geduldig
Überzeugungsarbeit leisten
und auf
einen passenden politischen
Auslöser warten: Auf
manchen Zweifler,
der den Glauben an eine UN-Reform verloren hat,
mag diese Strategie
allzu optimistisch wirken.
Ob
sie wirklich
erfolgreich sein kann,
wird die Zukunft zeigen. Einstweilen
aber bleibt
der föderalistische Entwurf eines
demokratischen Weltparlaments
die schlüssigste Alternative zum heutigen ineffizienten und schwach legitimierten UN-System. Jo
Leinen und Andreas Bummel haben mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag geleistet, um die
öffentliche Debatte darüber von unfruchtbaren Stereotypen zu
lösen und in eine produktive
Auseinandersetzung zu überführen.
Jo
Leinen / Andreas Bummel: Das demokratische Weltparlament. Eine
kosmopolitische Vision, Bonn (Dietz) 2017, 464 Seiten,
Broschur: 26,00
Euro, eBook:
23,99 Euro.
|
Bild: NASA Goddard Space Flight Center; image by Reto Stöckli, enhancements by Robert Simmon [CC BY 2.0], via Flickr.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.