- „Beide Wahlgänge mit Spitzenkandidat:innen zeigten ein hohes Maß an interinstitutionellen Konflikten – gefolgt von einem Ausgleich zwischen den Institutionen nach der Wahl.“
Wie und ob die Europäische Union hinreichend demokratisch ist, wird immer wieder in Zweifel gezogen. Hinter diesem Zweifel steht die Frage, was für ein politisches System die EU ist und, nicht weniger wichtig, sein sollte. Die zugrundeliegenden konkurrierenden Vorstellungen über die demokratischen Grundsätze der EU sind wichtig, um zu verstehen, was die Einführung der Spitzenkandidat:innen durch das Europäische Parlament bei den Wahlen 2014 motivierte und wie das Spitzenkandidatenverfahren wirkt.
Das Spitzenkandidatenverfahren wurde explizit eingeführt, um die demokratische Stimme der Bürger:innen in der EU zu stärken. Wie im Folgenden ausgeführt wird, konnten die bisher zwei Wahlgänge mit Spitzenkandidat:innen dieses Versprechen bestenfalls in Ansätzen einlösen. Grundsätzlich kann das System in der jetzigen Form schwerlich seine Ziele erreichen, solange es nicht in einen umfassenderen Prozess der europäischen Parteienbildung eingebettet wird.
Demokratische Modelle für die EU: Wozu Spitzenkandidat:innen?
Um die demokratisierende Wirkung des Spitzenkandidatensystems beurteilen zu können, muss es in den spezifischen Kontext des politischen Systems der EU gestellt werden. Die EU basiert auf einem System der dualen Demokratie (siehe z. B. von Bogdandy 2007:37), d. h. der Legitimation sowohl durch gewählte nationale Regierungen als auch durch das direkt gewählte Europäische Parlament. Die aggregierten Interessen der nationalen und der EU-weiten Wählerschaft finden sich in einem System der Machtteilung wieder, in dem die EU-Institutionen jeweils spezifische Wählerschaften repräsentieren.
Majone verwendet hierfür ein nützliches Bild, in dem die zentralen Institutionen wie Stände agieren, die jeweils unterschiedliche Interessen vertreten: der Rat, der den Willen der Staaten repräsentiert, das Parlament, das den Willen der EU-Bevölkerung repräsentiert, und die Kommission – Initiatorin, aber nicht Mitentscheiderin der EU-Gesetzgebung –, die das Gemeinwohl der EU vertritt (Majone 2002). Damit das System funktioniert, sind die Kompetenzen nicht getrennt, sondern werden von den Institutionen gemeinsam ausgeführt; durch die Vetomacht jeder Institution wird sichergestellt, dass alle Interessen berücksichtigt werden. Gleichzeitig gewährleisten die checks and balances zwischen den Institutionen eine gegenseitige Kontrolle bei der Ausübung ihrer Befugnisse. Besonders wichtig, wenn wir die Spitzenkandidat:innen betrachten, ist die Kontrolle der Kommission durch das Europäische Parlament, das diese Kontrolle durchaus ausübt, so etwa, als es 1999 den Rücktritt der Santer-Kommission erzwang.
Infragestellung des Prinzips der dualen Legitimation
Das System der Spitzenkandidat:innen stellt einige der bestimmenden Merkmale der dualen Legitimierung in Frage und setzt diesem die Logik einer einzelnen, direkten Legitimation durch die Bürger:innen entgegen.
Zwei Kritikpunkte am Ideal der dualen Legitimation sind dabei entscheidend. Zum einen ist die unparteiische Rolle der Kommission, die politische Unabhängigkeit suggeriert, in der Theorie und in der Praxis zweifelhaft, da eine politische Einflussnahme der Kommission offensichtlich und unvermeidlich ist (Follesdal und Hix 2006). Zweitens haben die Wähler:innen in der Praxis die Wahlen zum Europäischen Parlament immer dazu genutzt, Botschaften an die nationalen Politiker:innen zu senden. Dadurch blieb der zweite wesentliche Legitimationskanal, die Direktwahlen, unterentwickelt (Hix und Marsh 2011).
Das Spitzenkandidatenverfahren adressiert beide Probleme: Es macht die Europawahlen EU-bezogener, indem es zum einen eine Personalisierung bringt, bei der Spitzenkandidat:innen für eine EU-weite parteipolitische Agenda werben, und zum anderen zumindest die Ernennung der Kommissionspräsident:in vom Ergebnis der Wahl abhängig macht. Damit verschiebt sich der Schwerpunkt von einer Logik der dualen zu einer Logik der einfachen, direkten Legitimation.
Mögliche unbeabsichtigte Effekte
Die Begründung des Spitzenkandidatensystems zeigt, welche Wirkung damit beabsichtigt ist. Das Nebeneinander von dualen und einfachen Legitimationsverfahren für die Wahl der Kommissionspräsident:in kann jedoch auch eine Reihe unbeabsichtigter Effekte haben:
- Erstens besteht die Gefahr, dass ein:e Spitzenkandidat:in nach der Wahl nicht das Parteiprogramm umsetzen kann. Dies kann, vor allem in wiederholten Wählererfahrungen, den gesamten Prozess delegitimieren, weil sich die Wahlversprechen nicht mit der verwirklichten Politik decken.
- Zweitens könnte angesichts der institutionellen Struktur der EU eine höhere Bedeutung von Parteipolitik dazu führen, dass die interinstitutionelle Kontrolle untergraben wird, insbesondere die Kontrollfunktion des Europäischen Parlaments gegenüber der Kommission.
- Drittens könnte – sofern Europapolitik weiterhin vor allem von interinstitutionellem Wettbewerb geprägt bleibt – der einseitige Schritt des Europäischen Parlaments, das Spitzenkandidatenverfahren aus dem Vertrag von Lissabon herauszulesen, zu offenen interinstitutionellen Konflikten führen. Statt einer Transformation von einer dualen zu einer einfachen Legitimationslogik hätte dies eher Blockaden und Lähmungen in der Entscheidungsfindung zur Folge (Bartolini und Hix 2006).
Im folgenden Abschnitt wird empirisch untersucht, welche dieser beabsichtigten und unbeabsichtigten Effekte bisher tatsächlich zu beobachten sind.
Spitzenkandidat:innen in Aktion: 2014 und 2019 im Vergleich
Während es dem Europäischen Parlament 2014 gelang, den siegreichen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten zu wählen, gelang es dem Europäischen Rat 2019, Ursula von der Leyen zu ernennen, die bei der Wahl nicht als Spitzenkandidatin angetreten war. Inwiefern spiegeln diese unterschiedlichen Ausgänge die zum Teil erwarteten und erwünschten, aber auch die unerwünschten Erwartungen wider?
In der Tat zeigen beide Fälle ein hohes Maß an interinstitutionellen Konflikten über die tatsächliche Ernennung der Kommissionspräsident:in. Der Konflikt zwischen Europäischem Rat und Parlament dreht sich dabei um die Auslegung von Art. 17 (7) EUV, der den Europäischen Rat verpflichtet, bei der Nominierung der Kommissionspräsident:in das „Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“ zu „berücksichtig[en]“.
Während der Europäische Rat die Formulierung des Vertrages als Fortsetzung der bisherigen Praxis versteht, wonach der Europäische Rat eine Kandidat:in aus der stärksten Parteigruppe im Parlament vorschlägt, interpretiert das Parlament sie dahingehend, dass die von den Parteien aufgestellten Spitzenkandidat:innen in direktem Wettbewerb um das Amt der Kommissionspräsident:in stehen.
Im Jahr 2014 gaben die Staats- und Regierungschef:innen nach und nominierten den Spitzenkandidaten aus der siegreichen Parteifamilie. Im Jahr 2019 hingegen ernannten sie eine Person, die niemals Spitzenkandidat:in gewesen war. In beiden Runden war unmittelbar nach den Wahlen nicht klar, ob ein:e Spitzenkandidat:in das Amt übernehmen würde – und bis heute ist offen, welche Institution 2024 dominieren wird, da weiterhin die beiden Interpretationen in einem unsicheren institutionellen Umfeld miteinander konkurrieren.
Innere Kohärenz und Timing sind entscheidend
Solange der Grundkonflikt über die Auslegung des Vertrags ungeklärt bleibt, sind es weniger die Regel als konkrete Ressourcen, welche die Erfolgswahrscheinlichkeit für den Europäischen Rat und oder das Parlament erhöhen (Heidbreder und Schade 2020b, 2020a; Crum 2022; Gómez und Reiners 2019). Dabei stechen zwei Ressourcen für die Machtausübung in interinstitutionellen Konflikten hervor: intrainstitutionelle Kohärenz und Timing.
Im Jahr 2014 unterstützten alle großen Fraktionen im Europäischen Parlament sofort den siegreichen Spitzenkandidaten. Im Jahr 2019 hingegen stellte sich das Parlament nicht eindeutig hinter Manfred Weber, obwohl seine Fraktion bei den Wahlen die meisten Sitze gewonnen hatte. Stattdessen sprachen sich die Parteien dafür aus, im Rahmen eines Koalitionsbildungsprozesses innerhalb des Europäischen Parlaments eine Kandidat:in zu nominieren. Das Parlament trat somit nicht als einheitlicher Akteur in den interinstitutionellen Wettbewerb ein.
Umgekehrt hatte der Europäische Rat 2014 unmittelbar nach der Nominierung Junckers durch das Europäische Parlament keine Alternativkandidat:in. 2019 hingegen gelang es ihm, eine intrainstitutionelle Einigung herbeizuführen und dem immer noch gespaltenen Parlament von der Leyen zu präsentieren.
In beiden Fällen hatte der first mover einen entscheidenden strategischen Vorteil, indem er eine Kandidat:in präsentierte und damit die Konkurrenz zwischen den Institutionen nach seiner bevorzugten Legitimationslogik gestaltete, was die konkurrierende Institution jeweils entscheidend unter Druck setzte. So war es für den Europäischen Rat 2014 insbesondere in der deutschen Öffentlichkeit schwierig, dem Argument etwas entgegenzuhalten, dass legitimerweise der gewählte Kandidat ernannt werden solle. Umgekehrt war es für das Europäische Parlament 2019 schwierig zu behaupten, dass es eine geeignetere Kandidat:in gebe als jene, die es nicht einseitig unterstützte.
Institutioneller Ausgleich
Inwieweit konnte das Spitzenkandidatensystem im Weiteren seine Versprechen einlösen? Empirisch konzentriere ich mich auf die Übereinstimmung zwischen den Programmen der Parteien, der Institutionen und der Kommissionspräsident:in. Überraschenderweise stellen wir fest, dass die politischen Agenden der neuen Kommissionspräsident:innen eher institutionellen als parteipolitischen Forderungen entsprachen. Die ernannten Kandidat:innen folgten dabei jedoch nicht in erster Linie der Institution, die den interinstitutionellen Konflikt gewonnen hatte.
Im Jahr 2014 legte der Europäische Rat „unmittelbar nach der Ernennung Junckers zum Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament ein detailliertes Programm für die neue Kommission vor – die ‚Strategische Agenda für die Union in Zeiten des Wandels‘ –, das einige politische Prioritäten für die EU für die nächsten fünf Jahre festlegte, und beauftragte die künftige Europäische Kommission, diese umzusetzen“ (Goldoni 2016:287, aus dem Englischen übersetzt). Juncker folgte dieser allgemeinen Vorgabe während seiner gesamten Amtszeit, sodass „die Beziehung zwischen dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission bei der Festlegung der legislativen Agenda in prominenten Fällen am besten als eine ‚konkurrierende Zusammenarbeit‘ charakterisiert werden kann“ (Bocquillon und Dobbels 2014:34, aus dem Englischen übersetzt).
Als umgekehrt von der Leyen 2019 ihre Agenda vorstellte, um die Unterstützung des Europäischen Parlaments zu gewinnen, ging sie darin auf die wichtigsten Ziele des Parlaments und bestimmter Parteigruppen ein (Europäische Kommission et al. 2019). Im Gegensatz zu Junckers „konkurrierender Zusammenarbeit“ mit dem Europäischen Rat hat sich die direkte Beziehung zwischen von der Leyen und dem Ratspräsidenten Charles Michel im Laufe der Zeit so sehr verschlechtert, dass nach Einschätzung der Zeitschrift Politico die dysfunktionale Partnerschaft der beiden Präsident:innen „nicht nur Auswirkungen auf die legislative und politische Agenda der EU hat, die von einem heiklen interinstitutionellen Balanceakt abhängt. Sie droht auch, die Stellung der EU in der Welt zu untergraben“ (Lynch 2022, aus dem Englischen übersetzt).
Wiederherstellung des Gleichgewichts nach der Wahl
Trotz der sehr begrenzten empirischen Evidenz zeigt sich in beiden Fällen keine dominante Rolle von institutionenübergreifenden Parteibündnissen. Im Gegenteil: Die vom Parlament gewählte Präsident:in orientiert sich tendenziell an den Interessen des Europäischen Rates und die vom Europäischen Rat ausgewählte Kandidat:in an denen des Parlaments, um die Zustimmung beider Seiten in der Grundstruktur der dualen Legitimität zu erreichen.
Während der Nominierungsprozess von interinstitutionellen Konflikten beherrscht wird, kommt es danach zu einem starken Ausgleich zwischen den Institutionen. Statt einer Blockade oder einer Machtverschiebung zugunsten einer dominanten Institution wurde nach beiden Wahlen das Machtgleichgewicht zwischen den drei Institutionen Rat, Parlament und Kommission somit wiederhergestellt und nicht, wie vom Spitzenkandidatensystem intendiert, in Richtung der direkten Legitimierung verschoben.
Institutioneller Konflikt und Ausgleich vs. Parteipolitisierung
Und schließlich: Wurden die beabsichtigten Wirkungen erzielt? Nach nur zwei Wahlgängen mit Spitzenkandidat:innen sind die Befunde bestenfalls gemischt. Zwar gibt es einige Anzeichen dafür, dass sich die Wahrnehmung der Wähler:innen leicht verändert, insgesamt dominiert aber noch der Nebenwahl-Effekt (de Wilde 2020:47). Allerdings ist es plausibel, dass weitere Wahlen mit Spitzenkandidat:innen notwendig sind, damit das neue Verfahren einen wirklich signifikanten Effekt hat.
Wichtiger ist jedoch, dass die oben beschriebenen Effekte des institutionellen Konflikts und darauffolgenden Ausgleichs die Parteipolitisierung grundsätzlich untergraben, was allgemein Zweifel am Potenzial des neuen Verfahrens aufkommen lässt. Um erfolgreich eine Spitzenkandidat:in als Kommissionspräsident:in zu installieren, müssen sich die Parteien im Europäischen Parlament hinter der siegreichen Spitzenkandidat:in vereinen und damit die Parteipolitik ignorieren. Als singuläres Instrument leidet das Spitzenkandidatenverfahren deshalb an einer Reihe von Dilemmata, die nicht überwunden werden können, solange man nicht durch zusätzliche oder alternative Instrumente weitere Schritte von einem Modell der dualen zu einem Modell der einfachen Legitimität unternimmt.
Anhaltender Streit über zentrale Verfassungsregeln
Das Spitzenkandidatensystem wurde eingeführt, um die Aufmerksamkeit der Wähler:innen von nationalen auf europapolitische Fragen zu lenken und die Ernennung der Kommissionspräsident:in direkter zu legitimieren. Die beiden Wahlgänge mit Spitzenkandidat:innen haben den zugrundeliegenden institutionellen Streit über die Auslegung des EU-Vertrags nicht gelöst, bei dem es im Wesentlichen darum geht, das politische System der EU in Richtung einer einfachen Legitimationslogik zu verändern, in der die Bürger:innen ihren demokratischen Willen direkt auf EU-Ebene einbringen.
Tatsächlich ist es im Frühjahr 2023 völlig offen, wer nach der nächsten Wahl im Jahr 2024 den interinstitutionellen Kampf gewinnen wird. Das ist an sich schon bemerkenswert: Wir sind Zeug:innen eines anhaltenden und nach wie vor ungelösten Streits über zentrale Verfassungsregeln, auf denen die EU beruht. Im Kern geht es dabei um die Neuverteilung institutioneller Macht.
Das Dilemma der Spitzenkandidat:innen für die EU
Solange konkurrierende Interpretationen des Vertrags von Lissabon fortbestehen, wird es vor allem auf Kohärenz in den Institutionen und strategisches Timing ankommen, um den institutionellen Konflikt zwischen Europäischem Parlament und Europäischem Rat zu gewinnen.
In dieser Situation steht das Spitzenkandidatensystem vor einem Dilemma (Müller 2020): Je besser es den Spitzenkandidat:innen gelingt, die Wahlen zu politisieren und die Aufmerksamkeit der Wähler:innen auf echte europapolitische Fragen zu lenken, desto wichtiger wird es für die siegreiche Kandidat:in, ins Amt zu kommen – und desto dringlicher wird es deshalb für die Parteien, nach der Wahl ihre konkurrierenden politischen Forderungen aufzugeben, um als kohärenter institutioneller Akteur aufzutreten.
Dilemmata der Parteipolitisierung in der EU
Aus diesem Dilemma sind zwei Auswege denkbar, die jedoch jeweils neue Herausforderungen mit sich bringen. Die erste Option ist eine noch viel stärkere Parteipolitisierung. Durch enge Parteiverbindungen zwischen den EU-Institutionen sowie zwischen den europäischen Parteien und ihren nationalen Mitgliedsparteien könnte sichergestellt werden, dass im Europawahlkampf gegebene Wahlversprechen während der Legislaturperiode eingehalten werden.
Diese Lösung schafft jedoch eigene Dilemmata: Wenn sie erfolgreich wäre, würde sie im Prinzip sowohl die gegenseitige Kontrolle als auch die Gewaltenteilung zwischen den EU-Institutionen aufheben und den Gesetzgebungsprozess der EU als solchen stören. Ein noch größeres Dilemma besteht darin, dass sich die nationalen Parteien, aus denen sich die europäischen Parteien zusammensetzen, teilweise selbst entmachten müssten, um eine kohärente EU-weite parteipolitische Linie zu verfolgen. Innerhalb des derzeitigen EU-Systems erscheint es nahezu unmöglich, eine solche übergreifende parteipolitische Kohärenz herzustellen.
Die zweite Option – oder Gefahr – besteht darin, dass sich die europäischen Parteien allmählich von ihren nationalen Parteibasen lösen und wirklich unabhängige europäische Parteien entstehen. Die konkurrierenden Positionen hinsichtlich EU-weiter Wahllisten zeigen das Dilemma – oder das angestrebte höhere Ziel – dieses zusätzlichen Instruments zur Schaffung einer europäischen Parteipolitik: Ein wirklich entkoppeltes, unabhängiges System europäischer Parteien passt nicht in die duale Legitimationslogik; es kann nur dann voll etabliert und funktionsfähig sein, wenn das politische System der EU in ein System mit einer direkten Legitimationsbasis umgewandelt wird. Das wiederum ist unter den vorherrschenden Regeln des bestehenden dualen Legitimationssystems nur schwer zu erreichen.
Es braucht mehr als eine Spitzenkandidat:in
Die duale Legitimationsstruktur der EU und die inhärenten Dilemmata, die das Spitzenkandidatensystem darin hindern, seine beabsichtigte Wirkung zu entfalten, erklären, warum die Politisierung der Europawahlen nicht zu interinstitutionellen Blockaden führt: Das Spitzenkandidatensystem kann für sich allein keine Parteibindungen schaffen, die stark genug wären, um die interinstitutionellen Balancemechanismen zu ersetzen. Diese Ausgleichsmechanismen wiederum erklären, warum der intensive interinstitutionelle Konflikt um die Spitzenkandidat:innen nicht zu legislativen Blockaden geführt hat.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zumindest bislang keine Stärkung parteipolitischer Allianzen über die Institutionen hinweg zu beobachten ist. Die Einführung von Spitzenkandidat:innen bei den Europawahlen hat weder die erwünschten Veränderungen in Richtung einer direkteren Legitimierung durch Bürger:innen bewirkt, noch hat es befürchtete negative Effekte der Blockade zwischen EU-Institutionen provoziert. Obwohl der Wettstreit zwischen Parlament und Europäischem Rat durch das Spitzenkandidatensystem befeuert wurde und noch nicht ausgestanden ist, sehen wir gleichzeitig, dass die Mechanismen des interinstitutionellen Ausgleichs direkt nach der Nominierung einer Kommissionspräsident:in durch Parlament oder Rat wirksam werden, wodurch das Machtgleichgewicht zwischen den Institutionen im EU-Alltag aufrechterhalten bleibt.
Eva G. Heidbreder ist
Professorin für Regieren im Europäischen Mehrebenensystem an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Inhaberin eines Jean-Monnet-Lehrstuhls. |
Dieser Beitrag stützt sich stark auf mehrere bereits erschienene oder im Erscheinen befindliche wissenschaftliche Publikationen, insbesondere Heidbreder und Auracher 2015; Heidbreder und Schade 2020a, 2020b sowie Heidbreder und Schade, „Interinstitutional conflict in the context of leadership appointment of the Commission“, in: M. Ceron, T. Christiansen, D. G. Dimitrakopoulos (Hrsg.): Beyond Spitzenkandidaten? The Politicization of Leadership Selection in the European Union, Palgrave 2023 (i.E.).
Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“, der in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Regierungsforschung.de erscheint.
Bilder: Jean-Claude Juncker und Ursula von der Leyen: European Union, 2019 [Lizenzbedingungen], via EC - Audiovisual Service; Porträt Eva Heidbreder: Hoffotografen [alle Rechte vorbehalten]; Europaflagge: Arno Mikkor (EU2017EE) [CC BY 2.0], via Flickr.
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