- Es ist ein analytischer Fehler, das Verhalten Ungarns als Anomalie und nicht als gefährlichen Präzedenzfall zu betrachten.
Ungarns Vetostrategie ist zu einem festen Bestandteil der EU-Politik geworden. Wenn Ministerpräsident Viktor Orbán (Fidesz/PfE) Sanktionen gegen Russland aufhält, den EU-Beitritt der Ukraine zu verhindern verspricht oder den Haushalt der Union blockiert, macht das kaum noch Schlagzeilen. Die Europäische Friedensfazilität, einst im Mittelpunkt der EU-Unterstützung für die Ukraine, wurde aufgrund der ungarischen Vetos stillschweigend beiseite geschoben. Nennenswerte Fortschritte bei der institutionellen Weiterentwicklung der Union oder gar Vertragsreformen werden als unerreichbar abgetan.
Das Verhalten der ungarischen Regierung spiegelt einen breiteren Trend der Autokratisierung in Europa wider, bei dem illiberale Akteure institutionelle Schwachstellen ausnutzen. Dies bedroht die Relevanz der EU selbst: Um Orbáns Obstruktionismus zu umgehen, haben andere Mitgliedstaaten bereits reguläre EU-Mechanismen durch neue intergouvernementale Ad-hoc-Formate zu ersetzen begonnen, beispielsweise in Form von „EU-26-Erklärungen” oder der „Koalition der Willigen” zur Unterstützung der Ukraine.
Abwartende Haltung
Die EU ist dabei nicht untätig geblieben. Im Jahr 2018 leitete das Europäische Parlament ein Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn ein, das letztlich zu Sanktionen wie der Aussetzung seiner Stimmrechte im EU-Rat führen könnte. Im Jahr 2022 erklärte das Parlament, dass das Land „keine vollständige Demokratie mehr“ sei. Ebenfalls seit 2022 hat die Kommission im Rahmen verschiedener Rechtsstaatlichkeitsmechanismen fast 20 Milliarden Euro an Mitteln eingefroren, was den ungarischen Haushalt belastet und Orbáns innenpolitische Macht untergräbt.
Doch keine dieser Maßnahmen hat zu bedeutenden demokratischen Reformen geführt oder Orbán weniger obstruktiv gemacht. Im Gegenteil: Er wurde eher noch aggressiver bei dem Versuch, Vetodrohungen als Druckmittel zur Freigabe von Geldern einzusetzen. Im Jahr 2025 führten Ungarns Angriffe auf LGBTQ+-Rechte und Orbáns Widerstand gegen Russland-Sanktionen zu Forderungen nach einem härteren Vorgehen der EU. Doch eine Anhörung des Rates zu Ungarn endete im Mai ohne Ergebnisse. Trotz der sich verschlechternden Lage setzen viele Mitgliedstaaten weiter auf eine abwartende Haltung.
Orbán ist ein Präzedenzfall, keine Anomalie
Ein Grund für diese Passivität dürfte die 2026 anstehende ungarische Parlamentswahl sein. Die Oppositionspartei TISZA hat Orbáns Fidesz in den Umfragen überholt und weckt damit Hoffnungen auf einen Machtwechsel. Doch wie die OSZE schon 2022 feststellte, sind Wahlen in Ungarn nicht mehr fair. Undurchsichtige Wahlkampffinanzierung und ein einseitiges Mediensystem begünstigen die Regierungspartei. Es wäre deshalb naiv, sich nicht auf ein Szenario vorzubereiten, in dem Orbán erneut gewinnt und dann noch autoritärer auftritt als bisher.
Auf einer noch grundlegenderen Ebene begehen die europäischen Staats- und Regierungschef:innen einen analytischen Fehler, wenn sie das Verhalten Ungarns weiterhin als Anomalie betrachten und nicht als gefährlichen Präzedenzfall. Zu den Ländern, die dem ungarischen Beispiel gefolgt sind, gehören etwa Polen von 2017 bis 2023 sowie die Slowakei in den letzten Jahren. Letztendlich ist kein EU-Mitgliedstaat immun gegen die Gefahr des Illiberalismus. Orbán hat anderen populistischen Politiker:innen gezeigt, wie sie die Entscheidungsfindung in Europa lahmlegen können, selbst wenn ihre Parteien auf EU-Ebene weiterhin in der Minderheit sind.
Was die EU tun kann
Welche Möglichkeiten hat die EU also, um das Problem zu bewältigen – wenn schon nicht zu lösen?
Als einfachster Ansatz kann schon koordinierter politischer Druck Wirkung zeigen. Auch die ungarische Regierung hat ein Interesse daran, eine transaktionale zwischenstaatliche Zusammenarbeit auf EU-Ebene aufrechtzuerhalten. Wenn wichtige Mitgliedstaaten das als Hebel eingesetzt haben und Orbán energisch entgegengetreten sind, konnten sie ihn wiederholt dazu bringen, Vetos zurückzuziehen. Orbáns denkwürdige Solo-„Kaffeepause”, die es dem Europäischen Rat im Dezember 2023 ermöglichte, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen, ist nur ein Beispiel dafür. Ad-hoc-Lösungen wie die Koalition der Willigen können ebenfalls kurzfristig Abhilfe schaffen.
Sich allein auf solche Taktiken zu verlassen, ist jedoch nicht nachhaltig. Das politische System der EU bietet böswilligen Akteur:innen so viele Möglichkeiten für Vetodrohungen, dass andere Mitgliedstaaten diese nicht alle überwinden oder umgehen können. Stattdessen muss die EU die strukturellen Mängel beheben, die eine anhaltende Blockade ermöglichen.
Stimmrechte entziehen
Artikel 7 EUV sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, einem Mitgliedstaat wegen Verstößen gegen demokratische Werte das Stimmrecht zu entziehen. Da hierfür jedoch die Einstimmigkeit aller anderen Mitgliedstaaten erforderlich ist, könnten Ungarns ideologische Verbündete jeden entsprechenden Vorstoß blockieren.
Ein radikalerer Ansatz schlägt sogar vor, über den Ausschluss Ungarns zu debattieren. Diese Option ist jedoch rechtlich problematisch und würde eine Neugründung der Union ohne Ungarn erfordern. Zudem würde sie bedeuten, die ungarischen Bürger:innen im Stich zu lassen und ihnen den Schutz durch das EU-Recht zu entziehen.
Vetomöglichkeiten abbauen
Ein praktikablerer Weg könnte darin bestehen, nationale Vetorechte allgemein und in größerem Ausmaß abzuschaffen. Wenn alle Ratsbeschlüsse mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden könnten, würde die Blockademacht einzelner Staaten entfallen.
Da eine solche Verfahrensänderung allerdings selbst Einstimmigkeit erfordern würde, gibt es Vorschläge, einen „Zusatzvertrag“ abzuschließen, mit dem nur dazu willige Mitgliedstaaten auf ihr Vetorecht verzichten würden. Ungarn selbst würde einen solchen Vertrag derzeit sicher nicht unterzeichnen; doch für die Staaten, die dies tun, würde er einen Lock-in-Effekt schaffen und damit langfristigen Schutz gegen künftige Obstruktionspolitik durch illiberale Mitgliedstaaten innerhalb des vertieften Kerns der Union bieten.
Es geht um das Überleben der EU in einer Zeit des Populismus
Die Entscheidungsverfahren der EU wurden in einer Zeit des Optimismus gestaltet, als Europa nach dem Ende des Kalten Krieges wiedervereinigt wurde und die Demokratie sich langsam, aber sicher weltweit auszubreiten schien. Im Jahr 2025 sieht sich Europa hingegen durch den imperialistischen Krieg Russlands in der Ukraine bedroht, Donald Trump treibt die USA in Richtung einer autoritären Herrschaft, und der globale Multilateralismus weicht zunehmend einer Politik der Großmächte. Wenn die EU in dieser neuen, harten Realität relevant bleiben will, muss sie sich anpassen und sicherstellen, dass sie nicht durch illiberale Regierungen innerhalb ihrer eigenen Mitgliedstaaten gelähmt wird.
Das Problem des illiberalen Blockadeverhaltens wird auf absehbare Zeit nicht verschwinden, doch die EU verfügt über Mittel und Wege, um dagegen vorzugehen. Keiner dieser Wege ist einfach, das Gefährlichste aber wäre, jetzt nichts zu tun. Es geht in dieser Frage nicht mehr nur um Ungarn. Auf dem Spiel steht, ob die EU in einer Zeit des rechtsextremen Populismus und der demokratischen Stagnation überleben und sich weiterhin für ihre Grundwerte einsetzen kann.
Manuel Müller ist Senior Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs (FIIA) in Helsinki und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“. |
Tyyne Karjalainen ist Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs (FIIA) in Helsinki und Doktorandin an der UniversitätTurku. |
Dieser Artikel ist zuerst als FIIA Comment in englischer und finnischer Sprache auf der Webseite des Finnish Institute of International Affairs erschienen..
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