Am
vergangenen Donnerstag hat das Europäische Parlament überraschend
beschlossen, die für den 14. März geplante Plenardebatte zum
Duff-Bericht über die Reform des Europawahlrechts von der
Tagesordnung zu setzen. Damit ist nun unklar, ob überhaupt noch in
dieser Legislaturperiode über den darin enthaltenen Vorschlag
entschieden wird, das Parlament um 25 Abgeordnete zu erweitern, die
auf gesamteuropäischen Listen gewählt werden sollen. Doch die Idee
ist in der Welt und wird früher oder später auf die europäische
Agenda zurückkehren. Was ist davon zu halten? Teil 4 und Schluss einer Serie (zu
Teil 1).
Keine
Abstimmung im Europäischen Parlament
- Die Europäische Volkspartei hat sich zum Bollwerk gegen transnationale Listen gemacht. Aber welche Gründe mag sie dafür haben?
Bekanntlich wird der
Duff-Plan bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments in dieser
Woche nicht zur Diskussion stehen. Nach der Darstellung von Gerald Häfner, dem zuständigen Schattenberichterstatter
der Grüne/EFA-Fraktion, vereinbarten die Unterstützer des Berichts, hauptsächlich Liberale, Grüne und die Mehrheit der Sozialdemokraten, ihn von der Tagesordnung abzusetzen. Zuvor hatte die Fraktion der Europäischen
Volkspartei (Christdemokraten) angekündigt, dass sie geschlossen dagegen stimmen
würde – auch wenn etwa ein Drittel ihrer Mitglieder dem Vorschlag eigentlich positiv gegenüberstand. Durch die nun erfolgte Vertagung auf unbestimmte Zeit wird ein
explizites Nein zu den transnationalen Listen vermieden. Das ist
einerseits wohl strategisch sinnvoll, da auf diese Weise eine
spätere Abstimmung bei geänderter Stimmungslage möglich bleibt. Andererseits ist es aber auch schade: Es wäre
sicher spannend gewesen, wenn die Öffentlichkeit hätte mit
ansehen können, welche Abgeordneten genau sich für und gegen die Wahlrechtsreform aussprechen. Und vor allem hätte
die EVP in der Plenardebatte Gelegenheit gehabt, die Gründe für ihre Haltung zu erläutern. Derzeit hält sie sich dazu bedeckt: Jedenfalls findet
sich weder auf der Homepage der Fraktion noch auf derjenigen
ihres zuständigen Schattenberichterstatters György Schöpflin eine Stellungnahme zum Thema.
Immerhin aber stand der
Duff-Bericht schon im vergangenen Juli einmal im Plenum des Parlaments zur Diskussion, von wo er dann in den Ausschuss für konstitutionelle Fragen
zurückverwiesen wurde. In der damaligen Debatte meldeten sich auch die Gegner der transnationalen Listen zu
Wort – vor allem Nationalkonservative, Rechtspopulisten und Linke, aber auch einige Christ- und Sozialdemokraten. Wie also sehen die Argumente aus, die in der Vergangenheit gegen den Plan vorgebracht wurden? Und wie stichhaltig sind sie?
Einflussverlust für
kleine Staaten?
Die Linksfraktion GUE/NGL erhob vor allem den Vorwurf, dass der Duff-Bericht zu einer Einflussverschiebung von den kleinen zu den großen
Mitgliedstaaten führen werde. Da die großen Länder das meiste
Wählerpotenzial stellten, würden die europäischen Parteien die
Spitzenplätze auf den transnationalen Listen bevorzugt an deutsche
und französische Kandidaten vergeben. Schlimmer noch: Falls man sich
für ein Modell mit offenen Listen entscheiden würde, auf denen also
die Wähler selbst die Reihenfolge der Kandidaten beeinflussen
könnten, würden die Einwohner der großen Staaten jeweils ihre
Landsleute auf die vorderen Plätze befördern.
Schon
im vergangenen Juli erklärten die Befürworter des Plans dagegen,
dass es keineswegs die einzig denkbare Strategie für europäische
Parteien sein muss, sich bei der Kandidatenauswahl auf die großen
Länder zu konzentrieren: Ebenso gut könnten sie sich für eine
geografisch möglichst breit aufgestellte Liste entscheiden, die
Wähler in möglichst vielen verschiedenen Mitgliedstaaten ansprechen
würde. Und warum eigentlich sollten deutsche Wähler immer nur
deutsche Kandidaten unterstützen? Für die EVP jedenfalls scheint
das Argument einer Benachteiligung der kleinen Länder nicht
der entscheidende Grund gewesen zu sein, dem Duff-Bericht die
Unterstützung zu versagen.
Zwei-Klassen-Parlament?
Ein
zweiter Einwand betraf die Besorgnis, dass der
Duff-Bericht eine Aufteilung der Europaparlamentarier in zwei Klassen
zur Folge haben könnte: Auf den transnationalen Listen würden
nämlich vor allem besonders prominente Politiker antreten, die dank
ihrer Bekanntheit europaweit Wähler ansprechen könnten – und
diese Politiker wären es dann auch, die hinterher die Spitzenämter
im Parlament beanspruchen würden. Die auf den nationalen Listen
gewählten Abgeordneten würden dagegen, selbst wenn sie den
transnationalen an formalen Rechten gleichgestellt wären, nur noch
einen geringeren Status einnehmen.
Doch
selbst wenn dieser Fall eintreten sollte: Der Deutsche Bundestag ist
ein gutes Beispiel dafür, dass ein Zwei-Klassen-Parlament keineswegs
ein Problem sein muss. Hier gibt es einen informellen Unterschied
zwischen Abgeordneten, die mit einem Erststimmen-Direktmandat gewählt
wurden, und solchen, die über ihre jeweilige Landesliste in den Bundestag
einzogen. Die Ersteren haben in der Regel einen besseren Stand, weil
sie darauf verweisen können, in ihrem Wahlkreis persönlich und
nicht nur über die Partei gewählt worden zu sein; und wenn
prominente Politiker ihr Direktmandat verlieren, so ist das auch den
Medien oft eine Meldung wert. Die Zusammenarbeit zwischen
Direkt- und Listenabgeordneten im Bundestag nimmt jedoch an
diesen Prestigeunterschieden keinen Schaden.
Und
wenn es zuletzt dazu kommen sollte, dass alle Europaparlamentarier,
die etwas auf sich halten, lieber auf der europaweiten Liste antreten wollen, weil diese ihnen mehr Ansehen und Legitimität bietet als die nationale? Nun, dann spricht nichts dagegen, ihnen diesen Gefallen zu tun: Der Anteil der gesamteuropäischen
Mandate könnte in Zukunft ohne Schwierigkeiten noch erweitert werden. Jedenfalls ist auch das offensichtlich kein Grund, den Duff-Bericht abzulehnen. Es spricht sehr für die Reform, wenn ihren Gegnern keine besseren Argumente einfallen.
Ein
dritter Kritikpunkt schließlich, der vor allem von der nationalkonservativen
ECR und der Rechtsfraktion EFD vorgebracht wurde, zielte auf die Kosten ab, die durch die
zusätzlichen Abgeordneten entstehen würden. Man kennt das von den alljährlichen Diätenerhöhungen: Dass Demokratie auch Geld kostet, ist immer wieder ein Anlass für populistisches Geplänkel.
Natürlich wäre es in einem späteren Schritt sinnvoll, das Parlament wieder zu verkleinern, indem man langfristig die nationalen Sitzkontingente reduziert. Aber bis sich die Mitgliedstaaten darauf einigen werden, ist die Erweiterung um 25 Abgeordnete eine vollkommen akzeptable Zwischenlösung. Man stelle sich das vor: In einer Hand der Durchbruch zu mehr europäischer Demokratie, in der anderen jährliche Einsparungen in Höhe eines Betrags, mit dem man kaum den Bau von ein bis zwei Autobahnkilometern bezahlen kann – und die Europäische Volkspartei entscheidet sich für die Autobahn?
Doch es gab noch einen letzten Einwand gegen den Duff-Bericht, den krudesten und direktesten. Vorgetragen wurde er im
vergangenen Juli von Andrew Brons, einem Abgeordneten der britischen
rechtsextremen Partei BNP:
Das Wort „Demokratie“ bedeutet Herrschaft durch das Volk – wobei sich „Volk“ auf ein selbst-identifizierendes Ganzes bezieht. Es bedeutet nicht Herrschaft durch eine beliebige Ansammlung von Menschen. Eine beliebige Ansammlung von Menschen kann keine demokratische Macht ausüben, da eine gemeinsame Identität eine Vorbedingung für demokratische Zusammenarbeit ist. Ein transeuropäischer Wahlkreis über 27 Länder ist kein selbst-identifizierendes Ganzes. Der Berichterstatter [Duff] denkt offenbar, dass [sein Plan] zu einer solchen Identität führen kann, aber diese Identität ist eine Vorbedingung für, nicht eine Konsequenz aus einem Wahlprozess.
Und das scheint mir, auch außerhalb rechtsextremer Kreise, das eigentliche Motiv der meisten Gegner
transnationaler Listen zu sein: die Unfähigkeit oder der
Unwille, sich eine Demokratie jenseits des Nationalstaats
vorzustellen. Der Duff-Plan würde die grenzüberschreitende öffentliche
Debatte vor den Europawahlen anregen, das europapolitische Bewusstsein schärfen und vermutlich zu einer höheren
Wahlbeteiligung führen. Zugleich würde er verdeutlichen, dass das
Europäische Parlament keine Vertretung der nationalen Völker ist,
sondern eine der europäischen Unionsbürger. Er würde damit die besondere Form der demokratischen Legitimität unterstreichen, durch die das Parlament sich von
allen anderen EU-Organen absetzt – und er würde ihm eine stärkere Stellung vor allem gegenüber dem Rat verschaffen, der seine
Legitimität nur indirekt über die nationalen Regierungen bezieht.
Wem dieses Konzept einer transnationalen Bürgerschaft jedoch Angst macht, wer
sich lieber auf seine kleine nationale Identität zurückziehen und
die Einzelstaaten als Dreh- und Angelpunkt des politischen Lebens
erhalten will, der hat guten Grund, gegen den Duff-Bericht sein.
Anders als das Argument mit den höheren Kosten oder dem drohenden
Zweiklassenparlament ist dieser Standpunkt zwar reaktionär,
aber immerhin nicht lächerlich.
Nur sollte man sich dann nicht selbst als „proeuropäisch“ bezeichnen, wie das die europäischen Christdemokraten tun. Und schon aus diesem Grund wäre es wirklich interessant, wenn die EVP der Öffentlichkeit die Motive für ihr Nein erklären würde.
Nur sollte man sich dann nicht selbst als „proeuropäisch“ bezeichnen, wie das die europäischen Christdemokraten tun. Und schon aus diesem Grund wäre es wirklich interessant, wenn die EVP der Öffentlichkeit die Motive für ihr Nein erklären würde.
Der Duff-Bericht – Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?
Bild: By European People's Party (EPP Summit 22 March 2005 Meise) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.
Toller Artikel. Ich beschäftige mich gerade auch mit dem Demokratiedefizit des Europäischen Parlaments (ich bevorzuge hierbei das Wort: "Demokratiedilemma") und bin auch auf den Duff-Bericht gestoßen. Schade, dass sich auf die nationale Identität getützte Sturrheit doch durchsetzt. Der Duff-Plan wäre eine echte demokratische Chance. Auf der einen Seite wird die degressive Proportionalität kritisiert und auf der anderen Seite, ist man nicht bereit Wege zu gehen, die dieses Problem wirksam angehen. Wer nicht fördert, darf nicht fordern.
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