16 Mai 2014

Europawahlprogramme (5): Freizügigkeit, Einwanderung, Grenzschutz

Ob Finanzkrise, Klimawandel, Außenpolitik, Migration oder die Zukunft der Demokratie: Die EU ist in so vielen Bereichen aktiv, dass es keinen Grund gibt, vor der Europawahl auf nationale Nebenschauplätze auszuweichen. In einer Serie werden hier die Vorschläge verglichen, die die großen europäischen Parteien in ihren Wahlprogrammen formuliert haben – die christdemokratische EVP (Manifest/Aktionsprogramm), die sozialdemokratische SPE, die liberale ALDE, die grüne EGP und die linke EL. (Zum Anfang der Serie.)


Achtung, Grenzkontrolle: Dass die Freizügigkeit etwas Gutes ist, finden eigentlich alle europäischen Parteien. Aber wenn es konkreter wird, zeigen sich dann doch ein paar Unterschiede.
Wenn das hauptsächliche Anliegen der europäischen Integration das Überwinden nationaler Grenzen ist, dann werden die Auswirkungen der EU wohl für niemanden so konkret wie für die Menschen, die diese Grenzen auch ganz physisch überqueren. Tatsächlich waren Fragen der Reisefreiheit und der Migration in der vergangenen Europawahlperiode immer wieder Anlass zu großen Auseinandersetzungen – sei es die hart umstrittene Schengen-Reform, die Diskussion um „Armutszuwanderung“ oder die Tragödie von Lampedusa. Und natürlich waren daran stets auch die Parteien im Europäischen Parlament beteiligt. 

Auch vor der Europawahl 2014 nimmt die Frage, wie offen die europäischen Binnen- und Außengrenzen sein sollten, in fast allen Wahlprogrammen einen prominenten Platz ein. Dabei vertreten die Parteien nur in wenigen Punkten offen entgegengesetzte Positionen. Aber die Schwerpunkte, die sie jeweils setzen, lassen doch gewisse Unterschiede erkennen. 

Freizügigkeit 

Dass der freie Personenverkehr ein zentrales „Gründungsprinzip der EU“ (SPE), ja sogar eine der „bedeutendsten Errungenschaften unserer Gemeinschaft“ (EVP) ist, darin sind sich die großen Parteien weitgehend einig. Begründet wird es zum einen als Individualrecht der Unionsbürger (so explizit EVP, SPE und EGP), zum anderen aber auch als Vorteil für die Wirtschaft: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat die europäischen Unternehmen „stärker und wettbewerbsfähiger“ gemacht (ALDE) und kann „dazu beitragen, den Arbeitskräftemangel in verschiedenen Mitgliedstaaten zu mildern“ (EVP). 

Auch die Grünen sehen die Freizügigkeit als Chance, um „die Beschäftigung in Europa zu stärken“, schränken allerdings ein, dass mit der „zunehmenden Abwanderung von Fachkräften – vor allem junger Menschen – aus den Randregionen und den krisengeplagten Regionen“ auch soziale Probleme einhergehen. Noch schärfer wird die Europäische Linke, die als einzige große Partei die steigende Mobilität in Europa offen kritisiert: „Die Auswanderung junger Hochschulabsolventinnen und -absolventen und qualifizierter Kräfte schreitet voran. Arbeitslosigkeit oder Exil, ist das die Wahl, vor die wir die Jugend stellen wollen?“

Mobilitätsförderung, Erasmus Plus

Die übrigen vier Parteien hingegen setzen darauf, die Freizügigkeit durch konkrete Maßnahmen noch zu erleichtern. Besonders im Bildungsbereich wollen sie die Mobilitätsangebote, wie sie etwa das Programm Erasmus Plus bietet, noch weiter ausbauen. So will die SPE „den Europäern die Möglichkeit geben, ihr volles Potenzial zu entfalten“, und dafür unter anderem in „die Mobilität von Studenten“ investieren; die ALDE spricht (in Anlehnung an die vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts) gar von einer „fünften Freiheit“, die in dem „freien Wissensverkehr zwischen den Mitgliedstaaten – einschließlich größerer Mobilität für Studierende, Akademiker und Forscher“ bestehen soll. 

Auch die EVP strebt neben anderen bildungspolitischen Maßnahmen eine „größere Mobilität von Studenten und Dozenten über die bestehenden Mobilitätsprogramme hinaus“ an und unterstützt die „Einführung eines universellen EU-Diploms, das Studenten EU-weit uneingeschränkte Freizügigkeit einräumen würde“. Zudem sind die Christdemokraten für ein „Mobilitätsprogramm für Jungunternehmer nach dem Vorbild des Erasmus-Programms“, das es „einer neuen Unternehmergeneration erleichtern würde, sich die Vorzüge des Binnenmarktes zu erschließen“. Und damit das alles nicht an mangelnden Sprachkenntnissen scheitert, sollten nach Vorstellung der EVP „Politiken zur Förderung des Fremdsprachenunterrichts innerhalb der Bildungssysteme und am Arbeitsplatz prioritär behandelt werden“. 

Weniger die Unternehmer als ihre Angestellten haben hingegen EGP und SPE im Sinn, denen es vor allem um die soziale Absicherung von Arbeitnehmern außerhalb ihres Herkunftslandes geht. So wollen die Grünen „durch die Einführung einer europäischen Sozialkarte eine bessere Übertragbarkeit der sozialen Rechte, der Renten- und Versicherungsansprüche zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten erreichen“. Die SPE will „für einen besseren Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sorgen, die in andere Länder entsandt wurden – durch die Überarbeitung der Entsenderichtlinie sowie durch eine bessere europäische Zusammenarbeit zur Kontrolle und Einhaltung von Arbeitnehmerrechten“.

Sozialmissbrauch und Schengen-Reform 

Die großen Aufregerthemen der letzten Jahre allerdings kommen in den Wahlprogrammen kaum vor. Die Diskussion über den angeblichen „Sozialtourismus“ in Europa etwa kommt nur am Rande vor: Während die SPE in einem Halbsatz erklärt, man müsse bei der Freizügigkeit „Betrug und Missbrauch bekämpfen“, fordert die EVP in ihrem Manifest: „Sozialleistungen für EU-Bürger sollten nur dann gezahlt werden, wenn die betreffende Person zuvor in diesem Land erwerbstätig war.“ In ihrem ansonsten sehr viel detaillierteren Aktionsprogramm behandelt die EVP das Thema allerdings nicht, und auch Liberale, Grüne und Linke gehen nicht darauf ein. 

Ebenfalls kaum präsent ist die Reform des Schengener Grenzkodex, die noch vor zwei Jahren für große Konflikte zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Regierungen sorgte. Auf die Frage, unter welchen Umständen die eigentlich abgeschafften Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten doch wieder eingeführt werden können, geht keine einzige der fünf Parteien ein. Lediglich die ALDE erwähnt die „Abschaffung […] der Grenzkontrollen“ als eine positive Errungenschaft der EU, ohne damit weitere Forderungen zu verbinden. 

Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit 

Offene Grenzen erleichtern natürlich auch die grenzüberschreitende Kriminalität, und so ist die Diskussion über die innereuropäische Freizügigkeit und Reisefreiheit seit jeher auch mit der Debatte über eine verstärkte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit geprägt. Bis auf die EL, die auf das Thema nicht eingeht, sind sich alle Parteien einig, dass der Kampf gegen die organisierte Kriminalität auf europäischer Ebene gestärkt werden soll. Die mit Abstand detailliertesten Vorschläge macht dabei die EVP, die der „Vorbeugung und Bekämpfung von schwerer und organisierter Kriminalität, insbesondere Korruption und Geldwäsche“ gar „oberste Priorität“ einräumt. (Zum Vergleich: SPE und ALDE verwenden dieselbe Formulierung in Bezug auf die Reduzierung der Arbeitslosigkeit in der EU.) 

Im Einzelnen wollen die Christdemokraten unter anderem die „Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“, einen „Europäischen Untersuchungsbeschluss“, der „die grenzüberschreitende Beschaffung von Informationen und Beweismitteln vereinfachen würde“, die „Einrichtung effektiver Instrumente und Maßnahmen zur Kontrolle der Zahlungsströme in der EU“ sowie „Auslieferungsabkommen mit Drittländern und Rechtshilfeabkommen, da diese für die weltweite Bekämpfung der organisierten Kriminalität unverzichtbar sind“. Zudem fordert die EVP mehr „[g]egenseitiges Vertrauen zwischen den Justizverwaltungen“, unter anderem in Form einer „vollumfänglichen Anerkennung von Beweismitteln, Urteilen und Einziehungsentscheidungen in allen Mitgliedstaaten“. Auf die Zweifel, die auch die Europäische Kommission bis heute an den Justizsystemen einzelner EU-Länder hegt, gehen die Christdemokraten dabei allerdings nicht ein. 

Die größte Zurückhaltung bei der gemeinsamen Kriminalitätsbekämpfung zeigen hingegen die Grünen. Auch diese wollen zwar eine bessere Zusammenarbeit, „insbesondere wenn es um Terrorismusbekämpfung oder die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, einschließlich von Mafiastrukturen, oder von Umwelt- und Wirtschaftsverbrechen geht“. Zugleich sollen sich aber „die Strafverfolgung und die Arbeit der Geheimdienste auf das notwendige und proportionale Maß beschränken, um Europas BürgerInnen zu schützen“. Wo dieses Maß genau liegt, lässt die EGP allerdings weitgehend offen. Deutlich macht sie nur: „Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen dabei […] die Stigmatisierung von MigrantInnen und Minderheiten vermeiden.“ 

Schutz der Außengrenzen, Frontex 

Aber nicht nur die organisierte Kriminalität in Europa treibt die christdemokratischen Innenpolitiker um – auch an den Außengrenzen sieht die EVP die EU „durch illegale Einwanderung, Menschen-, Waffen- und Drogenhandel sowie internationalen Terrorismus bedroht“. Mit der „Abschaffung der Binnengrenzen“ im Schengen-Raum müsse deshalb auch eine Verschärfung der Grenzkontrollen an den gemeinsamen Außengrenzen einhergehen, „um die Sicherheit der in der Union lebenden und reisenden Menschen zu gewährleisten“. Zu diesem Zweck sollen nach dem Wunsch der Christdemokraten die Mitgliedstaaten „in der Grenzverwaltung eng zusammenarbeiten“, etwa durch „verstärkte Kooperation und Synergien zwischen den Küstenwachen“. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex „muss gestärkt werden“. Und Mitgliedstaaten, die bei der Umsetzung der Schengener Kontrollstandards „ihren Verpflichtungen nicht nachkommen“, sollen künftig „sanktioniert […] werden“. 

Bei den anderen Parteien stoßen derartige Pläne nur auf wenig Begeisterung. Die Liberalen wollen zwar ebenfalls „ein System zur Vermeidung illegaler Migration durchsetzen“, gehen jedoch nicht weiter darauf ein. Die Grünen hingegen warnen vor einer „Festung Europa“: „Jedes Jahr sterben Tausende Menschen entlang Europas Außengrenzen, weil Grenzkontrollen immer strikter werden und legale Einreisemöglichkeiten in die EU sehr beschränkt bleiben.“ Beim Aufbau eines Asylsystems, „welches seinem Namen gerecht wird“, sei Frontex „der falsche Akteur“. Stattdessen fordert die EGP „mehr Koordination bei ‚Rettungen auf See‘“ sowie „mehr legale und sichere Möglichkeiten der Einreise in die EU, darunter bspw. die Möglichkeit ‚humanitärer Visa‘“. 

Die schärfsten Vorwürfe an die derzeitige Politik erhebt wieder einmal die EL. Für sie hat sich die EU „für eine Festung Europa und Frontex […] entschieden, mit denen die Migranten zu totaler Ausgrenzung, zur Unterbringung in Hafteinrichtungen, die rechtsfreie Räume sind, oder zum Tod auf armseligen Booten verurteilt sind“. Stattdessen will die EL „einen linken Ansatz bei Fragen der Migration“, „auf der Grundlage des Rechts auf ein menschenwürdiges Leben und der Gleichheit der sozialen Rechte für Personen, die Schutz suchen oder sich auf dem europäischen Gebiet bewegen, unabhängig von ihrer kulturellen, nationalen oder sozialen Herkunft, ihrem Geschlecht und ihrer religiösen Überzeugung“. Als ersten Schritt dafür fordert sie die „Abschaffung der Schengen-Abkommen und von Frontex“ – ohne allerdings darauf einzugehen, dass mit einer Abschaffung der Schengen-Regelungen auch das freie Reisen innerhalb der EU nicht mehr möglich wäre. 

Gemeinsame Asylpolitik, Dublin-Verordnung 

Im Grundsatz einig sind sich die Parteien wiederum darin, dass politische Flüchtlinge in Europa Schutz finden sollen und Menschenhandel bekämpft werden muss. Was dafür genau zu tun ist, bleibt jedoch oft eher vage. So fordert die SPE, dass „alle EU-Mitgliedstaaten bei der Migrations- und Asylpolitik echte Solidarität zeigen und ausreichende Ressourcen zur Verfügung stellen“; die ALDE will „daran arbeiten, dass Asylbewerber durch Neuansiedlung und humanitäre Visa auf sicherem und legalem Weg in die EU gelangen, um den Markt für Menschenhändler zu zerstören“. 

Die weitreichendsten asylpolitischen Forderungen stellen die Grünen, die sich insbesondere von der Dublin-Verordnung (der zufolge Flüchtlinge nur in jenem Mitgliedstaat Asyl beantragen durften, in dem sie die EU zuerst betreten haben) „befreien“ wollen. Zudem soll sich die EU nach Vorstellung der EGP dafür einsetzen, „dass das Konzept der Klimaflüchtlinge ins Völkerrecht aufgenommen wird“. 

Rückführungspolitik, Unterstützung von Drittstaaten 

Am wenigsten Interesse an der Asylpolitik zeigen hingegen die Christdemokraten. Diese verweisen lediglich darauf, dass das „Gemeinsame Europäische Asylsystem des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen“ schon jetzt gute Arbeit leiste. Darüber hinausgehende Forderungen erhebt die EVP nicht – sondern will vor allem den „Missbrauch des Asylsystems bekämpfen“. 

Zudem setzt die EVP auf ein „effizientes und humanes Rückführungssystem“, mit dem Flüchtlinge wieder aus der EU abgeschoben werden könnten. Hierzu soll die EU „mit den Herkunfts- und Transitländern Partnerschaften aufbauen und sie bei der Entwicklung eigener Asylsysteme unterstützen“. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit möchte die EVP die „finanzielle Unterstützung von Drittländern […] an die von diesen Ländern erzielten Fortschritte bei der Bekämpfung illegaler Migration und die Zusammenarbeit in Themenbereichen wie Asyl, Rückübernahme und Rückführung“ koppeln. Mit diesen Forderungen stehen die Christdemokraten unter den europäischen Parteien allerdings recht allein. 

Einig sind sich EVP, SPE und EGP hingegen, dass in der Migrationspolitik immer auch „die Ursachen, warum so viele Menschen migrieren, mitberücksichtigt werden“ müssen (EGP). Die Sozialdemokraten fordern deshalb eine „effektive Unterstützung der Länder, aus denen die Migranten ausgewandert sind“. Die EVP schließlich will „das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) nach Kräften unterstützen“ und sich „solidarisch zeigen mit Drittländern in Krisenregionen, die die größte Verantwortung für asylsuchende Menschen tragen“. 

Einwanderung von Fachkräften 

Ein Punkt, den lediglich ALDE und EVP ansprechen, ist schließlich die Einwanderung von Fachkräften in die EU. So befürworten die Christdemokraten „eine gemeinsame Migrationspolitik, die auch den Bedarf der Arbeitsmärkte berücksichtigt“; die Liberalen fordern mit etwas mehr rhetorischem Aufwand „ein Europa […], das offen ist für Talente und Ideen von Menschen, die gewillt und in der Lage sind, zum Beschäftigungswachstum und Wohlstand beizutragen“. 

Konkret will die EVP hierfür die „Zusammenarbeit zwischen den Regierungen, der Bürgergesellschaft und der Privatwirtschaft“ verbessern und „ein Verfahren für die Anerkennung von Schul-, Hochschul- und Berufsabschlüssen für nicht aus der EU stammende Migranten entwickeln“. 

Fazit 

Auch wenn Linke und Grüne betonen, dass sie kein Allheilmittel für die soziale Misere sein kann, sind sich eigentlich alle Parteien einig, dass die Freizügigkeit in Europa für den Einzelnen und für die Wirtschaft eine gute Sache ist. Die Christdemokraten wollen deshalb vor allem die Mobilität von Unternehmern, SPE und EGP die von Arbeitnehmern, ALDE, SPE und EVP die von Akademikern weiter erleichtern. Auch dass offene Binnengrenzen mehr Zusammenarbeit bei der Kriminalitätsbekämpfung nötig machen, ist weitgehend Konsens – wobei hier allerdings die EVP einen deutlich härteren Ton anschlägt als etwa die Grünen. 

Größere Unterschiede gibt es in Bezug auf die Außengrenzen, wo sich ein deutliches Rechts-Links-Gefälle bemerkbar macht. Während vor allem die EVP auf einen schärferen Grenzschutz setzt, Asylmissbrauch bekämpfen und Flüchtlinge nach Möglichkeit in sichere Drittländer rückführen möchte, wenden sich Grüne und Linke gegen eine „Festung Europa“ und wollen Flüchtlingen die Einreise erleichtern. Wenn es um die Migration qualifizierter Arbeitnehmer geht, sind es hingegen die wirtschaftsfreundlichen Parteien EVP und ALDE, die sich für eine vereinfachte Einwanderung in die EU aussprechen.



Bild: Derivative work by Walta [Public domain], via Wikimedia Commons.

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