28 März 2023

Schon viel zu berichten, aber auch noch ein weiter Weg voraus: Die Krise der Rechtsstaatlichkeit in der EU

Von László Detre
Buildings of the European Court of Justice
„Bei der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit hat der Europäische Gerichtshof den Ruf des ‚last man standing‘. Aber allein kann er die Welt nicht verändern.“

In Artikel 2 des EU-Vertrags (EUV) ist die Rechtsstaatlichkeit als einer der Grundwerte der Europäischen Union verankert, der allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist – oder sein sollte. Die theoretische Debatte über die Rechtsstaatlichkeit wird bereits seit langem geführt. Und auch wenn einige Politiker:innen dies in Frage stellen, besteht in Europa ein Konsens über die  Kernelemente und die Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips, obwohl sich dessen Ausprägungen im Einzelnen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheiden können.

Dass es diesen Konsens gibt, ist nicht verwunderlich, denn die Rechtsstaatlichkeit beruht überall auf einer grundlegenden Prämisse: der Beschränkung aller öffentlichen Gewalten durch das Recht. Zusammen mit der Demokratie und dem Schutz der Grundrechte bildet sie den Kern der liberalen Demokratie und garantiert die tatsächliche Ausübung individueller Freiheiten. Zu ihren Bedingungen gehören die Qualität der Gesetze, die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz, die all dies zu gewährleisten hat.

Eine Angelegenheit für die gesamte EU

In der EU ist die Rechtsstaatlichkeit eine Grundvoraussetzung des Rechts- und Institutionensystems: Sie berührt die europäische Identität und gewährleistet das auf gegenseitigem Vertrauen basierende Tagesgeschäft. Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU ist daher eine Angelegenheit, die alle angeht, und es gibt zahlreiche Gründe dafür, Rechtsstaatsprobleme, die in einem Mitgliedstaat auftreten, als ein Problem der gesamten EU zu betrachten.

Der Verfall der Rechtsstaatlichkeit hält in einigen Mitgliedstaaten schon seit einiger Zeit an. Er hat den politischen Diskurs und einige zentrale rechtliche Entwicklungen auf EU-Ebene maßgeblich geprägt und könnte auch die Zukunft der europäischen Integration bestimmen. Dieser Artikel beschreibt die bisherigen Maßnahmen, um diese Situation zu bewältigen, und gibt einen Ausblick auf die möglichen nächsten Schritte.

Was ist bisher geschehen?

Die Menge an akademischer Forschung, politischer Diskussion und öffentlicher Debatte über die Rechtsstaatlichkeit in Europa ist enorm, und die breitere Literatur scheint schier endlos zu sein. In der Regel wird die Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit auf zwei miteinander verflochtenen Ebenen geführt.

Auf der ersten Ebene wird der Begriff in einem breiteren, allgemeinen Sinne verwendet und bezieht sich auf einen Zustand, der dem Geist, den Instrumenten und den Institutionen einer liberalen Demokratie entspricht. Auf der zweiten, juristisch-doktrinären Ebene werden spezifischere Fragen behandelt. Während letztere Ebene – zumindest in den liberalen Demokratien – unter erstere subsumiert wird, zieht sich der Grundgedanke durch alle Diskussionen zu diesem Thema. Innerhalb der EU lassen sich beide Argumentationsebenen beobachten.

Ein Ende der gegenwärtigen Rechtsstaatlichkeitskrise in der EU, die vor allem von den zwei Mitgliedstaaten Ungarn und Polen verursacht wurde, ist nicht in Sicht. Auf einer allgemeineren Ebene wird das Konzept der liberalen Demokratie durch den Aufstieg des Illiberalismus offen in Frage gestellt. Auf der konkreten, juristischen Ebene wurden die doktrinär bewerteten Teilprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz, systematisch verletzt. Dies wiederum ist zweifellos eine Angelegenheit von europäischem Interesse, da die nationalen Gerichte auch als EU-Gerichte fungieren und für die einheitliche Auslegung und Durchsetzung des EU-Rechts zuständig sind.

Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit nach Artikel 2 EUV

Aus rechtlicher Sicht konzentriert sich die Rechtsstaatsdebatte in der EU auf den bereits erwähnten Art. 2 EUV. Eine Zeit lang wurde sogar in Frage gestellt, ob Art. 2 überhaupt als Gesetz angesehen werden kann. Zudem wurde, ebenfalls für lange Zeit und sogar innerhalb der EU selbst, argumentiert, dass die EU Probleme bei der Einhaltung von Art. 2 EUV nur im Rahmen des Verfahrens nach Art. 7 EUV behandeln könne. Heute ist Art. 2 EUV für die EU hingegen von zentraler Bedeutung. Sein Anwendungsbereich ist – im Gegensatz zu anderen Bestimmungen der Verträge – nicht begrenzt, so dass alle nationalen Maßnahmen mit ihm vereinbar sein müssen. Die zentrale Frage im EU-Recht ist jedoch, wie das zu erreichen ist.

Da alle EU-Maßnahmen auf den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beruhen, muss sich die EU für ihr Vorgehen sehr genau rechtfertigen, um den Vorwurf zu vermeiden, dass sie außerhalb ihrer Kompetenzen handelt. Dennoch hat sich das Rechtsstaats-Instrumentarium der EU – sowohl das der politischen Organe als auch das des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) – in den letzten zehn Jahren erheblich erweitert. Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht auf alle Elemente eingegangen, sondern nur ein kurzer Überblick gegeben werden.

Politische Instrumente zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit

Die politischen Instrumente sind in der Regel evaluativ, wie die Jahresberichte zur Rechtsstaatlichkeit, und/oder dialogorientiert, wie der „Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“. Diese Instrumente sind eher zahnlos. Die EU verfügt jedoch auch über einige Mittel, mit denen sie politischen Druck auf einen Mitgliedstaat ausüben kann. Zwei Beispiele sollen hier vorgestellt werden.

Erstens gibt es die bereits erwähnten Verfahren nach Art. 7, die ursprünglich für Situationen wie die Rechtsstaatlichkeitskrise gedacht waren. Sie ermöglichen es der EU, genauer gesagt dem Rat, gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat naming and shaming zu betreiben, wenn die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 festgelegten Werte besteht (das sogenannte Art.-7-Abs.-1-Verfahren), oder auch seine Rechte aus den Verträgen auszusetzen, wenn der Europäische Rat feststellt, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung vorliegt (Art.-7-Abs.-2-Verfahren). Theoretisch könnte die EU mit diesen Verfahren weitreichende Maßnahmen ergreifen. In der Praxis wurde bisher nur vor einigen Jahren das Verfahren mit den rhetorischen Folgen gegen Polen und Ungarn eingeleitet, ohne dass es etwas Wesentliches passiert ist.

Konditionalität: EU-Gelder als Hebel für die Rechtsstaatlichkeit

Zweitens gibt es einige relativ neue Instrumente: den sogenannten Konditionalitätsmechanismus sowie die Konditionalitätstechnik, die in die Regelungen zur Verteilung der wichtigsten EU-Mittel aufgenommen wurden. Der Konditionalitätsmechanismus sieht vor, dass die EU im Falle von Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, die den EU-Haushalt direkt bedrohen, bereits bewilligte Mittel aussetzen oder dem betreffenden Mitgliedstaat neue Mittelzusagen verweigern kann (im ersten Fall ist der Mitgliedstaat verpflichtet, die EU-Mittel aus seinem eigenen Haushalt zu ersetzen, um die Interessen der Endbegünstigten zu schützen).

Der Konditionalitätsmechanismus ist in erster Linie auf die Korruptionsbekämpfung ausgerichtet und verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem dazu, das ordnungsgemäße Funktionieren des öffentlichen Auftragswesens und der Finanzkontrollbehörden sicherzustellen. Allerdings können dafür auch Reformen des Justizwesens erforderlich sein.

In anderen Fällen müssen die Mitgliedstaaten sogenannte Meilensteine oder horizontale und thematische Voraussetzungen erfüllen, um Zugang zu EU-Mitteln zu erhalten. Im Falle Ungarns wurden beispielsweise weitreichende Rechtsstaatsreformen insbesondere im Justizwesen gefordert, bevor die Covid-19-Wiederaufbaumittel freigegeben werden können.

Die Verordnung über gemeinsame Bestimmungen, die mehrere spezifische EU-Instrumente wie den Kohäsionsfonds abdeckt, verlangt noch weitergehend, dass die finanzierten Projekte im Einklang mit der Charta der Grundrechte der EU stehen. Dies ermöglichte zum Beispiel die Anfechtung des Anti-LGBTQI-Gesetzes in Ungarn. In der Literatur wurden zwar Vorbehalte gegen den Einsatz dieser Konditionalitätstechnik geäußert. In einer Situation, in der der EU die Macht zur direkten Durchsetzung ihrer Werte fehlt, kann sie aber eine Möglichkeit sein, dennoch wichtige Rechtsstaatsziele zu erreichen.

Der gerichtliche Weg zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit

Eine zunehmend wichtige Rolle für den Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU haben in den letzten Jahren Verfahren vor dem EuGH gespielt. Es gibt zwei Möglichkeiten, einen Fall vor den EuGH zu bringen. Erstens kann die Kommission oder ein anderer Mitgliedstaat geltend machen, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus dem EU-Recht verstößt. Zweitens haben die nationalen Gerichte das Recht oder sogar die Pflicht, dem EuGH Fragen zur Auslegung des EU-Rechts vorzulegen. Steht das nationale Recht nicht im Einklang mit dem EU-Recht, darf das vorlegende Gericht dieses nationale Recht nicht anwenden – selbst wenn es sich um die Verfassung oder eine Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts handelt.

Während den politischen Akteuren der EU bisweilen vorgeworfen wird, nicht genug für den Schutz und die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit zu tun, hat der EuGH den Ruf des „last man standing“. Im Jahr 2018 fällte er ein höchst bedeutsames Urteil, in dem er feststellte, dass eine spezifische Bestimmung des EU-Vertrags – nämlich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein Gerichtssystem einzurichten, das wirksamen Rechtsschutz in den vom EU-Recht erfassten Bereichen bietet – ein konkreter Ausdruck von Art. 2 EUV, genauer gesagt der Rechtsstaatlichkeit, ist.

Damit wurde eine Brücke für die Anwendung von Art. 2 EUV geschaffen, die in der Literatur als „wechselseitige Verstärkung“ bezeichnet wird: Während die spezifische Bestimmung in den Verträgen den Inhalt der Verpflichtung festlegt, rechtfertigt Art. 2 EUV ihren Anwendungsbereich.

Dieses Urteil war ein großer Schritt in Richtung einer gerichtlichen Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit und ebnete den Weg für mehrere nachfolgende Urteile, insbesondere zum polnischen Justizsystem. Im Jahr 2022 fällte der EuGH zwei weitere Entscheidungen, in denen er das Konzept der „wechselseitigen Verstärkung“ im Grundsatz übernahm. Zudem fügte er hinzu, dass die EU sekundäres Recht erlassen kann, um die Werte des Art. 2 EUV, etwa die Rechtsstaatlichkeit, durchzusetzen, sofern dafür im Vertrag eine Rechtsgrundlage vorhanden ist.

Darüber hinaus leitete die Kommission wegen des oben genannten Anti-LGBTQI-Gesetzes ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein, bei dem sie sich unmittelbar auf einen Verstoß gegen Art. 2 EUV berief. Die Kommission knüpfte damit an eine Debatte in der Wissenschaft an, in der diese Möglichkeit lang diskutiert wurde. Sollte sich der EuGH dieser Auslegung anschließen, könnte dies einen Wendepunkt darstellen: Es würde bedeuten, dass Art. 2 EUV gegen jede nationale Maßnahme geltend gemacht werden kann, ohne dass weiteres EU-Recht hinzugezogen werden muss.

Wie geht es weiter?

Die EU ist oft dafür kritisiert worden, dass sie nicht genug für den Schutz der Rechtsstaatlichkeit tut. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die EU kein vollwertiger Bundesstaat ist und ihre institutionelle Struktur ihre Grenzen hat. Außerdem müssen die EU-Institutionen unterschiedliche Interessen unter einen Hut bringen: Der Rat vertritt die Mitgliedstaaten, die Kommission die EU, das Europäische Parlament die Völker.

Aus politischer oder soziologischer Sicht kann man mit Fug und Recht sagen, dass die Konstitutionalisierung – der absolute Respekt der gemeinsamen Werte wie der Rechtsstaatlichkeit durch alle Beteiligten – noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass sie alle anderen Erwägungen überlagern würde.

Der EuGH kann die Welt nicht allein verändern

In rechtlicher Hinsicht lassen sich zwei Feststellungen treffen. Erstens verfügen die EU-Institutionen nach den geltenden Verträgen bereits über weitreichende Befugnisse, um der Rechtsstaatlichkeitskrise entgegenzutreten. Eine institutionelle Reform könnte zur Überwindung der bestehenden Probleme beitragen, ist aber jedenfalls nicht die einzige Lösung.

Zweitens ist der EuGH aufgrund der Untätigkeit der politischen Organe der EU zur treibenden Kraft beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit geworden. Aber er allein kann die Welt nicht – vollständig – verändern. Die Rechtsprechung des EuGH könnte dazu führen, dass Art. 2 EUV als eigenständige Bestimmung betrachtet wird und ein Mitgliedstaat für alle nationalen Maßnahmen verklagt werden kann, die gegen die EU-Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Im Wesentlichen würde dies den EuGH in ein föderales Verfassungsgericht verwandeln.

Selbst wenn es dazu käme, lässt sich jedoch argumentieren, dass Art. 2 EUV nur in Ausnahmefällen in dieser Form angewendet werden sollte, etwa wenn der Kern der Grundrechte verletzt würde. Eine solche Einschränkung klingt annehmbar und praktikabel, lässt sich in den Verträgen jedoch nicht rechtlich garantieren. Allerdings wird der EuGH nur tätig, wenn ihm ein Fall vorgelegt wird. Zum Schutz der mitgliedstaatlichen Interessen sollten alle Beteiligten (die Kommission und andere Mitgliedstaaten) deshalb eine sorgfältige Bewertung vornehmen, bevor sie solche Verfahren einleiten.

Die Wahl zwischen drei Wegen

Alles in allem gibt es drei plus einen Weg, die die EU in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit von hier aus einschlagen könnte.

  • Im ersten Szenario überzeugen die europäischen Nationen ihre Staats- und Regierungschef:innen davon, innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens in den europäischen Institutionen eine entschiedenere Haltung zur Rechtsstaatlichkeit einzunehmen und die Mittel der EU zur Unterstützung des EuGH voll auszuschöpfen.
  • Das zweite, weniger wahrscheinliche Szenario ist, dass es zu Vertragsänderungen kommt, die von allen europäischen Völkern unterstützt werden und wahrscheinlich zu einer föderaleren EU führen, möglicherweise in Form einer differenzierten Integration mit verschiedenen Geschwindigkeiten.
  • Wenn sich die europäischen Nationen nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen können oder sich die Denkweise der politischen Akteure nicht ändert, kann es drittens notwendig werden, die Erwartungen an die EU entsprechend anzupassen. In diesem Fall kann es sein, dass die Rechtsstaatlichkeitskrise weiter andauert.

Die Plus-eins-Option schließlich liegt bei den betroffenen Mitgliedstaaten selbst: Ihre Bürger:innen könnten von den nationalen Institutionen fordern, die Rechtsstaatlichkeitsstandards der EU einzuhalten, der sie freiwillig und aus eigenem Entschluss beigetreten sind.


László Detre ist Legal Officer beim Hungarian Helsinki Committee in Budapest und Academic Advisor des re:constitution-Programms des Forums Transregionale Studien in Berlin.

Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“, der in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Regierungsforschung.de erscheint.


Übersetzung: Yannik Uhlenkotte.
Bilder: EuGH: Luxofluxo [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons; Portrait László Detre: Joanna Scheffel [alle Rechte vorbehalten]; EU-Flagge: Arno Mikkor (EU2017EE) [CC BY 2.0], via Flickr.

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