Wie
hoch ist die Wahlbeteiligung? Bei kaum einer Parlamentswahl spielt
diese Frage eine so wichtige Rolle wie bei der Europawahl. Während
das Ausmaß der Enthaltungen den Medien auf nationaler Ebene meist nur eine
Nebenmeldung wert ist, wird es im Falle der EU oft zum Gradmesser
für den Erfolg der Wahl insgesamt genommen – oder, genauer, für
den Misserfolg, denn bis jetzt ging die europaweite Beteiligung
kontinuierlich von
Europawahl zu Europawahl zurück, von
62,0 Prozent im Jahr 1979 auf 42,6 Prozent im Jahr 2014.
Verzweifelte Kampagnen
Da
es leicht ist, diese ständig sinkende Wahlbeteiligung als Zeichen
für eine sinkende Zustimmung zum europäischen Integrationsprozess
zu deuten, bemüht sich die EU bereits seit langem darum, Bürger
zur Wahlteilnahme zu ermuntern.
Allerdings
benötigt man nicht viel Phantasie, um aus den
Slogans der offiziellen Informationskampagnen eine
wachsende
Verzweiflung herauszuhören:
Von „It’s
your choice!“ im Jahr 2009 über „This
time it’s different“ 2014
bis zum aktuellen
„This time I’m
voting“.
Auch viele proeuropäische
Vereine und Bürgerinitiativen bemühen sich alle
fünf Jahre darum, die
Wahlbeteiligung zu steigern, und haben bis jetzt eine Enttäuschung
nach der nächsten erfahren.
Die
Wahlbeteiligungsmotivierer setzen dabei meist auf eine Kombination
aus emotionalem Appell – wählen gehen als Zustimmung zur
„europäischen Idee“ – und rationalen Argumenten: Immerhin
greift die Gesetzgebung der EU heute tief in das Alltagsleben ihrer
Bürger ein. Gleichzeitig hat das Europäische Parlament über die
Jahre immer mehr Macht gewonnen und kann bei fast allen
Entscheidungen mitbestimmen. Die Europawahl ist deshalb eine Chance,
Politik mitzugestalten, die man sich nicht entgehen lassen sollte.
Folgt
man der Logik dieser Argumente, dann ist die niedrige Wahlbeteiligung
tatsächlich kaum nachzuvollziehen. Ist
das geringe Interesse an der Europawahl also nur auf das Unwissen der
Bevölkerung zurückzuführen, die die Tragweite der Wahlentscheidung
nicht verstanden hat? Braucht es nur noch mehr und noch bessere
Informations- und Sensibilisierungskampagnen, damit endlich die
Trendwende gelingt?
Mir
scheint, dass diese Hoffnung trügt – denn das eigentliche Problem
liegt tiefer. Auf den Punkt gebracht besteht es darin, dass
Europawahlen keine Richtungsentscheidungen sind: Noch niemals hat
eine Europawahl zu einer grundsätzlichen politischen Veränderung
auf europäischer Ebene geführt, und es ist auch nicht absehbar,
dass das in Zukunft der Fall sein wird.
Das
Parlament entscheidet fast alles mit, aber fast nichts allein
Der
Sinn einer demokratischen Wahl besteht üblicherweise darin, den Kurs
eines politischen Systems zu überprüfen. Mit Regierungs- und
Oppositionsparteien gibt es (mindestens) zwei konkurrierende Akteure,
die jeweils für eine unterschiedliche politische Richtung stehen.
Welche Seite eine Mehrheit gewinnt, wirkt sich deshalb unmittelbar
auf die weitere Politik des Landes aus. Und auch wenn nach der Wahl
zuweilen Kompromisse in Koalitionsverhandlungen notwendig werden,
kann ein halbwegs interessierter Wähler doch recht gut
nachvollziehen, dass seine Wahlentscheidung unmittelbare, deutlich
erkennbare Folgen hat.
Anders
bei der Europawahl: Zwar
kann das Europäische Parlament heute tatsächlich in fast allen
Belangen der EU mitbestimmen, doch es gibt kaum eine Frage, in der es
ganz allein entscheidet. Ob es um die Wahl der Europäischen
Kommission geht, um den Haushalt oder um die Gesetzgebung, überall
ist ein Konsens mit den nationalen Regierungen im Ministerrat
notwendig. Im Ministerrat wiederum wird nicht mit einfacher, sondern
mit qualifizierter
Mehrheit entschieden, sodass
die Hürden für eine Einigung hier eher höher liegen als im
Parlament.
Die
Große Koalition ist faktisch nicht abwählbar
Diese
institutionellen Konsenszwänge führen dazu, dass europäische
Beschlüsse meist nur dann möglich sind, wenn die großen Parteien
der Mitte – die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische
SPE, meist ergänzt um die liberale ALDE – miteinander
zusammenarbeiten. Nur sie bringen es sowohl im Europäischen
Parlament als auch im Rat auf genügend Stimmen. Zugleich zwingt
dieser Umstand alle drei Parteien zu ständigen Kompromissen: Sollte
eine von ihnen dazu übergehen, sich wie eine Oppositionspartei zu
verhalten und grundsätzlich gegen die Linie der anderen beiden zu
stimmen, könnte das die Europäische Union dauerhaft blockieren.
An
dieser informellen „ewigen Großen Koalition“, die die EU seit
jeher beherrscht, wird sich auch 2019 nichts Grundsätzliches ändern.
Zwar lassen
die Umfragen deutliche Verluste für EVP und Sozialdemokraten
erwarten, die dadurch nicht mehr zu zweit auf eine Mehrheit im
Parlament kommen werden. Das wird aber wohl nur dazu führen, dass
sie künftig noch enger mit den Liberalen kooperieren, die
bei der Wahl deutlich hinzugewinnen dürften.
Eine
„Schicksalswahl“, wie
sie in
diesen Wochen gern bezeichnet wird, wäre die Europawahl
allenfalls, wenn die Parteien der Mitte so stark abstürzen würden,
dass stattdessen die Europagegner, die das politische System der EU
insgesamt ablehnen, in die Nähe einer Parlamentsmehrheit kämen. Das
ist aber nicht abzusehen: Den Umfragen zufolge legen
die europaskeptischen
Rechtsfraktionen zwar zu,
kommen aber
gemeinsam weiterhin
nur auf rund ein Viertel
der Sitze. Selbst
bei Entscheidungen, für die eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten notwendig ist
(etwa im Rahmen des
Artikel-7-Rechtsstaatsverfahren), werden die Rechten wohl keine
Sperrminorität erreichen und
könnten von den
Mitte-Parteien – sofern
diese geschlossen auftreten – einfach
überstimmt werden.
Wahlkampf
mit angezogener Handbremse
Zugleich
führt die ewige Große Koalition dazu, dass die
Mitte-Parteien selbst den Wahlkampf oft mit angezogener Handbremse
führen:
Da sie wissen, dass sie nach der Wahl zu Kompromissen gezwungen sein
werden, fällt es ihnen schwer, sich vor der Wahl gegeneinander zu
profilieren. Auf nationaler Ebene gewinnen Wahlen gerade durch die
entgegengesetzten Positionen der Parteien ihre Bedeutung. Wenn
hingegen auf europäischer Ebene die Sozialdemokraten Maßnahmen
versprechen, von denen bekannt ist, dass die Konservativen sie nicht
mittragen werden (oder umgekehrt), dann macht das nicht etwa die Wahl
spannender, sondern nur das Versprechen weniger glaubwürdig.
Auch das Spitzenkandidaten-Verfahren, das der Wahl zusätzliche politische Bedeutung verleihen sollte, durchbricht dieses Dilemma nur zum Teil. Seitdem das Parlament die Wahl des
Kommissionspräsidenten an sich gezogen hat, haben die
Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament zwar eine unmittelbare Auswirkung auf
die Besetzung eines wichtigen politischen Amtes. Doch zum einen
handelt es sich dabei eben nur um einen einzelnen Posten, während der Rest der Kommission parteipolitisch
weiterhin bunt durchmischt ist. Und zum anderen schlägt sich
auch im Spitzenkandidaten-Verfahren letztlich
die
großkoalitionäre Logik nieder: Auch bei der Wahl des
Kommissionspräsidenten führt an einer Zusammenarbeit der beiden
größten Fraktionen, gegebenenfalls erweitert um Liberale oder Grüne, kaum ein Weg vorbei.
Nur
Reformen könnten die Wahlbeteiligung nennenswert heben
Diese
Unvermeidlichkeit der ewigen Großen Koalition macht das
weitreichende Desinteresse an der Europawahl besser verständlich.
Auch wenn viele Wähler die institutionellen Zusammenhänge nicht im
Einzelnen mitverfolgen, hat die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zu
Ernüchterung geführt: Warum zur Europawahl gehen, wenn sich dadurch
doch nichts ändert?
Mir selbst scheint diese Ernüchterung durchaus nachvollziehbar, und da sie
strukturell
im institutionellen System der EU verwurzelt ist, ist auch nicht damit zu rechnen, dass sie sich allein durch bessere
Kommunikation in Form von Informations- und Mobilisierungskampagnen
überwinden lässt. Um die Wahlbeteiligung bei Europawahlen nennenswert zu heben, sind institutionelle
Reformen nötig – etwa die Wahl
der Kommission allein durch das Parlament, der vollständige
Abbau nationaler Vetorechte, womöglich ein Ende der
Mitentscheidungsrechte des Rates in einigen Politikbereichen. Erst
dadurch würde das Parlament so sehr an Macht gewinnen, dass die
Wählerinnen und Wähler bei der Europawahl eine echte
Richtungsentscheidung treffen können.
Nichtwählen ist auch keine Lösung
Daraus sollte man nun allerdings nicht den Schluss ziehen, dass sich der ganze Aufwand
ohnehin nicht lohnt und wir bei der Europawahl einfach zu Hause bleiben sollten, bis die nötigen
institutionellen Reformen zur Aufwertung des Europäischen Parlaments
umgesetzt sind. Denn obwohl die Wahl kurzfristig keine drastischen Auswirkungen auf den politischen Kurs der Europäischen Union haben wird, ist Nichtwählen jedenfalls auch keine Lösung.
Denn zum einen bleibt das Wahlergebnis, trotz allem, auch im jetzigen politischen System der EU nicht ganz folgenlos. Die institutionellen Rahmenbedingungen führen zwar dazu, dass die großen europäischen Parteien zu ständigen Kompromissen gezwungen sind. Doch die genaue Gestalt dieses Kompromisses hängt auch vom Kräfteverhältnis zwischen den Fraktionen ab. Dass zum Beispiel EVP und Sozialdemokraten im nächsten Parlament wohl zu zweit keine Mehrheit mehr haben, dürfte die Position der Liberalen deutlich stärken. Diese Effekte sind nicht allzu plakativ, gerade im Vergleich zur Regierungs-Oppositions-Dynamik, wie man sie auf nationaler Ebene kennt. Aber auf die Dauer haben sie konkrete Folgen für die europäische Politik.
Denn zum einen bleibt das Wahlergebnis, trotz allem, auch im jetzigen politischen System der EU nicht ganz folgenlos. Die institutionellen Rahmenbedingungen führen zwar dazu, dass die großen europäischen Parteien zu ständigen Kompromissen gezwungen sind. Doch die genaue Gestalt dieses Kompromisses hängt auch vom Kräfteverhältnis zwischen den Fraktionen ab. Dass zum Beispiel EVP und Sozialdemokraten im nächsten Parlament wohl zu zweit keine Mehrheit mehr haben, dürfte die Position der Liberalen deutlich stärken. Diese Effekte sind nicht allzu plakativ, gerade im Vergleich zur Regierungs-Oppositions-Dynamik, wie man sie auf nationaler Ebene kennt. Aber auf die Dauer haben sie konkrete Folgen für die europäische Politik.
Und
manchmal kommt es, wie die letzten Jahre gezeigt haben, im Parlament
sogar auf jede einzelne Stimme an. Beispielsweise wurden bei der
umstrittenen Urheberrechtsreform vor wenigen Wochen Änderungsanträge
im Plenum mit
nur fünf Stimmen Mehrheit abgelehnt. Der
Sargentini-Bericht zur Einleitung eines Artikel-7-Verfahrens gegen
die ungarische Regierung erreichte im Herbst 2018 54
Stimmen mehr als erforderlich. Die
E-Privacy-Reform, bei der es um Datenschutz bei elektronischer
Kommunikation geht, wurde 2017 im Innenausschuss sogar
mit
nur
einer
einzigen
Stimme
Mehrheit angenommen.
Solch
knappe Abstimmungen sind
nicht
häufig und treten
in
der Regel nur dann auf,
wenn Fraktionen intern gespalten sind. Aber
sie zeigen beispielhaft, welche Tragweite schon wenige Stimmen Unterschied
haben können.
Eine
höhere Beteiligung stärkt das Parlament gegen den Rat
Zum anderen gibt es aber auch verfassungspolitische Gründe, um bei der
Europawahl teilzunehmen: Gerade weil die Wahlbeteiligung so ein
wichtiges Thema in der öffentlichen
Diskussion
geworden ist, spielt sie auch für die wahrgenommene Legitimität des
Parlaments eine wichtige Rolle – und damit für die Frage, ob die notwendigen institutionellen Reformen in Zukunft durchsetzbar sein werden. Denn viele Schlüsselfragen bei der institutionellen Zukunft der EU betreffen das Kräfteverhältnis zwischen dem auf gesamteuropäischer Ebene gewählten Parlament und den Regierungen im Europäischen Rat, die jeweils auf ihre eigene nationale demokratische Legitimation verweisen können.
Das gilt etwa für die Frage, wer eigentlich die Europäische Kommission ernennt: Formal braucht diese die Zustimmung sowohl des Parlaments als auch der nationalen Regierungen. In der Praxis konnte das Parlament 2014 für den Kommissionspräsidenten das Spitzenkandidaten-Verfahren durchsetzen, scheiterte aber mit dem Versuch, auch für andere Kommissionsmitglieder eigene Kandidaten zu lancieren. Und auch die Frage der nationalen Vetorechte, etwa in der Steuergesetzgebung, ist letztlich ein Konflikt zwischen einem nationalen und einem europäischen Demokratieverständnis.
Je eher das Parlament in dieser andauernden Machtprobe darauf verweisen kann, dass es tatsächlich den demokratischen Willen der europäischen Bevölkerung repräsentiert, desto einfacher wird es in der Öffentlichkeit auf Unterstützung stoßen. Die niedrige Europawahlbeteiligung hingegen hilft den nationalen Regierungen, um dem Europäischen Parlament demokratische Legitimität abzusprechen und ihre eigene Rolle im politischen System der EU zu verteidigen.
Den
Teufelskreis durchbrechen
Und
an dieser Stelle beißt sich die Katze in den Schwanz: Damit die
Europawahl sichtbare Bedeutung bekommt und die Wahlbeteiligung
steigt, müsste das Europäische Parlament durch institutionelle
Reformen gegenüber den nationalen Regierungen gestärkt werden.
Diese institutionellen Reformen sind jedoch umso schwieriger
durchzusetzen, je niedriger die Wahlbeteiligung ausfällt. Im
schlimmsten Fall kann
daraus ein Teufelskreis entstehen, der die Legitimität des
Europäischen Parlaments erodieren lässt und die Entwicklung einer
überstaatlichen Demokratie in Europa dauerhaft beschädigt.
Es bleibt aber möglich, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Ein erster Schritt dafür ist, am 26. Mai wählen zu gehen.
Bild: Ruth_W [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
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