Der deutsch-französische Motor ermöglichte viele wichtige Durchbrüche in der Entwicklung der EU, doch in den letzten Jahren scheint er etwas an Zugkraft verloren zu haben. Kann ein neuer Élysée-Vertrag die Partnerschaft wiederbeleben? In einer Serie von Gastartikeln antworten Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und
Wissenschaft hier auf die Frage, welche Rolle die deutsch-französische Zusammenarbeit in der EU künftig spielen kann. Heute: Sabine Thillaye. (Zum Anfang der Serie.)
- „Ein gemeinsam handelndes deutsch-französisches Tandem kann eine tiefgreifende und nachhaltige Reform der Europäischen Union anregen.“
Die
Europäische Union hat in den letzten Jahren mit der Finanz- und
Währungskrise eine ihrer härtesten Bewährungsproben durchlaufen.
Diese Krise scheint überstanden, doch die Probleme werden angesichts
stetig wachsender Zustimmung für populistische und nationalistische
Stimmen, der Abwendung einzelner Mitgliedstaaten von europäischen
Werte- und Rechtsstandards und des Austritts Großbritanniens nicht
geringer. Offensichtlich ist die Europäische Union in ihrer heutigen
Form für bedeutende Teile der europäischen Bürger kein
überzeugendes Angebot mehr. Das Zeitfenster für die Reformen, die
diesen Trend umkehren können, ist eng. Noch vor den Europawahlen
2019 sollten wir erste Bausteine für eine erneuerte Europäische
Union setzen.
Unterschiede als Trumpf
Eine
gemeinsame deutsch-französische Initiative ist hierfür
unverzichtbar. Der neue Elysée-Vertrag, den unsere beiden Länder
schließen wollen, ist ein deutliches Bekenntnis. Für eine
Neuordnung der EU reicht dieser jedoch nicht. Eine Reform muss im
Konsens und Dialog mit allen Mitgliedstaaten vorangebracht werden.
Die
Geschichte der EU hat uns aber gezeigt, dass der deutsch-französische
Motor als Initiator und Clearing-Stelle fungieren kann. Unsere
unterschiedlichen Ansichten dürfen wir dabei nicht als Hindernis
begreifen, sondern als Trumpf. Eine aktive, transparente und ehrliche
Diskussion unserer unterschiedlichen Vorschläge werden uns zu einem
konstruktiven Ergebnis bringen.
Bilaterale
Projekte mit europäischem Potenzial
Wir
laden alle europäischen Partner ein, sich an unserer Diskussion über
die Zukunft der Europäischen Union zu beteiligen. Genauso laden wir
alle Staaten dazu ein, sich an unseren bilateralen
Kooperationsprojekten zu beteiligen, für die sich unsere beiden
Parlamente in der gemeinsamen
Erklärung vom 22. Januar 2018
ausgesprochen haben.
Unsere
beiden Länder wollen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit weiter
verstärken und hierfür unter anderem:
- die Entscheidungskompetenzen der Eurodistrikte erweitern und so den Grenzregionen ermöglichen, eigene Projekte unbürokratisch und effizient umzusetzen.
- eine einheitlichen deutsch-französischen Markt durch die Harmonisierung von Regeln und den Abbau von bürokratischen Hürden schaffen.
- vergleichbare Sozialstandards schaffen und die europäische Säule sozialer Rechte umsetzen.
- Impulse für eine Digitalunion setzen, die die Grundrechte der Bürger auch in einer digitalen Gesellschaft schützt, Wege für eine gerechte Besteuerung aller Unternehmen findet und ein führender Akteur im Innovationsbereich wird.
Jedes
einzelne dieser Projekte verbessert das Leben unserer Bürger im
Alltag und verstärkt die Bindung zwischen unseren beiden Nationen.
Die Teilnahme anderer Nachbarstaaten an den Projekten ist dabei
wünschenswert. Bilaterale Projekte können so im Bestfall sukzessive
zu gesamteuropäischen Instrumenten wachsen. Erprobte Erfolge in
Einzelstaaten können skeptische Mitgliedstaaten überzeugen und
ihnen die Angst vor
weiterer Integration nehmen. Eine solche Bottom-up-Dynamik in
Ergänzung zu konzertierten Initiativen der Kommission oder des
Europäischen Rates nimmt auch den Wind aus den Segeln derer, die der
EU den Sinn für Demokratie, Diskurs und der Kritikfähigkeit
absprechen.
Eine
konstruktive Debatte über die Zukunft Europas
Diese
bilateralen Projekte dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen,
dass wir für die Europäische Union einen langfristigen Kompass
brauchen. Einzelkompromisse und Teilreformen bleiben in der Summe
Flickwerk, wenn das Endziel unbestimmt bleibt. Das Weißbuch
der EU von 2017, in dem Kommissionspräsident Juncker mögliche
Entwicklungsszenarien für die EU vorstellt,
war ein wertvoller Beitrag zur Richtungsdebatte innerhalb der EU und
hat verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt: Soll die EU
sich auf ihre Aufgabe als Binnenmarkt beschränken? Sollte sie zu
einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten werden? Sich auf
weniger Politikbereiche konzentrieren und so effizienteres Handeln
garantieren? Oder sollte am Ende unserer Bemühungen doch ein
föderales Europa mit einer gestärkten Euro-Zone im Kern stehen?
Eine
konsensfähige Antwort auf diese Frage wird sich nur aus einer
konstruktiven Debatte ergeben können. Eine solche Debatte wiederum
kann nur dann entstehen, wenn gesellschaftliche und politische
Akteure den Mut aufbringen, sich zu positionieren und offen den
Austausch suchen.
Frankreich
hat sich positioniert
Nach
langer Zeit der Abwesenheit auf der Bühne der Europäischen Union
hat Frankreichs neues Staatsoberhaupt diese Notwendigkeit erkannt.
Präsident Emmanuel Macron hat mit seiner Sorbonne-Rede
die Prioritäten beschrieben, die Frankreich für die Entwicklung der
EU in der nahen Zukunft hat. Angestrebt werden sollen demzufolge:
- ein souveränes Europa, das
- Sicherheit in allen Dimensionen gewährleistet,
- für die Herausforderungen der Migration gewappnet ist,
- seine Partner im Mittelmeerraum und in Afrika stützt,
- ein Vorbild für nachhaltige Entwicklung ist,
- mit Innovation und Regulierung den Herausforderungen der digitalen Welt gewachsen ist und
- eine Wirtschafts- und Währungsmacht bleibt: stark genug, um der wachsenden Konkurrenz anderer aufstrebender Kräfte zu trotzen.
- ein geeintes Europa
- durch eine konkrete Solidarität,
- soziale und steuerliche Konvergenz
- und die Schaffung eines Zugehörigkeitsgefühls durch den Austausch von Kultur und Wissen.
- ein demokratisches Europa, indem wir
- die europäische Bevölkerung in Form einer europaweiten Bürgerbefragung in die Debatte einbinden und
- europaweite Listen für die Wahl des Europäischen Parlaments einführen.
Die
Debatte zeigt Wirkung
Wie
groß die Wirkung solcher klar geäußerten Positionen sein kann,
zeigen die Entwicklungen, die auf Macrons Rede folgten. Die Ständige
Strukturierte Zusammenarbeit wurde im Dezember von
25 der 27 zukünftigen Mitgliedstaaten beschlossen.
Die europaweiten Bürgerbefragungen werden ab März in 26 der 27
Mitgliedstaaten stattfinden.
Die
transnationalen Listen hingegen wurden im Februar vom Europäischen
Parlament abgelehnt. Zwar bin ich immer noch der Überzeugung, dass
diese europäischen Listen ein wichtiger Schritt für ein
demokratisches Europa gewesen wären, doch auch Niederlagen liegen in
der Natur des Diskurses und sind Bedingung dafür, ein austariertes
Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Positionen zu erreichen.
Lasst
uns Europa voranbringen!
Wenn
man die Fortschritte des letzten Jahres betrachtet und dabei bedenkt,
dass die Bundesrepublik seit September während eines Zeitraumes von
fünf Monaten auf eine neue Regierung gewartet hat, so bin ich sehr
zuversichtlich, dass ein gemeinsam handelndes deutsch-französisches
Tandem eine tiefgreifende und nachhaltige Reform der Europäischen
Union anregen kann. Ich appelliere also an die neue Bundesregierung
und an alle anderen Regierungen der Europäischen Union:
Lasst
uns die Europäische Union neu denken! Lasst uns streiten! Und lasst
uns Europa voranbringen!
Sabine Thillaye ist Vorsitzende des Ausschusses für Europaangelegenheiten der französischen Assemblée Nationale.
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Die Zukunft des „deutsch-französischen Motors“ in der EU
1: Serienauftakt
2: Deutschland und Frankreich: Gemeinsam in die Zukunft ● Christophe Arend
3: Raus aus der Komfortzone: Deutschland und Frankreich in der Pflicht ● Claire Demesmay
4: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (1) ● Stefan Seidendorf
5: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (2) ● Stefan Seidendorf
6: Europa neu denken: Wir brauchen einen deutsch-französischen Impuls für die europäische Erneuerung ● Sabine Thillaye
7: Die deutsch-französische Allianz ist nichts Unvergleichliches ● Christel Zunneberg [DE | EN]
1: Serienauftakt
2: Deutschland und Frankreich: Gemeinsam in die Zukunft ● Christophe Arend
3: Raus aus der Komfortzone: Deutschland und Frankreich in der Pflicht ● Claire Demesmay
4: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (1) ● Stefan Seidendorf
5: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (2) ● Stefan Seidendorf
6: Europa neu denken: Wir brauchen einen deutsch-französischen Impuls für die europäische Erneuerung ● Sabine Thillaye
7: Die deutsch-französische Allianz ist nichts Unvergleichliches ● Christel Zunneberg [DE | EN]
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