- Wie kann die EU demokratischer, handlungsfähiger und fit für die Erweiterung werden? Das Europäische Parlament hätte da ein paar Vorschläge.
Am 18. März 2021 veröffentlichten das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission eine Gemeinsame Erklärung, in der sie sich auf die Struktur der Konferenz zur Zukunft Europas einigten und sich „gemeinsam [verpflichteten], den Europäerinnen und Europäern zuzuhören und den Empfehlungen der Konferenz […] Folge zu leisten“. Im Mai 2022 verabschiedete die Konferenz ihren „Bericht über das endgültige Ergebnis“, in dem sie einige weitreichende Vertragsreformen empfahl – unter anderem zur Einführung europäischer Volksentscheide (Vorschlag 38.2) und zur fast vollständigen Abschaffung nationaler Vetorechte (Vorschlag 39.1). Im Juni 2022 forderte das Europäische Parlament in einer Resolution, ein entsprechendes Vertragsreformverfahren nach Art. 48 (2) EUV in Gang zu setzen.
So weit, so geradlinig. Im nächsten Schritt hätte nun nach Art. 48 (3) EUV der Europäische Rat einen Konvent einberufen müssen. Doch das Follow-up der Mitgliedstaaten blieb aus, auch weil 13 nationale Regierungen unmittelbar nach der Konferenz ein Non-Paper veröffentlicht hatten, in dem sie „unbedachte und verfrühte Versuche, einen Vertragsänderungsprozess einzuleiten“, zurückwiesen. Also legte das Europäische Parlament noch einmal nach und leitete ein Initiativverfahren ein, um selbst einen umfassenden Entwurf zur Änderung der Verträge vorlegen zu können.
Ein Jahr wurde um Kompromisse gerungen
Dieser Entwurf, umgangssprachlich als „Artikel-48-Bericht“ bekannt, wird heute im Verfassungsausschuss des Parlaments offiziell vorgestellt. Dass die Ausarbeitung insgesamt mehr als ein Jahr dauerte, zeigt, wie intensiv dabei um Kompromisse gerungen wurde. Gleich fünf Abgeordnete unterschiedlicher Fraktionen waren gemeinsam dafür zuständig: Sven Simon (CDU/EVP), Gabriele Bischoff (SPD/SPE), Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), Daniel Freund (Grüne/EGP) und Helmut Scholz (Linke/EL). Ein sechster Co-Berichterstatter, Jacek Saryusz-Wolski (PiS/EKR) zog sich in der Schlussphase von der Aufgabe zurück, da er mit den Ergebnissen nicht einverstanden war. Elf weitere Ausschüsse legten Stellungnahmen vor.
Im nächsten Schritt wird nun der Verfassungsausschuss den Bericht offiziell annehmen, und voraussichtlich am 8. November wird das Parlamentsplenum darüber abstimmen. Änderungen am Text sind dabei noch möglich. Dass er vollständig scheitert, ist aber angesichts der intensiven Vorverhandlungen und der grundsätzlichen Unterstützung aller pro-europäischen Fraktionen sehr unwahrscheinlich.
267 ausformulierte Änderungsvorschläge
Außer auf die Ergebnisse der Zukunftskonferenz konnten die Co-Berichterstatter:innen noch auf andere Vorarbeiten zurückgreifen – etwa den Verhofstadt-Bericht von 2017, in dem das Parlament schon einmal eine Liste von „möglichen Entwicklungen und Anpassungen der institutionellen Struktur der EU“ verabschiedet hatte. Der Artikel-48-Bericht verfolgt diese Linien weiter und geht zum Teil darüber hinaus. Vor allem aber ist er sehr viel detaillierter, da er eben nicht nur allgemeine Forderungen aufstellt, sondern einen komplett ausformulierten neuen Vertragsentwurf präsentiert.
Dabei lässt der Bericht kaum einen Bereich unberührt: Insgesamt enthält er Änderungsvorschläge für nicht weniger als 267 Stellen in den EU-Verträgen. Manche davon betreffen nur kleine Korrekturen, andere gravierende Reformen des politischen Systems. Hauptsächlich geht es dabei um eine Parlamentarisierung von Wahl- und Entscheidungsverfahren sowie um neue Kompetenzen der EU, vor allem in Politikfeldern wie Gesundheit und Verteidigung, die in den letzten Jahren besonders im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit standen. Hier ein kleiner Überblick.
Eine parlamentarische(re) Kommission
Ein wesentlicher Reformvorschlag betrifft die Wahl der Europäischen Kommission. Für die Ernennung der Präsident:in will der Artikel-48-Bericht nur eine kleine Änderung in den Vertrag einführen: Während bisher nach Art. 17 (7) EUV der Europäische Rat die Präsident:in „vorschlägt“ und das Parlament sie anschließend „wählt“, soll künftig das Parlament die Präsident:in „nominieren“ und anschließend der Europäische Rat seine „Zustimmung“ geben. Weiterhin müssten sich also beide Institutionen einig werden – aber das Parlament würde künftig als Erstes zum Zug kommen und hätte damit größere Kontrolle über das Verfahren.
Für den Rest der Kommission schlägt das Parlament einen stärkeren Eingriff vor. Zum einen soll es künftig nicht mehr eine Kommissar:in pro Land, sondern nur noch höchstens 15 Kommissionsmitglieder geben. Zum anderen sollen diese künftig nicht mehr von den nationalen Regierungen vorgeschlagen, sondern allein von der designierten Kommissionspräsident:in nominiert werden. Anschließend müssten sie sich sowohl im Rat als auch im Parlament einem Bestätigungsvotum unterziehen. Eine solche Reform würde die Präsident:in stärken und die Kommission politisch homogener machen. Gleichzeitig bräuchte die Kommission weiterhin eine Mehrheit in beiden Legislativorganen, es bliebe also beim Modell des „perfekten Bikameralismus“.
Mehr Mitentscheidung des Parlaments bei der Gesetzgebung
Auch im Gesetzgebungsverfahren schlägt der Artikel-48-Bericht eine stärkere Rolle für das Europäische Parlament vor. Zum einen soll das Initiativrecht des Parlaments nach Art. 225 AEUV gestärkt werden – eine seit Langem diskutierte, allerdings eher symbolische Reform.
Zum anderen soll das Parlament künftig in zahlreichen Fragen mitentscheiden dürfen, bei denen es bisher nur konsultiert werden musste oder ganz außen vor blieb – etwa beim Europäischen Semester (Art. 121 AEUV), in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Art. 42 EUV) oder bei Notfallmaßnahmen im Fall von Katastrophen (Art. 222 AEUV) oder wirtschaftlichen Krisen (Art. 122 AEUV). Auch über die Verteilung der nationalen Sitzkontingente bei der Europawahl (Art. 14 (2) EUV) soll künftig nicht mehr der Europäische Rat, sondern das Parlament entscheiden.
Absenkung der Mehrheitserfordernisse im Rat
Die Stärkung des Europäischen Parlaments ist aber nur ein Teil der institutionellen Agenda der Europaabgeordneten. Komplementär dazu geht es ihnen auch darum, Einstimmigkeits- und Mehrheitserfordernisse im Rat abzusenken – was nicht nur die Handlungsfähigkeit der EU verbessern würde, sondern auch die europäische Demokratie.
So ist bisher für die meisten sachpolitischen Entscheidungen im Rat eine qualifizierte Mehrheit (55% der Regierungen, die 65% der Bevölkerung repräsentieren) notwendig. Der Artikel-48-Bericht schlägt vor, dieses Verfahren in den meisten Fällen durch eine „einfache Mehrheit“ (50% der Regierungen, die 50% der Bevölkerung repräsentieren) zu ersetzen. Auch einige inhaltliche Entscheidungen, die bis jetzt noch einstimmig getroffen werden müssen – etwa in der Steuerpolitik (Art. 113, 115 AEUV) oder der Sozialpolitik (Art. 153 AEUV) –, wären künftig mit einfacher Mehrheit möglich.
Abgestuftes System qualifizierter Mehrheiten
Nur für einige Bereiche von besonderer Tragweite soll künftig eine qualifizierte Mehrheit notwendig sein (neu definiert als 67% der Regierungen, die 50% der Bevölkerung repräsentieren). Dazu gehören etwa die Außenpolitik (Art. 24, 31 EUV) sowie quasi-verfassungspolitische Fragen wie die Änderung des Europawahlrechts (Art. 223 AEUV), die bislang jeweils Einstimmigkeit voraussetzen. Auch die Passerelle-Klausel (Art. 48 (7) EUV) soll künftig mit qualifizierter Mehrheit statt Einstimmigkeit aktiviert werden können.
Für einige besonders sensible Fragen, speziell die Einführung neuer europäischer Straftatbestände (Art. 83 (1) AEUV), soll es außerdem noch eine weitere Stufe einer superqualifizierten Mehrheit geben (80% der Regierungen, die 50% der Bevölkerung repräsentieren).
Echte nationale Vetorechte gäbe es hingegen nur noch in sehr wenigen Bereichen. In diese besonders geschützte Kategorie fallen etwa die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten (Art. 49 EUV) sowie, etwas kurios, die Festlegung der Amtssprachen der EU (Art. 342 AEUV).
Vertragsreformen ohne Veto
Kein nationales Vetorecht sieht der Artikel-48-Bericht hingegen für künftige EU-Vertragsreformen vor. Änderungen an den EU-Verträgen (Art. 48 EUV) sollen künftig in Kraft treten, wenn sie von 80% der Regierungen sowie einer Mehrheit im Europäischen Parlament unterstützt und anschließend von 80% der Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Falls zwei Jahre nach dem Beschluss der Vertragsreform weniger als 80% der Mitgliedstaaten ratifiziert haben, soll über das Inkrafttreten durch ein europaweites Referendum entschieden werden.
Eine solche Reform des Vertragsänderungsverfahrens dürfte einige Mitgliedstaaten (einschließlich Deutschland) vor große verfassungsrechtliche Herausforderungen stellen, doch sie wäre ein erheblicher Durchbruch für die europäische Integration. Tatsächlich läuft die Diskussion über Vertragsreformen ohne Veto schon lang, und in den letzten Jahren ist die „Petrifizierung“ ihrer kaum noch reformierbaren Vertragsgrundlagen zu einem immer deutlicheren Problem der EU geworden. Dass das Parlament das Thema nun wieder auf die politische Agenda setzt, verdient deshalb volle Unterstützung.
Beteiligung des EuGH im Artikel-7-Verfahren
Ein anderer Reformvorschlag betrifft den Umgang mit Verstößen von Mitgliedstaaten gegen die gemeinsamen Werte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Bislang sieht Art. 7 (2) EUV vor, dass der Europäische Rat solche Verstöße feststellen und Sanktionen autorisieren kann – allerdings nur einstimmig, wodurch der Artikel in der Praxis unbenutzbar blieb.
Der Artikel-48-Bericht schlägt nun vor, statt des Europäischen Rats den Europäischen Gerichtshof in Stellung zu bringen: Dieser soll künftig auf Antrag des Rats, des Parlaments oder der Kommission feststellen können, dass ein Mitgliedstaat gegen die EU-Werte verstößt. Nach dieser Feststellung könnte der Rat dann mit qualifizierter Mehrheit Sanktionen verhängen. Diese (Teil-)Verrechtlichung des Verfahrens würde nicht nur helfen, die derzeitigen Blockaden zu lösen, sondern könnte im besten Fall auch die Legitimität der EU-Maßnahmen gegen autoritäre Mitgliedsregierungen erhöhen.
Neue EU-Kompetenzen
Während das Parlament manche dieser institutionellen Reformziele zum Teil schon seit langem verfolgt – viele von ihnen sind auch im Verhofstadt-Bericht enthalten, manche gehen sogar auf den Verfassungskonvent von 2002/03 zurück –, zeigt sich bei anderen der Einfluss der Krisen der letzten Jahre.
So schlägt der Artikel-48-Bericht zum Beispiel vor, der EU zusätzliche Gesetzgebungskompetenzen im Bereich Pandemie-Management sowie beim Schutz der Außengrenzen zu geben. Und auch der Klimaschutz soll in den EU-Verträgen künftig eine prominentere Rolle spielen, etwa als Ziel in der Außenhandelspolitik (Art. 207 (1) AEUV) oder als Rechtfertigung für eine energiepolitische Harmonisierung (Art. 194 (1) AEUV). All diese Reformen zielen offenbar darauf ab, dass die EU in Bereichen, die zuletzt an politischer Bedeutung gewonnen haben, eine sicherere Rechtsgrundlage für wirksame Maßnahmen haben soll.
Europäische Verteidigungsunion
Besonders weitgehende neue EU-Kompetenzen schlägt der Artikel-48-Bericht schließlich für die Außen- und Verteidigungspolitik vor – auch dies offenkundig eine Lehre der jüngsten Erfahrungen.
So sollen viele außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Entscheidungen, die bisher im Rat einstimmig getroffen wurden, künftig nur noch eine qualifizierte Mehrheit (sowie teilweise die Zustimmung des Europäischen Parlaments) voraussetzen. Gleichzeitig soll der Europäische Gerichtshof eine Jurisdiktion über die europäische Außenpolitik erhalten.
Vor allem aber sieht der Bericht die Errichtung einer „Europäischen Verteidigungsunion“ vor, für die es künftig sogar permanent stationierte Truppen unter einem einheitlichen europäischen Oberbefehl geben soll. Einsätze dieser EU-Armee sowie das dafür notwendige Budget würden vom Rat und Parlament gemeinsam beschlossen. Außerdem würde die Beistandsklausel (Art. 42 (7) EUV) verschärft, sodass „ein bewaffneter Angriff auf einen Mitgliedstaat als ein Angriff auf alle Mitgliedstaaten angesehen“ würde.
Was fehlt?
Natürlich gibt es auch im Artikel-48-Bericht einige Elemente, die nicht so ganz überzeugend wirken. Offenbar um der Zukunftskonferenz-Empfehlung 39.3, „eine Namensänderung der EU-Organe in Erwägung“ zu ziehen, Genüge zu tun, schlägt der Bericht zum Beispiel eine Umbenennung der Europäischen Kommission in „Europäische Exekutive“ vor. Ob das besonders zielführend wäre oder für noch mehr Verwirrung sorgen würde, darf bezweifelt werden.
Über das Ziel hinaus schießt auch der Vorschlag, der EU eine ausschließliche Zuständigkeit über Umwelt und Biodiversität zu geben (Art. 3 AEUV). Maßnahmen in diesen Bereichen wären dann nur noch auf europäischer Ebene, nicht mehr national möglich. Mitgliedstaaten eine eigene Umweltpolitik zu verbieten, lässt sich jedoch weder unter Subsidiaritätsgesichtspunkten begründen (nicht alle Probleme sind grenzüberschreitend!), noch hilft es der Umwelt selbst.
In Sachen Unionsbürger-Wahlrecht bleibt der Artikel-48-Bericht hingegen hinter der Linie des Verhofstadt-Berichts von 2017 zurück. Damals hatte das Parlament noch gefordert, „die Wahlrechte von Bürgern mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, im Sinne von Art. 22 AEUV auf alle übrigen Wahlen ausgeweitet werden“. Nun ist davon keine Rede mehr, obwohl die demokratischen Argumente für eine solche Reform nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben.
Der Ball liegt beim Europäischen Rat
Im Ganzen aber ist der Entwurf für den Artikel-48-Bericht zweifellos ein beeindruckender Aufschlag für die Verhandlungen über eine institutionelle Reform der EU. Nach dem Spinelli-Entwurf von 1984 und dem Herman-Bericht von 1994 ist es der dritte voll ausformulierte Vertragsentwurf, den das Europäische Parlament im Lauf seiner Geschichte vorlegt. Die Berichterstatter:innen greifen darin viele wichtige Fragen der jüngsten Reformdebatten auf und geben darauf Antworten, die gleichermaßen mutig und klug, ambitioniert und praktikabel sind. Für die europäische Integration könnte das ein dringend benötigter Schritt nach vorn sein – wenn denn die Regierungen der Mitgliedstaaten sich darauf einlassen.
Das ist natürlich ein sehr großes Wenn. Es wäre naiv zu erwarten, dass der Europäische Rat, der den wachsenden Reformdruck bis jetzt beharrlich ignoriert hat, die Vorschläge aus dem Parlament diesmal mit Begeisterung annimmt. Andererseits zeigt ein Blick zurück, dass die nationalen Regierungen auch in der Vergangenheit dazu neigten, institutionelle Reformvorschläge der Europaabgeordneten erst einmal zu ignorieren, um sie dann irgendwann, von äußeren Ereignissen getrieben, doch noch umzusetzen.
Für eine EU, in der die Krise zum Dauerzustand geworden ist und die sich obendrein auf eine neue Erweiterungsrunde vorbereitet, wäre es allerdings wünschenswert, wenn sie diesmal nicht allzu lang auf sich warten lassen würden. Nach der Europawahl 2024 ist die Zeit reif für einen neuen Europäischen Konvent!
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