Ein
neues Phänomen breitet sich in Deutschland aus: Demonstrationen, die
das Ergebnis nationaler Wahlen in anderen Ländern beeinflussen
sollen. Einen Vorläufer gab es bereits vor dem britischen
Brexit-Referendum im vergangenen Juni, als unter
anderem der Spiegel mit dem Appell „Bitte geht nicht!“ aufmachte und auf Twitter der
Hashtag #staywithus
erste Popularität erlangte. Vor
der niederländischen Parlamentswahl im März rief
dann Pulse of
Europe dazu auf,
„Liebesbekundungen“
gegenüber dem Nachbarland abzugeben, damit „die Menschen dort
vor ihrer Entscheidung spüren, dass wir gemeinsam mit ihnen in der
Europäischen Union verbunden bleiben wollen“. Und
auf #blijfbijons
folgte schließlich #restonsensemble:
Auch für die französische Präsidentschaftswahl, die am 23. April
und 7. Mai stattfinden wird, sind wieder zahlreiche Aktionen
geplant, sowohl
von Pulse of Europe als
auch von
The European Moment in Berlin.
„Zusammenbleiben“
gegen rechte Nationalisten
Auffällig
an diesen „Liebesbekundungen“ ist, dass sie zwar eine
Wahl zum Thema haben, aber jede explizite Bezugnahme auf Parteien
vermeiden. Es handelt sich also um
etwas anderes als die grenzüberschreitende
Wahlkampfhilfe zwischen Mitgliedern derselben europäischen Partei,
wie sie schon seit langem
üblich ist. So
unterstützte etwa Angela
Merkel (CDU/EVP) bei
der letzten französischen Präsidentschaftswahl 2012 Nicolas Sarkozy
(LR/EVP), während sich
umgekehrt vor der deutschen Bundestagswahl 2013 François
Hollande (PS/SPE) hinter Peer Steinbrück (SPD/SPE) stellte.
Die
Demonstrationen von Pulse
of Europe und The
European Moment legen sich
hingegen auf keinen
spezifischen Kandidaten fest, dessen
Unterstützung sie den Wählern im anderen Land ans Herz legen.
Vielmehr steht hinter ihrer
allgemein formulierten Botschaft des „Zusammenbleibens“ eine rein
defensive Position: Wen auch immer die Niederländer und Franzosen an
die Regierung bringen, es soll niemand sein, der sich für einen
Austritt des Landes aus der EU einsetzt.
Und natürlich ist klar, wer damit gemeint ist – nämlich die
Rechtsnationalisten Geert Wilders (PVV/BENF) und Marine Le Pen
(FN/BENF).
Ist
es legitim, zu Wahlen in anderen Ländern zu demonstrieren?
Was
ist davon zu halten? Ist es legitim zu
demonstrieren, um Wahlen in
anderen Ländern zu
beeinflussen? Einem Anhänger des Prinzips der nationalen
Souveränität stellen sich bei diesem Gedanken natürlich die Nackenhaare auf: Wie ein nationales Staatsvolk wählt, ist geradezu
der Inbegriff von „innerer Angelegenheit“, in die sich Ausländer
nach traditionellem Souveränitätsverständnis nicht einzumischen
haben.
Hinzu
kommt auch noch, dass die Demonstrationen ausgerechnet in Deutschland
stattfinden – also jenem Land, das in
den letzten Jahren immer
mehr zur europäischen Hegemonialmacht aufgestiegen ist. Vor
allem während der Eurokrise nutzte die Bundesregierung ihren
Einfluss im Europäischen Rat aktiv, um ihre wirtschaftspolitischen
Rezepte durchzusetzen. Und nachdem die Deutschen den übrigen
EU-Ländern vorgeschrieben haben, wie sie ihre Sozialsysteme
reformieren müssen, wollen sie ihnen nun auch noch erklären, wen
sie wählen sollen?
Europäische
Wahlen gehen uns alle an
Doch
so einfach es ist, ein solches Argument
zu konstruieren, so wenig überzeugend ist es. Denn
angesichts der vielen
grenzüberschreitenden
Gesellschaftsverflechtungen
ist ein striktes Nichteinmischungsprinzip schon auf globaler Ebene
kaum zu halten. Wie
etwa die US-amerikanischen Wahlen ausgehen, hat Auswirkungen auf die
ganze Welt, und damit haben auch Menschen auf der ganzen Welt ein
legitimes Interesse daran, ihre Meinung zu diesen Wahlen zu äußern.
Umso mehr gilt das in der Europäischen Union: Schließlich hat
das Ergebnis der
niederländischen und französischen Wahlen auch unmittelbare
Auswirkungen auf die
Zusammensetzung des Ministerrates – und damit auf
die europaweit
geltende Gesetzgebung.
Europapolitik ist
Innenpolitik, und europäische Wahlen gehen uns alle an.
Und
auch, dass die Demonstrationen gerade in Deutschland stattfinden, ist
natürlich kein Argument gegen ihre Legitimität. Die Aktivisten
von Pulse of Europe
und The European
Moment sind ja
keine Repräsentanten
irgendeines Staates, sondern sprechen letztlich nur für sich selbst:
als eine Gruppe von europäischen
Bürgern, die sich zu einer Frage von europaweiter Bedeutung äußern.
Haben
die Demonstrationen Wirkung?
Jenseits
der bloßen Legitimität der Demonstrationen stellt sich aber auch
die Frage nach ihrer Wirkung. Lässt sich wirklich ein Niederländer
oder Franzose in seiner
Wahlentscheidung dadurch
beeindrucken, dass in einem anderen Land ein paar tausend Menschen
auf die Straße gehen? War es
also auch ein Erfolg von Pulse of Europe, dass
bei der niederländischen Wahl Geert
Wildersʼ PVV so weit hinter ihren Erwartungen zurückblieb?
Mit
Sicherheit lässt sich diese Frage natürlich nicht beantworten,
aber Zweifel sind jedenfalls angebracht. Denn
erstens stand ein möglicher EU-Austritt in den Niederlanden ohnehin
nicht im Mittelpunkt der Wahlkampfdebatte –
was die Wähler bewegte, waren eher Gesundheitspolitik,
der Sozialstaat, innere Sicherheit und Bildung.
Zweitens haben
wohl gar nicht so viele
Niederländer überhaupt von den Demonstrationen erfahren: Einzelne
Medien berichteten
zwar darüber, doch in den großen Zeitungen wie De
Volkskrant und De
Telegraaf fand sich vor
den niederländischen Wahlen kein einziger Artikel über Pulse
of Europe.
Ein
Beitrag zur grenzüberschreitenden Politisierung
Allerdings
könnten diese skeptischen
Einwände auch zu kurz
gedacht sein. Denn selbst
wenn die Demonstrationen
keine unmittelbare Auswirkung auf einzelne
Wahlergebnisse
haben, ist der
Einsatz für den
Verbleib eines anderen Landes in der Europäischen Union auch ein
Zeichen der grenzüberschreitenden
Unterstützung für jene
Menschen, die dort dieselben Ansichten vertreten. In
den Niederlanden mag das –
da
der EU-Austritt ohnehin nicht ernsthaft zur Debatte stand –
von untergeordneter Bedeutung gewesen
sein. Viele britische
Europafreunde, die derzeit um
ihre Unionsbürgerschaft fürchten müssen, sind
für Zeichen der Solidarität aus anderen
Ländern hingegen durchaus dankbar.
Darüber
hinaus können die
Demonstrationen aber auch
dazu beitragen, langfristig
die Art der öffentlichen
Debatte zu verändern. Indem
sie zeigen, dass
nationale Wahlen
in der EU keine
rein innere Angelegenheit sind, helfen
sie mit, die europäische
Gesellschaft grenzüberschreitend zu
politisieren.
Das intensive Interesse für
das Wahlverhalten der Menschen in einem anderen europäischen Land
könnte ein
erster Schritt sein, damit
auch die nächste Europawahl
nicht mehr nur als eine
Ansammlung von nationalen Teilwahlen, sondern als ein gemeinsamer,
gesamteuropäischer Wahlakt verstanden wird.
Untergangsszenarien
sind derzeit unwahrscheinlich
Werden
die Wahl-Demonstrationen von Pulse of Europe und
The European Moment also
langfristige Wirkung zeigen?
Was ihr
Potenzial dazu am
meisten einschränkt,
scheint mir ihr starker Fokus allein auf die Abwehr der
Rechtsaußenparteien zu sein. Gewiss:
Wenn man wie die
Organisatoren von Pulse of Europe den
unmittelbaren Zerfall der Europäischen Union befürchtet, dann liegt
es nahe, vor allem jene
Politiker in den Blick zu nehmen, die
öffentlich den
Brexit bejubelt haben und mit
einem EU-Austritt
ihres eigenen Landes
liebäugeln.
Tatsächlich
aber sind diese
Untergangsszenarien im
Moment recht
unwahrscheinlich.
Denn die
Rechtsnationalisten in Europa
sind zwar stärker
als je zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Von
regierungsfähigen Mehrheiten aber sind sie in
fast allen Mitgliedstaaten weit entfernt, und
auch ihr langer Anstieg in
den europaweiten Wahlumfragen
hat seit dem
Brexit-Referendum Mitte 2016
einige
Dämpfer abbekommen.
Speziell
in Frankreich scheint es derzeit nahezu sicher, dass Marine Le Pen
bei der
Präsidentschaftswahl in die
zweite Runde einzieht,
aber nahezu unmöglich, dass sie dort
gewinnt. Ihr
wahrscheinlichster Gegner, Emmanuel Macron (EM/–) hat
in
den Umfragen seit Wochen einen stabilen Vorsprung von 20 bis 30
Prozentpunkten; die anderen
Kandidaten François Fillon (LR/EVP) und Jean-Luc Mélenchon (PG/EL)
stehen kaum schlechter da.
Selbst wenn man in Kauf nimmt, dass die Demoskopen die Ergebnisse
rechter Parteien bei den letzten Wahlen oft unterschätzten, bräuchte
es schon ein größeres politisches Erdbeben, damit
Le Pen diesen Rückstand noch
aufholen könnte.
Nicht
jeder, der nicht rechts außen ist, ist ein „Proeuropäer“
Sich nur auf die schlimmsten Nationalisten zu konzentrieren, bringt
deshalb die Gefahr eines falschen Gefühls von Erfolg und
Sicherheit mit sich. Insbesondere führt es dazu, dass alle Politiker
der etablierten Parteien, die sich nicht offen für einen Austritt
aus der EU einsetzen, plötzlich als „Proeuropäer“ gelten. So
wurde nach der niederländischen Wahl von
deutschen Politikern, aber auch im
Pulse-of-Europe-Umfeld viel über das „proeuropäische
Wahlergebnis“ gejubelt, weil die rechtsliberale VVD (ALDE) von
Premierminister Mark Rutte deutlich vor Geert Wildersʼ
PVV (BENF) gelandet war.
Dabei geht
jedoch völlig
unter, wie sehr sich auch die Parteien der Mitte bereits
von
europaskeptischen und nationalistischen Diskursen haben anstecken
lassen. Wer Mark
Rutte, der sich in den letzten Jahren gegen
ein höheres EU-Budget und gegen
das Spitzenkandidaten-Verfahren bei der Europawahl, gegen eine
gemeinsame Sozial- oder Steuerpolitik und für
die Rückübertragung europäischer Kompetenzen an die
Nationalstaaten ausgesprochen hat, als „Proeuropäer“
bezeichnet, tut ihm mit Sicherheit zu viel der Ehre an.
Und
auch in Frankreich wäre es
verkehrt, alle
Gegenkandidaten von Le Pen
pauschal für Europafreunde zu halten. Während
das auf
Macron durchaus zutreffen mag, steht Fillon für
die gaullistische Tradition der nationalen Souveränität
und des Intergovernementalismus.
Und Mélenchon
will sogar eine
Kündigung des EU-Vertrags nicht ausschließen, falls es ihm
nicht gelingt, die Haushaltsregeln für Euro-Staaten neu zu
verhandeln.
Die
EU braucht strukturelle Reformen
Der
Fokus allein auf die
momentane Abwehr der Rechtsaußenparteien
übersieht zudem die
strukturellen
Probleme der
EU, durch die die Europaskeptiker erst so
stark werden konnten: Ein
institutioneller
Zwang zur permanenten Großen Koalition und das Fehlen einer loyalen
Opposition verhindert
demokratische Alternanz und treibt unzufriedene Bürger in die Arme
von Nationalpopulisten. Solange
die EU dieses Problem nicht löst, werden
die Europagegner nicht dauerhaft in die Schranken gewiesen werden
können.
Ein
bloßes #staywithus
genügt also nicht, wenn es
nicht außerdem zu einer
Reform der EU-Institutionen kommt. Und
für diese Reform müssen sich vor allem die Parteien der
Mitte bewegen, die heute in
fast allen Mitgliedstaaten an der Macht
sind: Sozialdemokraten,
Christdemokraten und Liberale.
Auch
die Parteien der Mitte in den Blick nehmen
Es
ist richtig, sich auch als Deutscher für
die Wahlen in anderen
europäischen Ländern zu
interessieren, denn was dort
geschieht, geht uns alle an. Wenn
Pulse of Europe und
The European Moment
langfristig etwas bewegen
wollen, dürfen
sie aber nicht
nur auf die
Rechtsaußenpolitiker
fixiert sein, sondern
müssen auch die
Parteien der Mitte kritisch
in den Blick nehmen, die sich
seit Jahren zu wenig für die Demokratisierung der EU einsetzen.
Und das nicht nur in Frankreich und den Niederlanden, sondern auch in
Deutschland selbst.
Die Demonstrationen von Pulse of Europe finden jeweils sonntags um 14 Uhr in zahlreichen deutschen und europäischen Städten statt. Ein
Überblick über alle Orte findet sich hier.
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The European Moment, AEGEE Berlin und die Junge Europäische Bewegung demonstrieren anlässlich der französischen Wahlen am 29. April ab 16 Uhr am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Mehr Informationen dazu sind hier zu finden.
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Bilder: Why Europe [CC 0], Pulse of Europe, The European Moment.
Hey Manuel,
AntwortenLöschenDu schreibst: „Ist es legitim zu demonstrieren, um Wahlen in anderen Ländern zu beeinflussen? Einem Anhänger des Prinzips der nationalen Souveränität stellen sich bei diesem Gedanken natürlich die Nackenhaare auf.“
Habe das Gefühl, dass in dem Begriff der nationalen Souveränität (und dem des nationalen Staatsvolks) zwei Vorstellungen stecken, die bei deiner Aussage vermischt werden. Solange nicht die offiziellen Behörden (Regierung, Parlament) eines anderen Staates versuchen, in den Wahlkampf einzugreifen, wird hier nicht an der staatlichen Souveränität gerüttelt – auch nicht, wenn das die (unabhängige) Justiz eines anderen Staates täte.
Insofern ist das aus der Perspektive der völkerrechtlichen Nichteinmischung völlig in Ordnung, auch ein republikanischer Demokratietheoretiker wird eine solche „Einmischung“ für unproblematisch halten. Man sollte m.E. diese Vorstellung von einer ethnonationalistisch verbrämten Autarkie-Illusion trennen… deshalb halte ich deinen Begriff der nationalen Souveränität (und des nationalen Staatsvolkes) in dem Zusammenhang auch für unglücklich.
Frohe Restostern!
Wulf
Hallo Wulf,
Löschenfair point. Das Argument, dass die Demonstranten keine staatlichen Repräsentanten sind, mache ich oben ja selbst. Indessen habe ich mir auch den Nichteinmischungseinwand nicht selbst ausgedacht, sondern ihn verschiedentlich in Diskussionen zu dem Thema vorgefunden. Die "ethnonationalistische Autarkie-Illusion" scheint sich also wenigstens in einem breiteren öffentlichen Diskurs nicht so einfach vom Begriff der Souveränität lösen zu lassen.
Und ganz abwegig finde ich das auch nicht, denn staatliche Souveränität im Sinne eines einheitlichen obersten Entscheidungszentrums (im Gegensatz zu einem Mehrebenensystem) kann ja nur dann demokratisch sein, wenn man davon ausgeht, dass die Entscheidungen einer souveränen Einheit keinen nennenswerten Auswirkungen auf die anderen souveränen Einheiten haben. Wenn nun aber die Bürger der Einheit A Entscheidungen in Einheit B beeinflussen vollen, stellt sich durchaus die Frage, was sie das überhaupt angeht. Und die Antwort ist eben, dass die Entscheidungen von B eben durchaus Auswirkungen auf A haben - und damit das ganze Konstrukt eines bloßen Nebeneinanders souveräner Einheiten demokratisch nicht haltbar ist.
Ich würde das empirische Betroffenheitsargument von einem normativen trennen. Nur, weil ich von einer Entscheidung betroffen bin, heißt das (normativ) nicht, dass ich hier in jedem Fall Mitsprache haben sollte, auch wenn mich das Thema vermutlich (deskriptiv) interessiert.
LöschenUmgekehrt kann Kritik (normativ) zulässig sein, ganz egal ob man betroffen ist oder nicht. Auch wenn ich selbst nicht betroffen bin, kann ich die Handlungen anderer als moralisch falsch, politisch unklug oder instrumentell irrational kritisieren. Im Gegenteil, je weniger ich selbst betroffen bin, desto eher wird mein Urteil ausgewogen und unparteiisch ausfallen.