José
Ortega y Gasset, „Der Aufstand der Massen“
Mit
den Europawahlen gibt es ein Problem. Obwohl das Europäische
Parlament immer mehr an Bedeutung gewann, ist die Wahlbeteiligung
beständig gesunken – von 63 Prozent im Jahr 1979 auf 43 Prozent
2009 –, und viele Unionsbürger wissen nicht so richtig, wofür
ihre Europaabgeordneten überhaupt da sind. Manche nehmen das als
Beleg dafür, dass Demokratie auf überstaatlicher Ebene eben nicht
funktionieren kann und man das Parlament am besten einfach schließen
sollte (so kürzlich der ehemalige britische Minister Jack Straw,
Labour/SPE). Andere heben dagegen hervor, dass dem Parlament bis
heute wichtige Kompetenzen fehlen, die zu einer intensiveren
parteipolitischen Debatte auf europäischer Ebene führen würden (so
kürzlich ich selbst in diesem Blog). Worin sich aber
eigentlich alle einig sind, ist, dass das heutige Europawahlrecht
unbefriedigend ist. Anstelle einer echten gemeinsamen Europawahl gibt
es bis heute 27 mehr oder weniger gleichzeitig stattfindende
nationale Wahlen zum Europäischen Parlament, bei denen jeder Staat
ein eigenes Sitzkontingent und ein eigenes Wahlgesetz hat – und oft
genug auch eigene nationale Wahlkampfthemen.
Um
dem abzuhelfen, sieht Art. 223 Abs. 1 AEU-Vertrag vor,
dass das Europäische Parlament einen Entwurf für die „allgemeine
unmittelbare Wahl seiner Mitglieder nach einem einheitlichen
Verfahren in allen Mitgliedstaaten“ erarbeiten soll – eine
Vorschrift, die sich fast wortgleich schon in Art. 138 Abs. 3 des
EWG-Vertrags von 1957 fand. Seitdem gab es zwar verschiedene
Reformen, um wenigstens eine teilweise Angleichung der Wahlverfahren
zu erreichen, ein echter Durchbruch wurde jedoch bis heute nicht
erzielt. Und so steht (von den Medien leider bislang weitgehend
unbemerkt) derzeit wieder einmal ein neuer Vorschlag zur Debatte, der
die EU dem Ziel echter gesamteuropäischer Wahlen einen Schritt näher
bringen soll.
Eine
kleine Revolution
Dieser
Entwurf wurde im Parlamentsausschuss für konstitutionelle
Angelegenheiten von dem britischen Abgeordneten Andrew Duff
(LibDem/ELDR) ausgearbeitet und ist deshalb als Duff-Bericht bekannt
(hier der Wortlaut). Viele der darin enthaltenen
Änderungsvorschläge machen sich eher bescheiden aus. So sollen die
Europawahlen künftig nicht mehr im Juni, sondern im Mai stattfinden,
damit das neue Parlament noch vor der Sommerpause seine Arbeit
aufnehmen kann – nach wie vor soll jedoch jedes Land den genauen
Wahltermin innerhalb eines „für alle Mitgliedstaaten gleichen
Zeitraum von Donnerstagmorgen bis zu dem unmittelbar nachfolgenden
Sonntag“ frei wählen dürfen. Auf eine weitere Angleichung der
nationalen Europawahlgesetze verzichtet der Entwurf weitgehend; und
auch der Vorschlag, die Größe der nationalen Sitzkontingente
künftig nicht mehr in zwischenstaatlichen Verhandlungen
auszuknobeln, sondern nach einer festen mathematischen Formel in
Abhängigkeit von der Bevölkerungszahl zu berechnen, wird sehr
bescheiden vorgetragen: Geplant ist nur, in einem „Dialog mit dem
Europäischen Rat“ dazu „die Möglichkeit zu sondieren“.
Doch
nicht umsonst ist Andrew Duff seit 2008 Präsident der Union der Europäischen Föderalisten, und so enthält sein Bericht neben
all den Kleinigkeiten noch einen echten Paukenschlag: So schlägt er
vor, das Parlament um 25 Abgeordnete zu erweitern, die nicht (wie die
751 übrigen) über nationale Listen gewählt werden sollen, sondern
über gesamteuropäische. Jeder Wähler hätte damit künftig zwei
Stimmen: Die eine ginge wie bisher an eine nationale Partei im Rahmen
der Wahl für das nationale Sitzkontingent. Die andere dagegen ginge
an eine transnationale Liste, die sich „aus Kandidaten aus
mindestens einem Drittel der Staaten“ zusammensetzen müsste. Die
Stimmen, die für diese transnationalen Listen abgegeben würden,
würden EU-weit zusammengerechnet und über die Verteilung der
zusätzlichen 25 Sitze entscheiden.
Dieser
Vorschlag ist nichts anderes als eine kleine Revolution. Das
Europäische Parlament ist schon heute das weltweit einzige direkt
gewählte supranationale Organ, doch bis jetzt war aufgrund der
Fragmentierung in nationale Sitzkontingente die Wählerschaft jedes
einzelnen Abgeordneten doch jeweils nur national. Die Wählerschaft
der 25 zusätzlichen Abgeordneten hingegen wären die Bürger der
gesamten EU – zum ersten Mal in der Geschichte würden Wahlen auf
überstaatlicher Ebene ohne Beachtung nationaler Grenzen nach dem
Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“ erfolgen.
Jetzt
kommt es darauf an
Es
versteht sich von selbst, dass ein solch klares Zeichen für mehr
europäische Demokratie nicht ohne Gegenwehr geblieben ist.
Tatsächlich stand eine frühere Version des Duff-Berichts bereits
vor einem Dreivierteljahr im Plenum des Europäischen Parlaments zur
Abstimmung (hier die damalige Debatte). Insbesondere in der
nationalkonservativen Fraktion ECR, der rechtspopulistischen EFD und
der linken GUE/NGL gab es damals Widerstand gegen den Vorschlag, aber
auch die christdemokratische EVP stand offensichtlich nicht
geschlossen hinter der Idee. Da es keine klare Mehrheit für eine
Verabschiedung gab, wurde der Bericht zunächst an den Ausschuss für
konstitutionelle Fragen zurückverwiesen. Vergangenen Februar hat der
Ausschuss den Bericht – mit einigen Änderungen im Detail – zum
zweiten Mal verabschiedet. Am kommenden 14. März wird er nun erneut
im Plenum zur Abstimmung stehen.
Sollte
diesmal wieder keine Mehrheit für den Duff-Bericht zustande kommen,
so wird es wohl keinen dritten Versuch geben. Auch ein Ja des
Parlaments würde noch nicht gleich dazu führen, dass der Plan auch
umgesetzt wird: Für eine Veränderung des Europawahlrechts ist
darüber hinaus auch ein einstimmiger Beschluss des Rates sowie
gegebenenfalls der nationalen Parlamente erforderlich; falls eine
Vertragsänderung nötig ist, sogar die Einberufung eines
europäischen Konvents. Aber immerhin wäre eine wichtige Entscheidung
zugunsten mehr europäischer Demokratie auf den Weg gebracht.
In
den letzten Wochen hat deshalb eine Gruppe von europäischen Vereinen
(Democracy International, Newropeans, Citizens for Europe, Omnibus
für direkte Demokratie und die Initiative for the European Citizens’
Initiative) eine gemeinsame Kampagne gestartet,
bei der Bürger ihre Unterstützung für den Plan zum Ausdruck
bringen können. Und auch in diesem Blog sollen in den nächsten
Tagen einige Implikationen des Duff-Berichts thematisiert werden.
Hier geht es um etwas!
Der Duff-Bericht – Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?
Der Duff-Bericht – Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?
Bild: Laurence Boyce at en.wikipedia [CC-BY-SA-3.0 or GFDL], from Wikimedia Commons.
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