In der Europäischen Union, aber auch in anderen OECD-Staaten, sind
Rechts- und Nationalpopulisten seit einigen Jahren im Aufwind. Eine
Anti-Establishment-Rhetorik, gepaart mit einem engen
Identitätsdiskurs, der das „Eigene“ beschwört, das es gegen das
„Fremde“ zu verteidigen gelte, scheint zum Erfolgsrezept geworden
zu sein, mit dem sich US-Präsidentschaftswahlen, Brexit-Referenden,
und nationale Parlamentswahlen in EU-Mitgliedsländern gleichermaßen
gewinnen lassen. Im Folgenden einige Gedanken dazu, wie es zu diesem
Aufschwung der Rechtspopulisten gekommen ist und was sich dagegen tun
lässt.
1. Linke, Liberale und Konservative
Ein gängiges Modell, um unterschiedliche politische Weltanschauungen
systematisch zu verorten, ist der zweidimensionale „politische
Kompass“. Er erfasst auf einer Achse wirtschaftspolitische
Positionen, die vom Etatismus bis zum Wirtschaftsliberalismus
reichen. Die andere Achse bildet kultur- bzw. gesellschaftspolitische
Vorstellungen ab und unterscheidet zwischen „autoritären“
Positionen, die auf gesellschaftliche Einheitlichkeit und den Erhalt
traditioneller Rollenmuster abzielen, und „libertären“
Positionen, die die Freiheit des Einzelnen und die Rechte von
Minderheiten betonen.
Mit diesen Unterscheidungen lassen sich – natürlich sehr
vereinfachend – auch zentrale Gegensätze zwischen den
Hauptströmungen erfassen, die das politische Denken in Europa seit
der Ausbreitung der Demokratie geprägt haben: der Konservatismus,
der Liberalismus und die politische Linke. Konservatismus und
Liberalismus unterscheiden sich dabei vor allem in Bezug auf die
gesellschaftspolitische Dimension, wobei Konservative autoritären,
Liberale libertären Positionen näherstehen. Der Unterschied
zwischen Linken und Liberalen hingegen betrifft vor allem die
wirtschaftspolitische Dimension, in der die Linken staatliche
Eingriffe wohlwollender sehen.
Historisch entstanden in vielen Ländern Parteien, die sich an einer
dieser drei Hauptströmungen orientieren. Allerdings vertreten
Parteien natürlich kein überzeitlich starres Programm, sondern
passen sich immer wieder an die veränderte Weltlage oder an neue
Überzeugungen ihrer Mitglieder an. Dadurch kann sich auch ihre
Position im politischen Spektrum verschieben.
2.
Wirtschaftliche und kulturelle Liberalisierung
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs, vor allem aber in den letzten drei
bis vier Jahrzehnten waren Politik und Gesellschaft in der westlichen
Welt von einer starken Liberalisierungstendenz geprägt, und zwar
sowohl wirtschafts- als auch gesellschaftspolitisch.
Wirtschaftspolitisch gehören zu dieser Entwicklung etwa sinkende
Steuern, die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, die
Deregulierung von Märkten sowie der Abbau sozialer Sicherungsnetze,
die seit den 1980er Jahren in zahlreichen Staaten stattgefunden haben
und bis heute stattfinden.
Gesellschaftspolitisch wiederum setzte die Liberalisierung schon
etwas früher ein. Sie macht sich besonders in der Geschlechter- und
Familienpolitik bemerkbar – etwa durch die Normalisierung
nicht-heterosexueller Beziehungen und die Einführung der
gleichgeschlechtlichen Ehe, aber auch durch die Ausbreitung anderer
Modelle des Zusammenlebens wie der Patchwork-Familie und die
zunehmende Berufstätigkeit von Frauen. Aber auch in anderen
Bereichen, von der Religion über die Ernährungsweise bis
hin zu einer immer weniger am Auto ausgerichteten Verkehrspolitik, nimmt
die gesellschaftliche Vielfalt zu oder wird jedenfalls sichtbarer.
Sowohl die wirtschaftliche als auch die gesellschaftlich-kulturelle
Liberalisierung erzeugten Gewinner und Verlierer. Die wirtschaftliche
Liberalisierung sollte das Wirtschaftswachstum und damit auch den
gesamtgesellschaftlichen Wohlstand fördern, gleichzeitig führte sie
aber auch zu wachsender Ungleichheit und zu einer zunehmenden
Abwälzung ökonomischer Risiken vom Staat auf den einzelnen Bürger.
Durch die gesellschaftliche Liberalisierung wiederum wächst die
Freiheit des Einzelnen, sein Leben selbst zu gestalten. Gleichzeitig
lösen sich aber auch kulturelle Sicherheiten auf, traditionelle
Hierarchien werden in Frage gestellt und soziale Verhaltensweisen
müssen neu ausgehandelt werden.
3.
Die liberale Konvergenz der linken und rechten Mitte
Ein wesentlicher Aspekt dieser Entwicklung ist, dass sie von allen
großen Parteien der politischen Mitte getragen wurde. Ihren
Ausgangspunkt nahm die Liberalisierung zwar jeweils in dem Lager, von
dem man dies erwarten konnte: Kultur- und gesellschaftspolitisch war
es zunächst die Linke, die sich gegen traditionelle Strukturen
stemmte und den „Wertewandel“ der 1970er Jahre vorantrieb. Die
wirtschaftspolitische Liberalisierung hingegen begann in den 1980er
Jahren unter konservativen Regierungschefs wie Ronald Reagan in den
USA und Margaret Thatcher in Großbritannien.
Vor allem seit den 1990er Jahren öffneten sich jedoch auch die
europäischen Sozialdemokraten unter Tony
Blair und Gerhard Schröder für wirtschaftsliberale Positionen,
die etwa die deutschen Hartz-Reformen oder auch den Umgang mit der
Eurokrise prägten. Umgekehrt haben sich die Mitte-Rechts-Parteien in
den westlichen Ländern heute mit vielen Aspekten der
gesellschaftlichen Liberalisierung abgefunden oder sogar
angefreundet. Trotz weiter fortbestehender Nuancen sind sich die
großen Parteien der linken und rechten Mitte dadurch ähnlicher
geworden.
4.
Neue Akteure am linken und rechten Rand
Diese Konvergenz öffnete Räume an den politischen Rändern, in die
neue Akteure mit stärker linken oder konservativen Positionen
vordringen konnten, die sich dem allgemeinen Liberalisierungstrend entgegenstellten. Allerdings verfolgten die großen Parteien ihren
Kurs ursprünglich, weil sie sich davon – angesichts einer immer
liberaleren Gesellschaft – einen Zugewinn an Wählerstimmen
versprachen. Es wäre deshalb zu erwarten, dass die neuen Links- und
Rechtsaußenparteien allenfalls eine Minderheitsklientel erreichen:
Schließlich hätten die großen Parteien spätestens in dem Moment
gegensteuern können, in dem sie erkannten, dass sie am linken und
rechten Rand mehr Wähler verloren als sie in der liberalen Mitte
gewinnen.
Warum die neuen Parteien in vielen Ländern mehrheitsfähig wurden
und Wahlen oder Referenden für sich entscheiden können, ist also
weiterhin erklärungsbedürftig. Eine wesentliche Rolle dafür spielte der Nationalpopulismus, den die neuen Parteien als Strategie übernahmen. Und dieser wiederum lässt sich nur verstehen durch die Folgen der Globalisierung.
5.
Globalisierung als Liberalisierung
Die zunehmende Öffnung nationaler Grenzen in den letzten Jahrzehnten lässt sich zunächst
einmal als Teil der allgemeinen Liberalisierungstendenz verstehen.
Wirtschaftspolitisch ist dies recht offensichtlich: Zölle und
Warenkontingente, bürokratische Vorschriften für Im- und Exporte,
Kapitalverkehrskontrollen und Handelsbeschränkungen sind letztlich
Hindernisse für einen freien Markt, die seit den 1980er Jahren
weltweit, in der EU vor allem durch das Binnenmarktprojekt bis 1992
abgebaut wurden.
Aber
auch gesellschaftlich-kulturell brachte die Globalisierung
Freiheitsgewinne. Vor allem
innerhalb der EU boten sich dank der Freizügigkeit der Unionsbürger,
der Schengen-Verordnung und Programmen wie Erasmus zahlreiche neue
Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Lebensgestaltung. Aber auch
weltweit nahmen (freiwillige und unfreiwillige) Migrationsbewegungen zu.
Diese Migration ließ die gesellschaftliche Diversität weiter
wachsen – durch größere religiöse und sprachliche Vielfalt,
durch mehr bikulturelle Beziehungen und Familien und allgemein durch
ein breiteres Spektrum an Lebenserfahrungen.
6.
Einschränkung nationaler Handlungsspielräume
Darüber hinaus hatte die Globalisierung aber noch eine weitere
entscheidende Wirkung: Sie schränkte die Handlungsspielräume der
Nationalstaaten – und damit auch der nationalstaatlich
organisierten Parteien – ein. Durch die Öffnung der Grenzen wuchs
die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Staaten. Das macht es
immer schwieriger, bestimmte Liberalisierungsschritte rückgängig zu
machen. So können nationale Regierungen zum Beispiel drastische
Erhöhungen der Einkommensteuer schon allein deshalb nicht mehr
durchsetzen, weil ihnen dann eine Abwanderung der
Spitzenverdiener droht.
Hinzu kommt, dass die Nationalstaaten sich oft auch rechtlich durch
internationale Verträge zur Aufrechterhaltung von
Freiheitsfortschritten verpflichtet haben. Wirtschaftspolitisch sind
das vor allem Freihandels- und Investorschutzabkommen, gesellschafts-
und kulturpolitisch sind es Menschenrechtsverträge wie die
Europäische Menschenrechtskonvention, hinter die die Mitgliedstaaten
nicht zurückfallen können. Das EU-Vertragswerk mit seinen
Binnenmarkt-Freiheiten und seinen Wettbewerbsregeln einerseits sowie
seinen Unionsbürgerrechten und seiner Grundrechtecharta andererseits
betrifft dabei beide Dimensionen der neuen Liberalität.
7.
Unzureichende überstaatliche Parteiendynamik
Dass die Handlungsspielräume der Parteien auf nationaler Ebene
kleiner wurden, wurde auf überstaatlicher Ebene nur unzureichend
kompensiert. Zwar gibt es heute globale Parteiorganisationen, doch
deren
politischer Einfluss ist sehr gering, da es kaum überstaatliche
Parlamente gibt, in denen sie sich betätigen könnten.
Am weitesten vorangeschritten ist die Entwicklung eines
überstaatlichen Parteiensystems in der Europäischen Union. Doch
auch hier zwingen verschiedene institutionelle Mechanismen die großen
europäischen Parteien zu
einer permanenten großkoalitionären Zusammenarbeit und
verhindern damit, dass sie vom liberalen Konsens abrücken.
8.
Die strukturellen Vorteile der Nationalpopulisten
Die
etablierten Parteien der
linken und rechten Mitte stehen
damit vor einem
strukturellen Dilemma:
Sie können Politik nur noch auf überstaatlicher Ebene und nur durch
Zusammenarbeit gestalten – müssen diese
Politik aber hinterher in
nationalen Wahlkämpfen
verteidigen, in denen in
Wirklichkeit immer weniger zur
Entscheidung
steht.
Den
Parteien an den politischen Rändern verschafft
dies einen doppelten Vorteil.
Zum einen
können sie sich
im Wahlkampf als
die einzige „echte“
Alternative präsentieren,
während
die Parteien der Mitte ihre
Unterschiede kaum ausleben können.
Und zum
anderen bietet ihnen die unzureichende demokratische Legitimität der
überstaatlichen Institutionen ein Einfallstor, um den
Liberalisierungskurs als eine
„Fremdherrschaft“ supranationaler
Eliten
anzugreifen, gegen die „das
Volk“ die Kontrolle
zurückgewinnen
müsse. Dieses
Argument, das insbesondere
auch die Brexit-Befürworter sehr erfolgreich eingesetzt haben,
ist der Kern des
Nationalpopulismus.
9.
Linker und rechter Nationalpopulismus
Nationalpopulistische
Strategien können sowohl von rechts als auch von links eingesetzt
werden. Linker Nationalpopulismus wendet
sich etwa gegen das „internationale Finanzkapital“, das
die politischen Eliten beeinflusse,
und fordert eine Rückkehr zu
nationaler Sozialstaatlichkeit. Rechter
Nationalpopulismus stellt
dagegen die Zuwanderung in
den Mittelpunkt und greift
Migranten sowie die
politischen Eliten, die Migration zulassen,
an.
Obwohl
linker Nationalpopulismus in
einzelnen Ländern durchaus eine relevante Rolle spielt, ist
der rechte Nationalpopulismus insgesamt
deutlich erfolgreicher. Eine
Erklärung dafür ist, dass
die Linke historisch
eher internationalistisch
orientiert war; selbst
in Linksaußenparteien ist die Vorstellung einer nationalen
Abschottung deshalb in aller Regel umstritten. Rechtspopulisten
fällt der Bezug
auf das nationale „Eigene“ hingegen
leichter, sodass
ihre Globalisierungsfeindlichkeit
kohärenter und glaubwürdiger wirkt.
10.
Fallen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalpopulismus
Wenn
die Parteien der Mitte den Nationalpopulisten entgegentreten, müssen
sie vor allem zwei Fallen vermeiden. Die erste besteht darin, den
Populisten einfach zu folgen und ihre
globalisierungsfeindlichen
Forderungen selbst zu
übernehmen. Denn
dadurch könnte es
ihnen zwar vielleicht
gelingen, einige
Wähler der neuen Parteien
zurückzuerobern:
Seitdem
sich zum Beispiel die
britischen Tories (AKRE) mit
dem Gedanken eines harten Brexit angefreundet haben, konnten
sie die
UKIP (ADDE) in Umfragen
etwas zurückdrängen.
Nur müssen sie dafür
nun auch deren
Programm umsetzen, und für
die Gesellschaft ist nichts gewonnen.
Die
zweite Falle wiederum besteht
darin, zu sehr auf die
Beharrungskraft des Status quo zu setzen
und darauf zu vertrauen, dass
die Errungenschaften von
Liberalisierung und Globalisierung rechtlich
schon so fest
verankert sind und ein
Abrücken von ihnen
mit so
großen
Problemen verbunden wäre,
dass kein
rational handelnder Akteur sich dafür entscheiden wird.
Denn all das mag
zwar stimmen.
Aber das Brexit-Referendum
und die Wahl Donald Trumps sollten deutlich gemacht haben, dass
Rationalität allein gegen
die Nationalpopulisten keine
Sicherheit mehr gibt.
11.
Überstaatliche Institutionen demokratisieren
Um
zu gewinnen, müssen die
Parteien der Mitte die
demokratische Auseinandersetzung annehmen: Sie
müssen akzeptieren, dass
die wirtschaftliche und
kulturelle Liberalisierung der letzten Jahre in Frage gestellt
wird,
sie müssen sie verteidigen, wenn sie wirklich daran glauben,
und sie müssen hoffen, mit ihren Argumenten eine
Mehrheit zu gewinnen.
Gleichzeitig
aber müssen die Parteien der
Mitte daran arbeiten, die
institutionellen Rahmenbedingungen zu überwinden, aus
denen die Nationalpopulisten ihre derzeitigen strukturellen Vorteile
beziehen. Und das
bedeutet in erster Linie, die
überstaatlichen Institutionen zu demokratisieren. Nur
so lässt sich dem populistischen Vorwurf der „Fremdherrschaft“
wirksam entgegentreten – und nur so können
die Parteien der Mitte den
Handlungsspielraum zurückgewinnen,
den sie auf nationaler Ebene
verloren haben.
Die
Technische Universität Dresden organisiert in diesem Semester eine
Veranstaltungsreihe
über den britischen EU-Austritt. Den Abschluss dieser
Reihe bildet am 2. Februar eine öffentliche Podiumsdiskussion unter dem Titel
„Die spinnen, die Briten – und wir?“, bei der der Dresdner
Soziologe Tino Heim und ich über Europaskepsis und
Nationalpopulismus auch jenseits des Brexit sprechen werden. Los geht es um 19 Uhr in der Marché
Lounge am Dresdner Hauptbahnhof. Weitere Informationen dazu hier.
|
Bilder: jojo [CC BY-ND 2.0], via Flickr; DBG Dresden.
Man kann sich auch fragen, ob eine politische Mitte, deren Parteien sich nur noch marginal unterscheiden, 3 oder 4 Parteien benötigt oder ob es nicht erstrebenswert wäre, wenn sich die Anzahl auf höchstens 2 reduzieren würde. (Potenzielle FDP-Wähler könnten als erste dazu beitragen, hüstel :-)
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