Am 8. Dezember hat die neue Bundesregierung ihr Amt angetreten; gleich in den darauffolgenden Tagen reisten Kanzler und Außenministerin zu Antrittsbesuchen in Paris, Brüssel und Warschau. Nach sechzehn Jahren wurde die Ära Merkel durch eine Ampelkoalition abgelöst – eine Zäsur für Deutschland, aber auch für die Europäische Union, in der mit man großem Interesse neue Impulse aus dem größten Mitgliedstaat erwartet.
Mit SPD (SPE), Grünen (EGP) und FDP (ALDE) versammelt die neue Regierung die drei Parteien, die sich in ihren Bundestagswahlprogrammen am markantesten die Weiterentwicklung der EU zum Ziel gesetzt hatten. So will die SPD „die EU zur modernsten Demokratie der Welt machen“ und ein „souveränes Europa in der Welt“ schaffen. Die FDP spricht sich für einen „Verfassungskonvent“ aus, der „die Grundlage für einen föderal und dezentral verfassten Europäischen Bundesstaat“ legen soll. Und die Grünen haben eine „Föderale Europäische Republik mit einer europäischen Verfassung“ zu ihrem „Fixstern“ erklärt.
Der „Bundesstaat“ als Ziel
Es ist deshalb nur folgerichtig, dass es auch im Koalitionsvertrag der drei Parteien nicht an ambitionierten Formulierungen zur Europapolitik mangelt. Am auffälligsten ist zweifellos die Forderung, die bis Mai 2022 laufende Konferenz zur Zukunft Europas solle „in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung [der EU] zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen“. Nach langen Jahren, in denen die deutsche Bundesregierung europapolitischen Visionen nach Möglichkeit aus dem Weg ging, ist diese deutliche Ansage zur Finalität der EU eine erfrischende Veränderung. Vor allem unter Föderalist:innen war die Begeisterung darüber groß.
Andere Reaktionen fielen hingegen skeptisch aus. Immerhin hatte auch die letzte Große Koalition 2018 durchaus prominent von einem „neuen Aufbruch für Europa“ gesprochen, diesen sogar ganz an den Anfang des Koalitionsvertrags gestellt – und dann wenige Taten folgen lassen, wenigstens bis zum Beschluss des historischen Corona-Wiederaufbaufonds im Sommer 2020. Kann man wirklich glauben, dass es der Ampel gelingen wird, die EU innerhalb von vier Jahren in einen Bundesstaat zu verwandeln? Papier ist bekanntlich geduldig.
Reaktionen in anderen Mitgliedstaaten
Auf jeden Fall aber sind die starken Worte im Koalitionsvertrag ein symbolischer Paukenschlag, der auch in anderen EU-Mitgliedstaaten vernommen wurde. Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán sagte der neuen Bundesregierung dann auch gleich in einem Essay den Kampf an; sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki bezeichnete ein föderales Europa als gefährlichen „bürokratischen Zentralismus“.
Der frühere belgische Premierminister und liberale Fraktionschef im Europäischen Parlament Guy Verhofstadt begrüßte hingegen, dass Deutschland wieder eine Führungsrolle in Europa übernehme. Und in Frankreich halten nach einer Umfrage 58 Prozent der Bevölkerung die europapolitische Linie der Ampelkoalition für eine „gute Sache“ – mit großer Zustimmung in allen Lagern mit Ausnahme der extremen Rechten.
Die Erwartungen an die neue Bundesregierung sind also hoch. Selbst wenn es mit dem europäischen Bundesstaat so schnell nichts wird, hat sie mit diesem Schlagwort einen Maßstab gesetzt, an dem sie ihre praktische Europapolitik wird messen lassen müssen. Was aber kündigt der Koalitionsvertrag konkret an?
Die Vorhaben im Koalitionsvertrag
In Sachen institutionelle Reform liegt die Ampel ganz auf föderalistischem Kurs: Unter anderem will sie ein stärkeres Europäisches Parlament, ein einheitliches Europawahlrecht mit transnationalen Listen und Spitzenkandidat:innen sowie eine Ausweitung von Mehrheitsabstimmungen im Rat. Großen Raum nimmt zudem die Verteidigung des Rechtsstaats ein – was auch der Hauptgrund für die harschen Reaktionen aus Budapest und Warschau sein dürfte.
Die Pläne in der Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik klingen weniger ambitioniert, aber auch hier gibt sich die Ampel reformbereit und für eine Vertiefung offen. Eine Neuauflage des Corona-Wiederaufbauinstruments in künftigen Krisen wird nicht versprochen, aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. In Sachen Freizügigkeit will die Koalition die „Integrität des Schengenraums“ wiederherstellen und Ausnahmeregelungen (die die temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen ermöglichen) „restriktiver“ nutzen. Asylpolitisch soll es eine „faire Verteilung“ bei der Aufnahme von Geflüchteten sowie eine „europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer“ geben.
Wofür wird die Ampel politisches Kapital einsetzen?
Auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik spielt im Koalitionsvertrag eine große Rolle. Mehrfach ist von einer „strategischen Souveränität der EU“ die Rede – ein Schlagwort, das auch der französische Präsident Emmanuel Macron immer wieder gebraucht und das der Koalitionsvertrag als „eigene Handlungsfähigkeit im globalen Kontext“ sowie als eine verringerte Abhängigkeit in Bereichen wie „Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoffimporte und digitale Technologie“ definiert. Dafür sollen außenpolitische Entscheidungen im Rat künftig mit qualifizierter Mehrheit erfolgen, der Europäische Auswärtige Dienst gestärkt werden und die Hohe Vertreter:in als „echte ‚EU-Außenministerin‘“ fungieren – was auch immer Letzteres genau bedeuten mag.
Aber wie das in der Europapolitik so ist: Die meisten dieser Ziele wird die Ampelkoalition nicht allein durchsetzen können, sondern nur durch Kompromisse mit anderen Mitgliedstaaten im Rat. Dies wirft die Frage auf, für welches Vorhaben sie wie viel politisches Kapital einzusetzen bereit ist. Eine Antwort darauf kann sich erst in der Praxis zeigen, und es ist durchaus möglich, dass nicht alle Parteien der Koalition hier immer dieselben Schwerpunkte setzen werden.
Das Europa-Team der neuen Koalition
Nicht zuletzt deshalb sind auch die Personen bedeutsam, die in den nächsten Jahren die europapolitische Verantwortung übernehmen werden. Wenig überraschend haben sich im Kabinett alle Koalitionsparteien relevante Ressorts gesichert: Während die SPD mit Olaf Scholz das Kanzleramt kontrolliert, liegen die für die Europakoordination zuständigen Ministerien – Auswärtiges Amt und Wirtschaftsministerium – in den Händen der grünen Minister:innen Annalena Baerbock und Robert Habeck. Die FDP wiederum holte für Christian Lindner das europapolitisch ebenfalls einflussreiche Finanzministerium.
Interessant für das Profil der Regierung ist aber auch die zweite Reihe: Als europapolitischen Berater im Kanzleramt bringt Scholz seinen Vertrauten Jörg Kukies, einen der Architekten des Corona-Wiederaufbauinstruments, aus dem Finanzministerium mit. Kukies’ Nachfolger als Europa-Staatssekretär wird dort Carsten Pillath, zuvor langjähriger Generaldirektor für Wirtschaft im EU-Ratssekretariat.
Die nächste Kommissar:in könnte ein Grüne:r sein
Im Wirtschaftsministerium werden der Finanzpolitiker Sven Giegold, bisher Leiter der Grünen-Delegation im Europäischen Parlament, sowie Franziska Brantner, bisher europapolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, als Staatssekretär:innen für Europathemen zuständig sein. Die neue Europa-Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Anna Lührmann, hat hingegen einen Hintergrund im Bereich Demokratieförderung – offenbar ein Zeichen für den Stellenwert, den die Rechtsstaatsfrage künftig für die deutsche Europapolitik spielen soll.
Der Vorsitz im Europaausschuss des Bundestags geht ebenfalls an die Grünen. Ihn übernimmt der ehemalige Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter, der bislang vor allem als Umwelt- und Verkehrspolitiker bekannt ist. Und schließlich sollen die Grünen laut Koalitionsvertrag auch das nächste deutsche Kommissionsmitglied vorschlagen, jedenfalls „sofern Deutschland nicht die Kommissionspräsidentin stellt“. Letzteres könnte passieren, falls sich Ursula von der Leyen (CDU/EVP) bei der Europawahl 2024 als Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei eine zweite Amtszeit sichert. Dem würde sich die neue Bundesregierung offenbar nicht in den Weg stellen.
Mehr europapolitische Debatte zu erwarten
Wie harmonisch das Ampel-Team in den nächsten vier Jahren zusammenarbeiten wird, muss sich zeigen. Eine Drei-Farben-Koalition auf Bundesebene gab es in Deutschland noch nie; und als SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich kurz vor dem Amtsantritt der neuen Regierung erklärte, dass deutsche Außenpolitik „insbesondere im Kanzleramt gesteuert“ würde, kam das bei den Grünen nicht allzu gut an. Auch inhaltlich sind sich die drei Parteien gewiss nicht in allen Fragen einig.
Aber mehr europapolitische Debatte – auch in der Öffentlichkeit – muss ja kein Schaden sein. Der Start der neuen Regierung stimmt jedenfalls zuversichtlich, dass Deutschland in der Europapolitik und die Europapolitik in Deutschland in den kommenden Jahren an Präsenz gewinnen wird.
Dieser Beitrag ist in leicht gekürzter Form auch im Journal für Internationale Politik und Gesellschaft (IPG) erschienen.
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