- Selbst von einem Erbmonarchen könnte der Europäische Rat noch etwas über parlamentarische Demokratie lernen.
Die spanische Regierung hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne, war in den letzten Wochen aber wegen eines ganz anderen Themas europaweit in den Schlagzeilen: Seit der nationalen Parlamentswahl am 23. Juli hat weder die amtierende Regierungskoalition aus dem sozialdemokratischen PSOE (SPE) und dem links-grünen Bündnis Sumar (EGP, EL) noch die konservativ-rechte Opposition aus PP (EVP) und Vox (EKR) eine Mehrheit im Parlament. Angesichts der starken Polarisierung zwischen den beiden größten Parteien PP und PSOE hat auch eine Große Koalition keine Chance. Stattdessen ringen beide Seiten um die Unterstützung kleiner regionalistischer Parteien – wobei ausgerechnet die katalanisch-separatistische Partei Junts das Zünglein an der Waage darstellt.
Am 22. August beauftragte das spanische Staatsoberhaupt, König Felipe VI., den PP-Vorsitzenden Alberto Feijóo als Spitzenkandidaten der stärksten Fraktion mit der Regierungsbildung. Am 27. September wird dieser sich nun einer Abstimmung im spanischen Parlament stellen. Scheitert er, kann der König eine andere Kandidat:in vorschlagen – aller Voraussicht nach wird dann der PSOE-Chef und bisherige Premierminister Pedro Sánchez zum Zug kommen. Wenn es zwei Monate nach der ersten Abstimmung keine neue Regierungschef:in gibt, wird das Parlament aufgelöst und neu gewählt.
Parallelen zum Spitzenkandidaten-Streit 2019
Wer die spanische Politik mitverfolgt, dem wird diese Situation nicht ganz unbekannt vorkommen: Schon nach der Wahl im April 2019 gab es eine ähnliche Blockade, die sich letztlich erst nach einer Neuwahl im November 2019 auflöste. Aber auch auf EU-Ebene gab es vor nicht allzu langer Zeit einen vergleichbaren Fall mit anderer Auflösung – und aus diesem Vergleich lässt sich einiges für die europäische Demokratie lernen.
Gemeint ist, natürlich, die Situation nach der Europawahl 2019. Auch damals kam es im Europäischen Parlament zu einer starken Polarisierung zwischen den beiden stärksten Fraktionen EVP und S&D, die die Suche nach einer neuen Kommissionspräsident:in blockierte. Mit Manfred Weber (CSU/EVP) hatte die EVP einen Spitzenkandidaten nominiert, der für die Sozialdemokrat:innen, aber auch die Liberalen nicht akzeptabel war. Umgekehrt war die EVP als stärkste Fraktion aber auch nicht bereit, die Kandidat:in einer anderen Partei als Kommissionschef:in zu wählen.
Das Parlament war blockiert – und wie in Spanien dem König fiel es in der EU dem Europäischen Rat als „kollektives Staatsoberhaupt“ zu, in dieser Situation einen Vorschlag für die Kommissionspräsidentschaft zu machen.
Ähnliche verfassungsrechtliche Ausgangslage
Interessanterweise war die verfassungsrechtliche Ausgangslage dabei sehr ähnlich. Laut Art. 17 (7) EUV schlägt der Europäische Rat
dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, so schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit einen neuen Kandidaten vor, für dessen Wahl das Europäische Parlament dasselbe Verfahren anwendet.
Ganz ähnlich heißt es in Art. 99 der spanischen Verfassung:
(1) Nach jeder Neuwahl des [Parlaments] […] schlägt der König nach Rücksprache mit den Repräsentanten, die von den im Parlament vertretenen politischen Fraktionen ernannt sind, über den Präsidenten des Kongresses einen Kandidaten für das Amt des Regierungspräsidenten vor. […]
(3) Wenn [das Parlament] diesem Kandidaten mit der absoluten Mehrheit der Mitglieder das Vertrauen ausspricht, ernennt der König ihn zum Regierungspräsidenten. […]
(4) Wenn nach Durchführung der erwähnten Abstimmungen das Vertrauen für die Investitur nicht ausgesprochen ist, so werden weitere Vorschläge in der in den vorhergehenden Absätzen vorgesehenen Form behandelt.
Der spanische König hat also wie der Europäische Rat ein unumgängliches Vorschlagsrecht: Er muss das Ergebnis der Wahl berücksichtigen und sich mit den Parteien absprechen – aber nur wer von ihm nominiert wird, kann hinterher vom Parlament zur Regierungschef:in gewählt werden. Der einzige Unterschied ist, dass es bei einer vollständigen Blockade in Spanien Neuwahlen gibt, während das Europäische Parlament nicht aufgelöst werden kann (sodass im Extremfall die alte Kommissionspräsident:in bis zur nächsten Europawahl geschäftsführend im Amt bliebe).
Während der Europäische Rat Druck machte …
Doch obwohl der spanische König und der Europäische Rat bei der Ernennung ihrer jeweiligen Exekutive dieselbe verfassungsmäßige Rolle haben, gingen sie damit in ganz unterschiedlicher Weise um.
Nach der Europawahl 2019 versuchten die vier großen pro-europäischen Fraktionen (EVP, S&D, Liberale und Grüne) zunächst, über sachpolitische Verhandlungen an einem „Koalitionsvertrag“ doch noch zu einer Annäherung zu gelangen. Dabei standen sie jedoch von Anfang an unter einem großen Zeitdruck, da der Europäische Rat die Gespräche zwischen den Parteien nicht abwartete, sondern selbst bei der Kandidatensuche in die Offensive ging. Am 2. Juli 2019 schlugen die Staats- und Regierungschef:innen Ursula von der Leyen (CDU/EVP) als neue Kommissionspräsidentin vor – eine Überraschungskandidatin, die in der Debatte über die EU-Spitzenposten zuvor so gut wie überhaupt nicht vorgekommen war.
Die Parlamentsfraktionen, noch immer gespalten und in Sorge vor einer langen institutionellen Krise, akzeptierten von der Leyen mit knapper Mehrheit und gaben nebenbei auch den Versuch eines Koalitionsvertrags auf. Was blieb, war eine Menge Frust über das gescheiterte Spitzenkandidatenverfahren, Ärger und Misstrauen sowohl zwischen den Institutionen als auch zwischen den Parteien, und ein bitterer Beigeschmack in Sachen Demokratie.
… bleibt der spanische König politisch neutral
Und in Spanien? Auch hier laufen derzeit viele Gespräche: einerseits zwischen PP und PSOE über eine mögliche, aber unwahrscheinliche Große Koalition, andererseits sowohl von PP als auch PSOE mit den kleinen Parteien, die ihnen eine Mehrheit beschaffen könnten. Auch hier geht es also darum, durch inhaltliche Zugeständnisse eine Annäherung zu erzielen, damit einer der Kandidaten eine Mehrheit im Parlament gewinnt. Auch hier ist offen, ob und wie diese Mehrheitssuche am Ende erfolgreich sein wird.
In dieser unklaren Situation ergab sich für den spanischen König ein Dilemma. Einerseits ist klar, dass er als Erbmonarch nicht demokratisch legitimiert ist und deshalb möglichst wenig Einfluss auf die Politik nehmen sollte. Andererseits ist er nach der Verfassung verpflichtet, eine Kandidat:in vorzuschlagen, und kann sich deshalb nicht ganz heraushalten. Auch in Spanien gab es deshalb einige öffentliche Spekulationen, für wen er sich entscheiden würde. Für Feijóo, dessen PP bei der Wahl die meisten Sitze gewonnen hatte? Oder für Sánchez, dessen PSOE mit den Regionalparteien auf besserem Fuß steht und der daher etwas bessere Aussichten hat, letztlich eine Mehrheit im Parlament zu bilden.
Eine objektivierbare Praxis
Am Ende fand Felipe VI. eine bemerkenswerte Lösung: In einem Kommuniqué, in dem er seine Entscheidung zugunsten von Feijóo begründete, wies er ausdrücklich auf die unklare Situation im Parlament hin und hob den „Brauch“ hervor, in diesem Fall zunächst die Kandidat:in der stärksten Fraktion zur Wahl vorzuschlagen und nach dessen möglichem Scheitern gegebenenfalls weitere Vorschläge zu machen.
Wie der Verfassungsrechtler Ángel Rodríguez auf seinem Blog kommentierte, gab es bei den meisten früheren Wahlen in Spanien ohnehin einen eindeutigen Sieger, sodass dieser „Brauch“ bis zu einem gewissen Grad eine Erfindung des Königs ist. Mit seinem Bezug auf eine angeblich gängige Verfassungspraxis bindet er sich allerdings selbst für künftige, ähnliche Entscheidungen. Der Zweck dieses Manövers ist klar: Der König, der politisch eine neutrale Instanz sein soll, versucht sich selbst aus der Gleichung zu nehmen, indem er seine Entscheidung an einer objektivierbaren Praxis ausrichtet. Egal, zu welchem Ergebnis die spanischen Parteien in der Regierungsbildungskrise schließlich kommen werden – immerhin eine Parteipolitisierung der Monarchie oder ein Konflikt zwischen König und Parlament bleibt dem Land dadurch erspart.
Weitet man den Blick auf andere europäische Länder, findet man sogar einige, in denen der „Brauch“ des spanischen Königs tatsächlich in der Verfassung verankert ist. So sind sowohl der bulgarische (Art. 99 bulgarische Verfassung) als auch der griechische Präsident (Art. 37 griechische Verfassung) verpflichtet, nach einer Wahl erst die Kandidat:in der stärksten, dann der zweit- und der drittstärksten Fraktion als Regierungschef:in vorzuschlagen.
Schwierige Koalitionsverhandlungen sind normal
Was lässt sich daraus für Europa lernen? Zunächst einmal, dass das, was man in der EU als „Spitzenkandidatenverfahren“ kennt, in vielen Ländern verbreitet ist – und auch dort nicht immer ganz harmonisch verläuft. Wie die EVP im Europäischen Parlament, so beharrt auch der PP in Spanien darauf, dass die stärkste Fraktion automatisch die Regierungschef:in stellen sollte (ohne sich allerdings selbst immer an dieses Prinzip zu halten).
Doch in parlamentarischen Mehrparteiensystemen ist es vollkommen üblich, dass Parteien nach der Wahl Koalitionen bilden müssen, um eine Mehrheit im Parlament zu erreichen. Und wenn die Kandidat:in der größten Partei nicht bei genügend Koalitionspartnern anschlussfähig ist, kann sich dabei natürlich auch einmal jemand anderes als Regierungschef:in durchsetzen. Am Ende geht es darum, zu verhandeln und Kompromisse zu finden – auch wenn es den Parteien schwer fällt und sie manchmal Zeit dafür brauchen, in Spanien ebenso wie im Europäischen Parlament.
Zurückhaltung lernen
Und zum anderen kann der Europäische Rat als „kollektives Staatsoberhaupt der EU“ vom spanischen König lernen, wie man ein verfassungsmäßiges Vorschlagsrecht zurückhaltend ausübt, ohne den parlamentarischen Prozess zu beschädigen. Die unklaren Mehrheitsverhältnisse im Parlament auszunutzen, um selbst aktiv in die Politik einzugreifen, wäre für ein nicht gewähltes Staatsoberhaupt inakzeptabel. Der Europäische Rat ist zwar vergleichsweise besser legitimiert als ein Erbmonarch. Doch auch er hat – als intergouvernementales, nicht direkt gewähltes Organ – ein demokratisches Defizit.
Schon aus Respekt vor den europäischen Bürger:innen sollte der Europäische Rat es deshalb bei der Ernennung der Kommissionspräsident:in nicht alle fünf Jahre wieder auf eine institutionelle Kraftprobe mit dem Parlament ankommen lassen. Vielmehr muss es darum gehen, Möglichkeiten zu finden, wie sich sein vertragsmäßiges Vorschlagsrecht auch bei unklaren Mehrheitsverhältnissen mit dem demokratischen Spitzenkandidatenverfahren in Einklang bringen lässt.
Weniger Spannungen bei der Kommissionswahl
Der „Brauch“ des spanischen Königs bietet dafür eine Lösung: Wenn sich im Parlament nicht schnell eine eindeutige Mehrheit abzeichnet, sollte der Europäische Rat erst die Spitzenkandidat:in der stärksten Fraktion vorschlagen, nach deren Scheitern gegebenenfalls die Spitzenkandidat:in der zweitstärksten Fraktion und so weiter. Damit würden die Parteien Zeit gewinnen, um miteinander zu verhandeln und doch noch eine Koalition zu bilden.
Und falls zuletzt wirklich niemand unter den Spitzenkandidat:innen im Parlament mehrheitsfähig ist und eine Alternativkandidat:in zum Zug kommen muss, würde das auf diese Weise wenigstens offensichtlich. Niemand könnte dem Europäischen Rat dann vorwerfen, das Parlament überrumpelt zu haben – und die Spannungen zwischen den beiden Institutionen, die die EU 2019 erleben musste, blieben ihr beim nächsten Mal erspart.
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