15 August 2023

Ist die europäische Demokratie fit für den Klimawandel? Der Fall der „grünen Taxonomie“

Von Bohyun Kim
Nuclear plant with sunflowers
Die EU hat die Kernenergie als „grün“ klassifiziert. Der Entscheidungsprozess war transparent, aber seine Offenheit für die Zivilgesellschaft unzureichend.

Die EU setzt sich aktiv dafür ein, „grüner“ zu werden. Im Rahmen des derzeitigen internationalen Klimaregimes sind die 195 Unterzeichnerstaaten des Pariser Abkommens rechtlich verpflichtet, dringende Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen, um die globalen Treibhausgasemissionen zu reduzieren und die globale Erwärmung unter 1,5 °C zu halten. Als einzige regionale Organisation mit UNFCCC-Vertragsstatus ist die EU eine der am schnellsten voranschreitenden Demokratien auf dem Weg zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft.

EU-Klimapolitik

Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Zu diesem Zweck hat sie 2019 den Europäischen Grünen Deal auf den Weg gebracht, dem 2021 das Europäische Klimagesetz mit dem neuen EU-Ziel folgte, die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 % gegenüber 1990 zu senken. Um dieses Ziel zu erreichen, schlug die Europäische Kommission im Juli 2021 das „Fit-for-55“-Paket vor, das alle relevanten klima-, energie-, verkehrs- und steuerpolitischen Instrumente überprüft, einschließlich einer Reform des EU-Emissionshandelssystems. Im Mai 2022 kam der REPowerEU-Plan hinzu, eine Initiative zur raschen Verringerung der Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen und zur Beschleunigung der grünen Wende.

Die Umsetzung des Europäischen Green Deal wirkt sich auch auf die externe Klimapolitik der EU aus. Der CO2-Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) tritt am 1. Oktober 2023 in seine Übergangsphase. Er gilt zunächst für Importe bestimmter Waren und ausgewählter Vorprodukte, deren Herstellung kohlenstoffintensiv ist und bei denen das Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen am größten ist. In Sachen Klimapolitik scheint die EU bereits „grün“ zu sein.

EU-Taxonomie: Sein oder Schein einer grünen Wirtschaft?

Doch nicht alles ist harmonisch auf dem Gebiet der EU-Klimapolitik. Inmitten des raschen Fortschritts bei der Umsetzung der EU-Taxonomie ist die alte Debatte, ob Kernenergie umweltfreundlich ist, wieder aufgeflammt.

Die EU-Taxonomie nachhaltiger Aktivitäten (auch „grüne Taxonomie“ genannt) ist ein Klassifizierungssystem, das verdeutlichen soll, welche Investitionen ökologisch nachhaltig sind und im Einklang mit den Zielen des Europäischen Green Deal stehen. Die Taxonomie, die im Juli 2020 in Kraft getreten ist, soll Investor:innen helfen, umweltfreundlichere Entscheidungen zu treffen. Seitdem hat die Europäische Union vier delegierte Rechtsakte zur Ergänzung der Taxonomie erlassen: zwei zum Klima (2021 und 2022), einen zur Offenlegung von Informationen (2021) und zuletzt einen für Umwelt und Klima (2023).

Von diesen war der zweite delegierte Rechtsakt zum Klima der umstrittenste, da er auch Kernenergie und Erdgas in das Regelwerk der EU-Taxonomie aufnahm. Da das Europäische Parlament in seiner Sitzung vom 6. Juli 2022 keine Einwände gegen die Aufnahme von Gas- und Nuklearaktivitäten erhob, ist der delegierte Rechtsakt seit Januar 2023 in Kraft und erlaubt es offiziell, Gas- und Kernkraftwerke als grün zu kennzeichnen.

Erbitterte Auseinandersetzung um die Kernenergie

Das Regelwerk spaltet die EU-Mitgliedstaaten ebenso wie die Investor:innen. Im Oktober letzten Jahres reichte die österreichische Regierung wegen der grünen Kennzeichnung von Kernenergie und Erdgas eine Klage gegen die Kommission ein. Österreich, das zusammen mit Deutschland, Dänemark und Portugal zu den kernenergieskeptischsten Mitgliedstaaten gehört, hatte sich seit Beginn der Kontroverse gegen den Taxonomie-Plan der EU ausgesprochen. Auf der anderen Seite steht die Gruppe der „Nuklear-Allianz“, die sich für die Kernenergie einsetzt und der Frankreich, Belgien, Bulgarien, Estland, Finnland, Italien, Kroatien, die Niederlande, Polen, Rumänien, Schweden, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn angehören.

Was die öffentliche Meinung zur Frage der EU-Taxonomie betrifft, so haben Umweltgruppen wie Greenpeace und andere NGOs die Kommission Anfang des Jahres wegen des delegierten Rechtsakts verklagt, der ihrer Meinung nach gegen die eigentliche Idee der Taxonomie-Verordnung verstößt, indem er umweltschädliche Aktivitäten einbezieht. Zuletzt hat sich die Debatte zwischen Befürworter:innen und Gegner:innen der Kernenergie noch weiter verschärft, da sie auch mit der Frage nach dem Stellenwert der Kernenergie in der Energiewende der EU und mit der durch die russische Aggression in der Ukraine ausgelösten Energiekrise zusammenhängt und somit Energie- und Sicherheitsfragen mit Fragen des Klimawandels verbindet.

Wie aber gelang es der EU angesichts dieser Vielzahl unterschiedlicher Gruppen und politischer Interessen auf mehreren Ebenen, einen Weg zur Verabschiedung von Rechtsvorschriften in der höchst umstrittenen Frage der Kernenergie zu finden?

Throughput-Legitimität der EU-Politik

Die EU ist bekanntlich weder eine internationale Organisation noch ein Nationalstaat und hat mit ihrem institutionellen Mehrebenensystem verschiedene Säulen, auf die sie ihre Legitimität stützt. Zum einen verfügt sie über eine „indirekte Legitimation“ durch die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten, zum anderen über eine „direkte Legitimation“ durch das gewählte Europäische Parlament. Darüber hinaus verfügt die EU aber auch über eine „technokratische“ und eine „prozedurale“ Legitimität: Die EU-Institutionen sind dann am besten legitimiert, wenn sie entweder Regulierungsprobleme lösen oder wenn sie Verfahrensregeln wie Transparenz und die Konsultation von Interessengruppen einhalten (Neuhold 2021).

Vivien Schmidt (2021) bezeichnet diese technokratische und prozedurale Legitimität als „Throughput-Legitimität“ des EU-Regierungssystems. In Anerkennung der vielfältigen Legitimitätsgrundlagen demokratischen Regierens in der EU greift sie auf drei ursprünglich von Scharpf (1999) eingeführte Legitimitätskonzepte zurück: Output-, Input- und Throughput-Legitimität. Die Output-Legitimität bezieht sich auf die Legitimität des Regierens im Hinblick auf die Wirksamkeit der Politik und die Leistung für das Gemeinwohl, während die Input-Legitimität mit der Beteiligung und Repräsentation der Bürger:innen und der Empfänglichkeit der politischen Eliten für die Anliegen der Bürger:innen zusammenhängt. Die Throughput-Legitimität hingegen bezieht sich demgegenüber auf die Qualität der Regierungsprozesse. Dazu gehören die Effizienz der politischen Entscheidungsfindung, die Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger:innen gegenüber den jeweils zuständigen Gremien, die Transparenz ihres Handelns und der Zugang zu Informationen sowie ihre Offenheit und Inklusivität gegenüber der Zivilgesellschaft.

Da sich qualitativ minderwertige Throughput-Verfahren – etwa inkompetente, parteiische, korrupte oder repressive  Entscheidungsprozesse – sowohl auf den politischen Output als auch auf den politischen Input negativ auswirken können (Schmidt 2021), ist die Aufrechterhaltung einer hohen Throughput-Legitimität für das Funktionieren der EU als demokratisches Regierungssystem von entscheidender Bedeutung.

Die rhetorische Macht der Kommission in der Klimakrise

Für die interne und externe Klimapolitik der EU haben Studien einen wachsenden Einfluss der Europäischen Kommission aufgezeigt (Rayner und Jordan 2016). Die Rolle der Europäischen Kommission als „policy entrepreneur“ im EU-System ermöglicht es ihr, politischen Wandel zu gestalten und voranzutreiben, indem sie für neue Ideen oder Vorschläge eintritt, Probleme (um)formuliert, Koalitionen zwischen politischen Entscheidungsträger:innen und Interessenvertreter:innen schmiedet, die öffentliche Meinung mobilisiert und die Agenda bestimmt (Dupont et al. 2020).

Selbst in Krisensituationen kann die Kommission als Exekutivorgan der Union das, was ihr an traditioneller staatlicher Zwangsgewalt fehlt, durch rhetorische Macht ausgleichen, um ihr Handeln nachträglich zu legitimieren und zu normalisieren (Schmidt 2021). Diese rhetorische Macht verleiht allen Akteuren Legitimität und beeinflusst über Ideen und Diskurse die Legitimitätswahrnehmung der Bürger:innen (Carstensen und Schmidt 2018).

Auch wenn die Kommission nun vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt wurde, ist die EU-Gesetzgebung zur grünen Taxonomie zunächst ein erfolgreiches Beispiel für eine „Versicherheitlichung“ des Klimawandels durch Sprechakte, die es ermöglicht haben, Atomenergie und Gas als grün zu legitimieren (Oels 2012). Durch die Etablierung des Klimawandels als „existenzielle Bedrohung“ im Rahmen des Europäischen Green Deal konnte die Kommission als sicherheitsgebender Akteur politische Legitimität für ihre delegierten Rechtsakte generieren, die andernfalls womöglich als illegitim angesehen worden wären (Olesker 2018).

Wie lässt sich Kernenergie als umweltfreundlich legitimieren?

Wie ist es der Kommission also gelungen, die Aufnahme von Kernenergie und Gas in die grüne Taxonomie mit ihren delegierten Rechtsakten zum Klima prozedural zu legitimieren? Sie durchlief das übliche Verfahren für delegierte Rechtsakte, das Throughput-Legitimität erzeugt: Bevor die Kommission delegierte Rechtsakte erlässt, konsultiert sie Expertengruppen, die sich aus Vertreter:innen der einzelnen EU-Länder zusammensetzen. Nach Erlass des Rechtsaktes haben Parlament und Rat zwei Monate Zeit, um Einwände zu erheben. Tun sie dies nicht, tritt der Rechtsakt in Kraft.

Der zweite delegierte Rechtsakt zum Klima wurde zusammen mit zwei Berichten vorgelegt – einem von der Technischen Sachverständigengruppe für nachhaltige Finanzen (2019) und einem von der Gemeinsamen Forschungsstelle (Joint Research Centre, JRC), dem wissenschaftlichen Dienst der Europäischen Kommission (JRC 2021). Darüber hinaus konsultierte die Kommission die Plattform für nachhaltige Finanzen (Platform on Sustainable Finance, PSF) und die Sachverständigengruppe der Mitgliedstaaten (Member States Experts Group, MSEG). Diese technischen Bewertungsgremien waren auf der Grundlage der ursprünglichen Taxonomie-Verordnung vom Juni 2020 eingerichtet worden und hatten die Aufgabe, die in der Verordnung verwendeten Begriffe „wesentlicher Beitrag“ und „erhebliche Beeinträchtigung“ auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Beiträgen von Expert:innen und relevanten Interessengruppen zu aktualisieren und zu spezifizieren.

In einer Mitteilung von April 2021 informierte die Kommission den Rat und das Parlament über ihre Absicht, einen ergänzenden delegierten Rechtsakt zur Taxonomie-Verordnung zu erlassen, um bestimmte Energiesektoren und Produktionstätigkeiten wie Kernenergie, nationales Gas und verwandte Technologien als „Übergangstätigkeit“ zu erfassen. Der Vorschlag stützte sich auf einen JRC-Bericht, der zu diesem Zeitpunkt noch von der Euratom-Artikel-31-Expertengruppe und dem Wissenschaftlichen Ausschuss für Gesundheit, Umwelt und neu auftretende Risiken (Scientific Committee on Health, Environmental and Emerging Risks, SCHEER) geprüft wurde.

Kernenergie als „Übergangstätigkeit“

Die rhetorische Legitimationsstrategie der Kommission für die Einbeziehung von Kernkraft und Gas in die Taxonomie wird in den beiden delegierten Rechtsakten zum Klima deutlich. Im ersten delegierten Rechtsakt, der im Juni 2021 verabschiedet wurde, betonte die Kommission die Bedeutung von „klimaneutraler Energie“ als wirtschaftliche Übergangstätigkeit im Sinne von Art. 10 (2) der Taxonomie-Verordnung 2020/852. Zudem erklärte sie, dass die entsprechende Bewertung für die Kernenergie noch im Gange sei und dass sie auf Grundlage der Bewertungsergebnisse Folgemaßnahmen ergreifen werde, sobald der Prozess abgeschlossen sei.

Im zweiten delegierten Rechtsakt zum Klima, der am 9. März 2022 angenommen wurde, kam die Kommission zu dem Schluss, dass Tätigkeiten im Zusammenhang mit Kernenergie kohlenstoffarme Tätigkeiten darstellen und für eine Reihe von Mitgliedstaaten Bestandteil der künftigen Energiequellen und der Anstrengungen zur Erreichung des Dekarbonisierungsziels für 2050 sind. Daher wurde die Kernenergie in die EU-Taxonomie aufgenommen.

Diese Schlussfolgerung wurde durch den JRC-Bericht untermauert, der feststellte, dass die Kernenergie die einschlägigen Unbedenklichkeitskriterien erfüllt: „Die Analysen ergaben keine wissenschaftlich fundierten Belege dafür, dass die Kernenergie der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt mehr Beeinträchtigung zufügt als andere Stromerzeugungstechnologien, die bereits in der Taxonomie als Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels aufgeführt sind“ (JRC 2021, im Original auf Englisch).

Demokratische Unzulänglichkeiten

Ist die Kernenergie nach den Kriterien der EU also grün? Diese Frage ist in der Tat nicht leicht zu beantworten. Offiziell ist die Europäische Union jedenfalls zu dem Schluss gekommen, dass sie vorläufig als grün einzustufen ist. Dieser Fall der EU-Gesetzgebung zur grünen Taxonomie ist nicht nur ein Anlass, über die gesellschaftlichen Auswirkungen wissenschaftlicher und technokratischer Entscheidungen nachzudenken, sondern bietet auch einige Lektionen über demokratische Regierungsführung in der EU.

Können das Verfahren zur Annahme der Taxonomie und der Einfluss der Kommission darauf als ausreichend demokratisch bezeichnet werden? Obwohl der Prozess transparent war, zeigen sich Unzulänglichkeiten bei der Offenheit gegenüber der Zivilgesellschaft. Die rhetorische Macht der Kommission beruhte fast ausschließlich auf technokratischen und wissenschaftlichen Ergebnissen.

Diese reichten zwar aus, um die Entscheidungsträger:innen im Rat und im Parlament zu überzeugen, die keine Einwände gegen den zweiten delegierten Rechtsakt zum Klimawandel erhoben. Es gelang der Kommission jedoch nicht, damit auch die gesellschaftlichen Kontroversen um die Rolle der Kernenergie zu befrieden. Laut einer vom WWF in Auftrag gegebenen und von Savanta ComRes in acht großen EU-Ländern durchgeführten Umfrage sprachen sich nur 29 % der Bürger:innen für die Aufnahme der Kernenergie in die grüne Taxonomie aus, während 55 % sie ablehnten. Eine weitere Umfrage von Innofact kam für Deutschland zu ähnlichen Ergebnissen.

EU-Demokratie für den Klimaschutz?

In ihrem 2004 erschienenen Buch „The Green State“ hat Robyn Eckersley die „kantianische“ oder „post-westfälische“ Kultur der Europäischen Union als die größte Annäherung an einen grünen Staat beschrieben. Sie argumentierte, dass Staaten die einzigen politischen Institutionen seien, die noch über eine starke Macht und die Fähigkeit verfügten, Gesellschaften und Volkswirtschaften zu lenken. Um liberal-demokratische Staaten in „grün-demokratische Staaten“ umzuwandeln, müssen Graswurzel-Umweltbewegungen die staatlichen Institutionen konfrontieren und auf eine grünere Weise umgestalten (Fischer 2017).

Es mag zu idealistisch sein, ein solch hohes Maß an gesellschaftlicher Integration auch auf EU-Ebene zu erhoffen. Aber in jedem Fall wäre ein direkterer und stärker deliberativer Prozess, der mehr unterschiedliche zivilgesellschaftliche Akteur:innen in das Regierungssystem einbezieht, der nächste Schritt für die EU, um auch in Zukunft führend im Klimaschutz zu bleiben und gleichzeitig ihre demokratischen Ambitionen zu verwirklichen.


Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“, der in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Regierungsforschung.de erscheint.


Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Atomkraftwerk und Sonnenblumen: Jess & Peter [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons; Porträt Bohyun Kim: privat [alle Rechte vorbehalten]; Europaflagge: Arno Mikkor (EU2017EE) [CC BY 2.0], via Flickr.

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