Ob
Finanzkrise, Klimawandel, Außenpolitik, Migration oder die Zukunft der
Demokratie: Die EU ist in so vielen Bereichen aktiv, dass es keinen Grund gibt,
vor der Europawahl auf nationale Nebenschauplätze auszuweichen. In einer Serie
werden hier die Vorschläge verglichen, die die großen europäischen Parteien in ihren Wahlprogrammen formuliert haben – die
christdemokratische EVP (Manifest/Aktionsprogramm), die sozialdemokratische
SPE, die liberale ALDE, die grüne EGP und die linke EL. (Zum Anfang der Serie.)
- In der Frage, wie man die Wirtschaft wieder zum Wachsen bringt, sind sich die europäischen Parteien uneins.
Kaum
ein anderes Ereignis dürfte für sich allein so große Auswirkungen auf das
Ergebnis dieser Europawahl haben wie die Finanz-, Schulden-, Wirtschafts-
und Sozialkrise, die die Europäische Union seit Jahren in Atem hält. Seit der
letzten Europawahl 2009 brachte sie mehrere Mitgliedstaaten der europäischen
Währungsunion an den Rand des Zusammenbruchs, führte zu spektakulären
Rettungsmaßnahmen durch ESM-Hilfskredite, zu der Verabschiedung des Fiskalpakts
mit einer europaweiten Schuldenbremse und zu bislang einmaligen Einschnitten im
Sozialsystem vor allem der südeuropäischen Länder. Die Europäische Union gewann
dadurch eine Medienpräsenz wie noch nie zuvor – wenn auch in vielen Fällen eher
durch Negativschlagzeilen als durch Erfolgsmeldungen.
Dass
den Umfragen zufolge die bislang im Europäischen Parlament, aber
auch in anderen EU-Institutionen dominierende EVP starke Verluste erfahren
wird, während Sozialdemokraten und Linke dazugewinnen, dürfte mit dieser
verbreiteten Unzufriedenheit über das europäische Krisenmanagement zu tun haben
– auch wenn die heißeste Phase der Krise inzwischen überstanden zu sein
scheint. In den Wahlprogrammen nimmt die Wirtschaft jedenfalls einen sehr
breiten Raum ein, wobei sich einige deutliche Rechts-Links-Unterschiede
zwischen den europäischen Parteien auftun.
Ursachen
der Finanzkrise
Diese
Unterschiede beginnen schon bei der Suche nach den Ursachen. Am ausführlichsten
äußert sich dazu die Linke: Ihr zufolge handelt es sich bei der Eurokrise
explizit nicht um eine Folge der „schlechten Verwaltung der südeuropäischen
Staaten“. Vielmehr sei sie ein – wenn auch spezieller – Ausfluss der
„Krise des globalisierten Kapitalismus“, „das Ergebnis eines skrupellosen
Prozesses, der auf die Sozialisierung der Verluste und die Privatisierung all
dessen abzielt, was Gewinne erzeugen kann“. Mit der Krise, so die EL, wird „die
Konfrontation der Klassen spürbar“.
EGP
und SPE geben sich demgegenüber etwas zurückhaltender. Doch auch sie sehen „[n]eo-liberale
Deregulierung“ (EGP) als Ursache der globalen Finanzkrise, welche dann
durch eine „ausschließlich auf Sparmaßnahmen basierende Politik“ (SPE)
in Europa noch verschärft wurde. Die EVP hingegen sieht in ihrem Manifest die
Staatsverschuldung als Hauptauslöser: „Die Politik unserer politischen
Wettbewerber nach dem Motto ‚heute Schulden machen und morgen dafür bezahlen‘
hat die Krise überhaupt erst heraufbeschworen und würde in Zukunft wieder in
die Krise führen.“ Im Aktionsprogramm hingegen gibt sie sich etwas
differenzierter und spricht von einer „Vielfalt von Faktoren […], darunter
exzessive öffentliche und private Verschuldung, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit
einiger Mitgliedstaaten, mangelhafte Regulierung der Finanzmärkte und
unzureichende Integration in der Eurozone“.
Arbeitslosigkeit
und öffentliche Investitionen
Trotz
dieser Unterschiede bei der Ursachenanalyse sind sich die Parteien jedoch
weitgehend einig, worin heute die wichtigste Herausforderung besteht: die hohe
Arbeitslosigkeit, die die „größte soziale und wirtschaftliche Krise, der Europa jetzt
gegenübersteht“ (ALDE), einer der „zentrale[n] Aspekte der
Ungerechtigkeit“ (EGP) sowie „eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt“ (EVP)
ist. Mehr Beschäftigung bezeichnen sowohl Liberale als auch Sozialdemokraten
als „oberste Priorität“.
Wie
aber erreicht man dieses Ziel? Vor allem die Parteien der linken Mitte sehen
eine Lösung in mehr öffentlichen Investitionen: Im Rahmen des „Europäischen
Green New Deal“ will etwa die EGP das EU-Budget erhöhen, um „Instrumente der
finanziellen Solidarität“ zu schaffen, „mit denen Europas wirtschaftlicher
Aufschwung finanziell unterstützt werden kann“. Vor allem durch
Investitionen in Energie- und Ressourceneffizienz will sie „viele neue
Arbeitsplätze für hohe wie niedrige Qualifikationsniveaus in unterschiedlichen
Industriesektoren schaffen“. Auch SPE und ALDE unterstützen die Förderung
grüner Technologien aus öffentlichen Mitteln. Außerdem will die SPE eine
„ehrgeizige europäische Industriepolitik“ und eine Ausweitung der Europäischen
Jugendgarantie. Noch einen Schritt weiter geht die EL, die von einer „Dynamik
der Wiederübernahme strategischer Sektoren durch den Staat“ spricht
und öffentliche Investitionen mit Geld der Europäischen Zentralbank
finanzieren möchte.
Reformen
und Binnenmarkt
Demgegenüber
gibt sich die EVP skeptisch. „Die Investition in unreformierte
Wirtschaftssysteme generiert niemals nachhaltiges Wachstum“, erklärt sie und:
„Mehr öffentliche Ausgaben sind keine Lösung“. Auch sie unterstützt zwar „eine
Wiederbelebung der Wirtschaft […] mittels gezielter Investitionen, Entwicklung
EU-weiter Netzwerke in den Bereichen Energie, Verkehr und IKT (Informations-
und Kommunikationstechnologie), insbesondere über PPP (Public Private
Partnerships)“.
Ansonsten
allerdings setzt die EVP voll auf „Strukturreformen“, die in ihren Augen
„entscheidend für die Verbesserung der Investitionsbedingungen, die Förderung
privatwirtschaftlicher Investitionen und die Schaffung der für mehr Wachstum in
Europa notwendigen Voraussetzungen“ sind. Dabei will die Partei insbesondere
„Verbesserungen im Gesundheitssektor sowie im Bereich der Rentensysteme,
Arbeitsmärkte und Bildungssysteme“ in den Blick nehmen und sich für „eine
integrative und aktive Beschäftigungspolitik“ einsetzen. Wie das im Einzelnen
aussehen soll, verrät das Aktionsprogramm allerdings nicht.
Eine
gemeinsame Forderung von EVP und ALDE schließlich ist die Vervollkommnung des
Europäischen Binnenmarkts, um „Unternehmergeist [zu] stimulieren“ (EVP) und „die
Abwicklung von Geschäften in Europa zu vereinfachen“ (ALDE). Beide
Parteien wollen Stellen schaffen, indem sie „die Arbeitnehmerfreizügigkeit und den
freien Dienstleistungsverkehr erleichtern“ (ALDE) bzw. indem „die
Wirtschaft ermutigt wird, größere Flexibilität und Mobilität am Arbeitsplatz zu
ermöglichen“ (EVP). Für die Parteien links der Mitte spielt die
Vollendung des Binnenmarkts demgegenüber keine zentrale Rolle.
Bankenunion
Dass der
Finanzsektor stärker reguliert werden muss, ist hingegen von der EL bis zur EVP
Konsens. Auch die europäische Überwachung und der gemeinsame
Abwicklungsmechanismus, durch den die „gefährliche Verknüpfung von
Staatsschulden und Bankschulden“ (EVP) aufgelöst werden soll, erfreut sich
allgemeiner Unterstützung.
Im Detail
allerdings unterscheiden sich die Forderungen der Parteien dann doch: So steht
die EGP als Einzige außer zu dem Abwicklungsmechanismus explizit auch zu einem
„gemeinsamen Einlagensicherungssystem bis zu 100.000 Euro“. Die
SPE spricht sich für „angemessene Schutzmauern zwischen Geschäfts- und
Investmentbanking“ und „die Schaffung einer unabhängigen und öffentlichen
europäischen Ratingagentur“ aus. Die EVP wiederum gibt sich als Verteidiger der
Kleinbanken: Während „alle systemrelevanten und grenzübergreifend arbeitenden
Großbanken“ von der Europäischen Zentralbank überwacht werden sollen, sei „[f]ür
kleinere Banken […] ein solch strenges Aufsichtssystem nicht erforderlich“.
Öffentliche
Schulden
Beim
Umgang mit öffentlichen Schulden zeigt sich wiederum ein deutlicher
Rechts-Links-Gegensatz: So insistieren EVP und ALDE auf weniger Staatsausgaben
und wollen „bessere Kontrollverfahren und mehr automatische Sanktionen bei
einem Verstoß gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt einführen“
(ALDE). Die SPE hingegen fordert „mehr Spielräume für Investitionen aus den
nationalen Haushalten“ und unterstützt, „dass im Euroraum Verantwortung und
Rechte gemeinsam übernommen werden“. Die EGP spricht sich sogar für „die
schrittweise Einführung und Anwendung gemeinsamer Schuldeninstrumente
(Eurobonds)“ aus, allerdings „unter Beachtung klar definierter und
realistischer Regeln zu Fiskaldisziplin“.
Die
EL schließlich unterstützt „die Abhaltung eines europäischen Konvents zu den
öffentlichen Schulden, der die Streichung eines Großteils der untragbaren
Schulden der überschuldeten Staaten“ beschließen soll. Zudem schlägt sie „die
Einrichtung einer demokratisch kontrollierten und verwalteten europäischen
Stelle vor, die öffentliche Ausgaben der Mitgliedstaaten […] mit niedrigen
Zinsen oder Nullzinsen […] finanziert“.
Makroökonomische
Koordinierung
Einig sind
sich die Parteien hingegen über die Notwendigkeit einer besseren Koordinierung
in der Wirtschaftspolitik – auch wenn die Programme hier eher vage bleiben. Für
die EVP sollte eine „weitere Koordinierung der Steuer- und Haushaltspolitik […]
in Erwägung gezogen werden“; die SPE will „eine echte Koordination der
Wirtschafts- und Sozialpolitik im Euroraum“, wobei aber die „nationalen
Parlamente […] ihre Souveränität behalten“ sollen. Die EGP schließlich fordert
„[n]eue Maßnahmen, um größere Ungleichheiten und Ungleichgewichte – darunter
Arbeitslosigkeit – in Europas Wirtschaftskreislauf auszugleichen“. Dies
könnte eine Anspielung auf die vielfach vorgeschlagene europäische Arbeitslosenversicherung sein – nur dass sie in einer Weise verklausuliert
ist, dass das kaum jemandem auffallen dürfte.
EVP und
ALDE sprechen zudem explizit an, dass auch Nicht-Euro-Länder in die gemeinsame
Wirtschaftspolitik eingebunden werden sollen, da „unsere wirtschaftliche
Zukunft untrennbar miteinander verbunden ist“ (ALDE) und „die EU und der
Euroraum letztendlich konvergieren“ sollen (EVP).
Steuern
Des
Weiteren bewirkte die Krise auch, dass alle Parteien die Steuerpolitik
inzwischen als europäisches Tätigkeitsfeld entdeckt haben. Allerdings zeigen
sich dabei erneut Gegensätze zwischen dem linken und dem liberalkonservativen
Lager. Am radikalsten gibt sich die EL, die vor „Pläne[n] zur Einrichtung von
‚Sonderwirtschaftszonen‘ auf europäischem Boden“ warnt und ihre
Forderungen in dem Satz zusammenfasst: „Die Reichen müssen für die Krise zahlen!“
Doch auch die Grünen machen es sich „die Wiederherstellung von
Steuergerechtigkeit und Steuereffizienz“ zum Ziel und fordern
dafür die „Steuerlast auf den Schultern der Gering- und MittelverdienerInnen“
zu reduzieren. Außerdem fordern EL, EGP und SPE einhellig eine
Finanztransaktionssteuer.
ALDE
und EVP hingegen haben bei ihren steuerpolitischen Vorschlägen etwas andere
Ziele im Sinn. So wollen die Liberalen „die Einführung eines günstigen Finanz-
und Steuerrahmens für die Förderung von Unternehmensneugründungen“ erreichen
und die Christdemokraten „durch […] eine Reform der Steuersysteme den
Unternehmergeist stimulieren“.
Parteiübergreifende
Einigkeit besteht bei der Bekämpfung von Steuerbetrug. Zudem
wollen die meisten Parteien gegen „Steueroasen“ vorgehen. Die
Grünen fordern dafür gemeinsame Minimalsätze bei Unternehmens- und
Vermögenssteuern, und auch die EL ist für „die allgemeine Einführung der
Kapitalsteuer in den einzelnen Ländern“. Nur die ALDE erklärt sich „dem
Grundsatz des steuerlichen Wettbewerbs verpflichtet“ und sieht deshalb nur
individuelle „Steuerumgehung und Steuerhinterziehung“, nicht aber staatliche
Steueroasen als Problem.
Sozialpolitik
Ein Thema,
auf dem sich vor allem die linken Parteien profilieren, ist schließlich die
europäische Sozialpolitik. So stellen SPE und Grüne in ihren Programmen
gleichermaßen den Kampf gegen „Sozialdumping“ in den Vordergrund. Auch die EVP
fordert zwar „Erhalt der sozialen Standards auf nationaler Ebene und Streben
nach sozialer Konvergenz zwischen den EU-Ländern“ sowie „Fortschritte
[…] bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“. In ihren konkreten
Forderungen bleibt sie allerdings zurückhaltend. So unterstützen die
Christdemokraten zum Beispiel nur „die von den Ländern gemäß dem jeweiligen
nationalen Arbeitsrecht eingeführten Mindestlöhne“ – anders als
SPE und EL, die sich für europäische Mindestlöhne aussprechen.
Darüber
hinaus unterstützen SPE und EGP die Stärkung der europäischen Gewerkschaften,
den Abschluss europäischer Tarifverträge sowie ein Zurückdrängen der „unsichere[n]
Arbeitsverträge […], unter denen viele Europäer leiden“ (SPE). Durch die
Einführung einer „europäischen Sozialkarte“ wollen die Grünen Sozialleistungen
besser zwischen Mitgliedstaaten transportierbar machen. SPE wie EGP sind zudem
für die Einführung einer „sozialen Fortschrittsklausel“ in den EU-Vertrag, nach
der „wirtschaftliche Freiheiten […] sozialen Rechten nicht übergeordnet werden“
dürfen (SPE).
Fazit
In der
Wirtschaftspolitik bieten die europäischen Parteien den Bürgern eine reale
Wahlmöglichkeit. Zwar sind sie sich einig, dass die Arbeitslosigkeit die große
Herausforderung der nächsten Jahre sein wird. Doch während SPE und EGP vor
allem auf öffentliche Investitionen (und die EL rundheraus auf eine
Verstaatlichung von Schlüsselsektoren) setzen, richtet sich der Fokus von EVP
und ALDE eher auf die Schaffung eines unternehmerfreundlichen Klimas. In
der Steuerpolitik fordern die linken Parteien eine stärkere Belastung der
Wohlhabenden und die Einführung europaweiter Vermögenssteuern, während das
liberalkonservative Lager sich für Erleichterungen für Unternehmen einsetzt. Und auch die europäische Sozialpolitik ist vor allem eine Angelegenheit der politischen Linken; EVP und ALDE machen hierzu kaum konkrete Vorschläge.
Europawahlprogramme – Übersicht
1: Warum wir vor der Europawahl eher die europäischen als die nationalen Parteiprogramme lesen sollten
2: Wirtschaft, Steuern und Soziales
3: Umwelt, Klima, Energie
4: Außenpolitik, Erweiterung, TTIP
5: Freizügigkeit, Einwanderung, Grenzschutz
6: Demokratie, Vertragsreform, Europäischer Konvent
1: Warum wir vor der Europawahl eher die europäischen als die nationalen Parteiprogramme lesen sollten
2: Wirtschaft, Steuern und Soziales
3: Umwelt, Klima, Energie
4: Außenpolitik, Erweiterung, TTIP
5: Freizügigkeit, Einwanderung, Grenzschutz
6: Demokratie, Vertragsreform, Europäischer Konvent
Bild: Images of Money [CC BY 2.0], via Flickr.
Schön übersichtlich und gut aufgelistet. Würde mich zusätzlich für die externen Ansichten der Parteien interessieren.
AntwortenLöschenAuf www.abgeordnetenwatch.de/eu können alle Parteienprogramme und alle deutschen Kandidierenden zur Europawahl direkt, online und vor allem öffentlich befragt werden. Schon über 400 Fragen wurden innerhalb der ersten Woche gestellt und wir hoffen weiter auf einen regen europäischen Diskurs!
AntwortenLöschenIhnen auch einen schönen 9. Mai!