- „Da es an politisch-strategischer Vogelperspektive fehlt, fehlt es auch an sichtbaren Pfaden der verantworteten Entscheidung.“
Nein, E-Fuel ist nicht Glyphosat. Volker Wissing ist auch nicht Christian Schmidt. Aber beide trugen bzw. tragen dazu bei, dass Deutschland in unterschiedlichen Gesetzgebungsverfahren ein verheerend uneinheitliches Bild bei den europäischen Partnern abgibt – wissend oder unwissend, gewollt oder ungewollt. Beide entschieden als Fachminister im Rat der EU, welche Position Deutschland im EU-Gesetzgebungsverfahren, obwohl eine Mehrheit sowohl in der Bundesregierung als auch in der EU anders aussah. Aber das Problem sind nicht so sehr einzelne Minister oder durchaus legitime Partikular- oder Parteiinteressen. Es ist ein Fehler im deutschen System, das seit vielen Jahren Alleingänge, Intransparenz und Missgunst ermöglicht, ja verursacht.
Ministerielle Alleingänge
So dreist wie einst Schmidt ist bisher kaum jemand in einer deutschen Bundesregierung vorgegangen. Als der ehemalige CSU-Landwirtschaftsminister 2017 in Brüssel für die Zulassung des Unkrautvernichters Glyphosat stimmte, geschah das ohne die Koalitionspartnerin SPD, ohne Weisung des CDU-geführten Wirtschaftsministeriums und augenscheinlich auch ohne Wissen der Kanzlerin. Schlimmer noch, sein wirkmächtiges Handeln in Brüssel war möglich, obwohl es gegen die Geschäftsordnung und Weisungslage der Regierung geschah. Konsequenzen gab es für den Minister nicht, der schlicht zuließ, dass sein Ministerium im Alleingang für ganz Deutschland handelte und ein europäisches Gesetz entscheidend beeinflusste.
Der nun aktuell sehr diskutierte vorläufige Stopp der längst beschlossen geglaubten EU-Gesetzgebung zum Verbrenner-Aus ab 2035 ist in der machiavellistischen Ruchlosigkeit weit weniger brisant als Schmidts Glyphosat-Coup. Aber es sind systemische Parallelen vorhanden. Denn eine antiquierte deutsche Europakoordinierung macht bis heute Handeln möglich, das die Glaubwürdigkeit der deutschen Europapolitik untergräbt.
Brüsseler Entscheidungen folgen nicht Berliner Wahrnehmungslogik
Um es deutlich zu machen: Die Positionierung des deutschen Verkehrsressorts in dieser (freilich für viele wichtigen) Detailfrage in einem großen und bedeutenden Klimapaket war längst bekannt. Allerdings funktionieren Brüsseler Entscheidungsprozesse anders als die Berliner Wahrnehmungslogik. Während in der deutschen Hauptstadtpresse über parteipolitische Einzelpositionen gerne berichtet wird, bleiben die Triloge zwischen Kommission, Parlament und Rat unter dem medialen Radar.
Kaum bekannt ist in der deutschen Öffentlichkeit deshalb der allgemein in Brüssel übliche Mechanismus, im Lauf der Verhandlungen durch Kompromisse „A-Punkte“ zu setzen, die in den weiteren Abstimmungen lediglich formell abgesegnet werden. Dass Deutschland eine solche Einigung im letzten Moment in Frage stellt, um zusätzliche Zugeständnisse zu fordern, ist eine Praxis, die man sonst eher Ungarn zutrauen würde. Hier liegt der aktuelle Grund für Unmut anderer Mitgliedstaaten, die zunehmend von einem „Vertrauensbruch“ der deutschen Europapolitik sprechen.
„German Vote“
Grundsätzlich werden Entscheidungen im Rat der EU nicht erst in der finalen Abstimmung getroffen, sondern zuvor in langen Verhandlungen mit vielen Teilentscheidungen vorbereitet. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Ständige Vertretung (vulgo „EU-Botschaft“) der Bundesrepublik in Brüssel. Die Ständige Vertretung entscheidet aber natürlich nicht allein, sondern ist auf schnelle Weisungen aus Berlin angewiesen. Bleibt eine solche Weisung aus, muss sich Deutschland enthalten – was in der Praxis so häufig passiert, dass sich dafür in Brüssel der Ausdruck „German Vote“ eingebürgert hat.
Wie eine Enthaltung auf die Entscheidung wirkt, ist von dem jeweiligen Verfahren im Rat abhängig. Ist Einstimmigkeit verlangt, wirkt die Enthaltung wie Zustimmung. Entscheidet der Rat hingegen mit qualifizierter Mehrheit, ist sie ein verstecktes Nein. Und qualifizierte Mehrheit ist mittlerweile der Standard in wichtigen Entscheidungen, zum Beispiel in der Wirtschafts-, Umwelt- und Verbraucherpolitik.
Dysfunktionale Europakoordinierung
Eine wirksame Koordinierung der nationalen Europapolitik wäre also notwendig, um sich in Brüssel sinnvoll an Entscheidungen zu beteiligen und unbeabsichtigte Enthaltungen oder ministerielle Alleingänge zu vermeiden. Die deutsche EU-Koordinierung ist jedoch bis heute dysfunktional. Wann wie welche Diskussionen zwischen dem Kanzleramt, den Ministerien, der Ständigen Vertretung, den vielen Staatskanzleien und dem Kommissions-Hauptgebäude Berlaymont stattfinden, dürfte bis heute selbst ein gut ausgestattetes Team von investigativen Journalist:innen überfordern. Da es an politisch-strategischer Vogelperspektive fehlt, fehlt es auch an sichtbaren Pfaden der verantworteten Entscheidung.
Tatsächlich ist die Verwirrung in der deutschen Europakoordinierung so groß, dass sich kaum jemand an das Thema wagt. Wissenschaftliche Forschungsarbeiten oder gar -projekte fehlen weitgehend oder sind noch immer auf dem Stand der Zeit vor dem Vertrag von Lissabon 2009. Ebenso behandeln Thinktanks und Forschungsinstitute die Europakoordinierung kaum.
Wirtschaftsministerium, Auswärtiges Amt …
Klar ist: Die deutsche Europakoordinierung ist schubweise und ohne Masterplan entstanden. In den Anfängen der europäischen Einigung waren zwei Stellen bestimmend: einerseits das Bundeswirtschaftsministerium, andererseits das Bundeskanzleramt bzw. ab 1955 das daraus ausgegründete Auswärtige Amt. Während das Wirtschaftsministerium den Koordinierungsanspruch für Fragen der Binnenmarktintegration beanspruchte, zielte das Auswärtige Amt auf die Koordinierung der weiterreichenden Integrationsziele der Europapolitik ab.
Mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 wurde diese Zweiteilung stärker strukturiert: Bei Themen, die in Brüssel im Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) I behandelt werden, werden Weisungen an die Ständige Vertretung vom Wirtschaftsministerium erteilt. Dazu gehören der Binnenmarkt und davon beeinflusste Bereiche, zum Beispiel Verbraucherschutz, Verkehr, Energie, Umwelt oder Bildung. Themen des AStV II unterliegen hingegen im Wesentlichen der Weisung des Auswärtigen Amts. Der AStV II behandelt Allgemeine und Auswärtige Angelegenheiten, aber auch Wirtschaft und Finanzen (inklusive EU-Haushalt), Justiz und Inneres. Beide Häuser doppeln sich durch thematische Spiegelreferate.
… Finanzministerium, Kanzleramt
Hinzu kommt das Bundesfinanzministerium, das seit den Zeiten Oskar Lafontaines dem Koordinierungsanspruch von Auswärtigem Amt und Wirtschaftsministerium nacheifert und ebenfalls eine große Europaabteilung aufgebaut hat. Im Bereich Wirtschaft und Finanzen erteilt das Finanzministerium seine Weisungen heute direkt an die Ständige Vertretung.
Das Kanzleramt wiederum ist grundsätzlich natürlich einer der mächtigsten Akteure innerhalb der Bundesregierung – schon allein aufgrund der Richtlinienkompetenz in Art. 65 GG. In der europapolitischen Koordinierung hat es jedoch (anders als viele glauben) keine formelle weisende Rolle. Entscheidend in der Eskalationshierarchie der Ministerien sind die drei weisenden Ministerien, denen die unterschiedlichen weiteren Fachressorts nachgeordnet sind.
Die Ampel gelobt vergeblich Besserung
Bis heute hat sich an dieser barocken Entscheidungsstruktur nichts geändert. Die Ampelkoalition hat zwar im Koalitionsvertrag Besserung gelobt. In der Realität sind die Probleme aber noch größer geworden – sei es, weil es erstmals eine echte Dreierkoalition auf Bundesebene gibt, sei es, weil die EU-Gesetzgebung nicht nur im Klimaschutz enorm komplexe ressortübergreifende Fragen aufwirft, die zu Konflikten zwischen den verschiedenen Fachministerien führen können.
Die letzte Fachinstanz der europapolitischen Koordinierung bilden relativ unbemerkt vier (übrigens derzeit allesamt männliche) beamtete Staatssekretäre aus Auswärtigem Amt, Wirtschafts- und Finanzministerium sowie Kanzleramt. Eine (partei-)politische koordinierende Verantwortung gibt es nicht. Scheitert eine Einigung, ist politisch wie schon zu Christian Schmidts Zeiten keine Minister:in und keine Kanzler:in verantwortlich, mit großer Auswirkung für unsere Demokratie.
Auf Fachebene werden klare politische Vorgaben gewünscht
Auf Fachebene der Ministerien ist das Bemühen um eine „stringentere Koordinierung“ laut Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung durchaus gegeben. Dies zeigte Ende Januar eine Tagung von Table.Media, bei der sich bemerkenswerterweise alle koordinierenden Abteilungen plus Kanzleramt einem Fachpublikum aus Diplomatie, Interessengruppen und Medien stellten. Einzelerfolge wurden benannt, aber zwischen den Zeilen wurde klar, dass man froh sei, wenn man überhaupt eine Positionierung erlangen könne. Von strategischer Ausrichtung oder gar Networking bei Interessenträger:innen (alles professionelles Handwerk im politischen und lobbyistischen Geschäft) wurde wenig gesprochen. Sehr wohl sprach man davon, dass man klare Vorgaben aus der Politik brauche, um koordinieren zu können.
Wie sehr die Berliner Europakoordinierung politisch ist und in der Realität gerade auf dieser Ebene ins Leere läuft, zeigte schon Anfang Januar der deutsche Ständige Vertreter bei der EU auf. In einem ungewöhnlichen internen Drahtbericht aus Brüssel mahnte er an, dass Berlin endlich „frühzeitig koordinieren, positionieren und mitgestalten“ solle. Der wichtigste Mann der Bundesregierung in Brüssel bettelte förmlich nach klaren Weisungen aus Berlin.
Das Schweigen des Kanzleramts
Aber warum scheitert die deutsche Europakoordinierung auf politischer Ebene so oft? Eine zentrale Rolle spielt hier das Schweigen des Kanzleramts. Dem Vernehmen nach waren etwa bei der Erstellung der „Prager Rede“ des Kanzlers weder andere Häuser noch die Ampelfraktionen eingebunden. Umgekehrt werden die drei Europaministerien vordergründig wenig mit Richtlinien aus dem Kanzleramt behelligt.
Selbst wenn das Kanzleramt mehr wollte, es könnte gar nicht. Denn der Kreis seiner Fachbeamt:innen ist relativ klein. Dass das Kanzleramt de facto kaum koordiniert, hat zudem auch verfassungsrechtliche Gründe: Das Ressortprinzip verhindert eine stringentere Führung. Machtpolitisch wiederum verfolgt das Kanzleramt spätestens seit Angela Merkels Zeiten die Strategie, Erfolge deutscher Europapolitik medial für sich zu reklamieren, bei Nichtgelingen von Einflussnahme in Brüssel aber lieber nicht verantwortlich zu sein. Eine strategische Ausrichtung wird so natürlich mehr als erschwert.
Parteipolitisch verliert das Kanzleramt Einfluss
Hinzu kommt in der Ampel-Koalition, dass keines der drei „Europaministerien“ die Parteifarbe des Kanzlers trägt. Angela Merkel hatte noch das Wirtschaftsministerium hinter sich; zudem lag in Brüssel die Kommissionspräsidentschaft in der Hand ihrer Partei, und im Europäischen Parlament war die deutsche CDU/CSU-Gruppe ungleich größer als heute die SPD-Gruppe. Olaf Scholz kann auf all diese Vorteile nicht mehr zurückgreifen.
Die Anschlussfähigkeit und damit die Fähigkeit des Kanzleramtes, seine wenigen Möglichkeiten der Europakoordinierung zu nutzen, nimmt unter diesen parteipolitischen Vorzeichen ab – und zwar nicht erst dann, wenn sich wie in der E-Fuel-Debatte eine kleinere Koalitionspartnerin in der nationalen Medienlandschaft profilieren möchte.
Forderungen der Europäischen Bewegung Deutschland
Deutsche Europakoordinierung ist somit kein technisches Thema, wie es bemühte Beteiligte in der Beamtenschaft, aber auch die Hauptstadtpresse immer wieder gerne betonen. Deutsche Europakoordinierung ist vielmehr Grundvoraussetzung für das Gelingen einer strategischen deutschen Europapolitik.
Deshalb hat die Europäische Bewegung Deutschland anlässlich der Bundestagswahl 2021 von allen potenziellen Koalitionspartnerinnen gefordert, dass es eine Koordinierungsstelle an zentraler Stelle geben muss, die politisch geleitet und verantwortet wird, am besten von einer Bundesminister:in. Hier sollten nicht nur die Ressortinteressen frühzeitig und strategisch gebündelt, sondern auch strategisches Regierungshandeln zum Wohle Deutschlands und Europas ermöglicht und verantwortet werden.
Schnelle mediale Siege auf Kosten der gemeinsamen Linie verhindern
Diese politische Führung muss nicht allein verantwortlich sein für die Inhalte der Politik. Ihre Aufgabe wäre vielmehr, dass sich alle Häuser und Koalitionsparteien rechtzeitig und frühzeitig positionieren und verantwortlich zeigen. Fachministerien, egal welcher Farbe, müssen sich in der Bundesregierung frühzeitig abstimmen, um dann in der europäischen Gesetzgebung Gesamtverantwortung übernehmen zu können.
Den unterschiedlichen Koalitionspartnerinnen, insbesondere der jeweiligen Kanzlerpartei, muss es möglichst schwer gemacht werden, vor ihrer Wählerschaft schnelle mediale Siege auf Kosten der gemeinsamen europapolitischen Linie einzufahren. Die deutsche und europäische Öffentlichkeit muss wissen, wer beim kurzfristigen Ausscheren in Gänze dem grundgesetzlichen Staatsziel eines vereinten Europas schadet.
Bernd Hüttemann lehrt Lobbyismus im Mehrebenensystem der EU an der Universität Passau und ist Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland e.V. |
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