Entspricht das Verfahren zur Wahl des Europäischen Parlaments noch unseren
Erwartungen an eine europäische Demokratie? In einer losen Serie von
Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft hier auf die Frage, wie sie sich ein besseres
Europawahlrecht vorstellen würden. Heute: Andrew Duff, früherer Europaabgeordneter und Verfasser des Duff-Berichts zur Wahlrechtsreform. (Zum Anfang der Serie.)
- „Die Beschlüsse über die Sitzverteilung im Europäischen Parlament zwischen den EU-Staaten waren willkürlich, unfair und unerklärlich.“
Das
neue Europäische Parlament hat im Rahmen des Vertrags von Lissabon
zwei rechtliche und politische Verpflichtungen. Die erste ist ein
einheitliches Wahlverfahren zu initiieren (Art.
223 Abs. 1 AEUV),
die zweite ist der Vorschlag einer Formel für die Sitzverteilung
zwischen den Mitgliedstaaten (Art.
14 Abs. 2 EUV).
Beide müssen rechtzeitig vor der Europawahl 2019 erfüllt werden.
Niemand,
der Europa wohlgesonnen ist, kann stolz auf die immer weiter sinkende
Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Europäischen Parlament sein. Das
„Spitzenkandidaten“-Experiment 2014 war ein Erfolg bei den
Eliten. Auf Ebene der breiten Wählerschaft aber ist es weiterhin
dringend notwendig, den Wahlkampf zu beleben, die europäische
Dimension zu stärken und die Alternativen, die zur Wahl stehen, zu
verdeutlichen.
Das
fehlende Glied zwischen den europäischen Wählern und den
supranationalen Institutionen ist die Abwesenheit von echten
politischen Parteien. Während nationale Parteien beinahe ihre
Bemühungen aufgegeben haben, die europäische Integration zu
unterstützen, sind noch keine föderalen europäischen Parteien
entstanden, um ihren Platz einzunehmen. Die europäische Demokratie
ist in einem riskanten Übergangsstadium zwischen nationaler und
post-nationaler Politik. Aus diesem Grund haben in der letzten
Wahlperiode viele Europaabgeordnete meinen
Vorschlag unterstützt, einen gesamteuropäischen Wahlkreis zu
schaffen,
in dem 25 Mitglieder des Europäischen Parlaments über
transnationale Parteilisten gewählt werden sollten.
Transnationale
Listen
2013
veröffentlichte die Spinelli-Gruppe eine Vollrevision des
Direktwahlakts von 1976. In ihrem Vorschlag
für ein Grundgesetz der Europäischen Union (S. 273-280)
wird der Akt zu einem Vertragsprotokoll, wodurch er Sichtbarkeit
gewinnt, ohne seinen Status als Primärrecht zu verlieren. In dem
Vorschlag wird die degressive Proportionalität korrekt definiert,
und es werden Rechtsgrundlagen für den gesamteuropäischen Wahlkreis
und für eine EU-Wahlbehörde geschaffen, die die transnationale Wahl
durchführen würde. Er macht deutlich, dass jede Wählerin und jeder
Wähler zwei Stimmen haben wird, eine für den jeweiligen nationalen
oder regionalen Wahlkreis und eine für den EU-weiten. Dieser
Vorschlag verdient es, jetzt in die Tat umgesetzt zu werden.
Darüber
hinaus hat der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen
vom 26./27. Juni 2014 (Rn. 27)
vereinbart, bis 2019 das Verfahren zur Wahl des
Kommissionspräsidenten zu überprüfen. Das Parlament sollte diese
Gelegenheit nutzen, um der Logik des Vertrags von Lissabon zu folgen,
indem bei der nächsten Wahl die Favoriten der europäischen Parteien
an die Spitze transnationaler Wahllisten für das Europäische
Parlament gesetzt werden.
Eine
transparente Formel für die Sitzverteilung
Es
ist bedauerlich, dass die Beschlüsse über die Sitzverteilung im
Europäischen Parlament zwischen den EU-Staaten willkürlich, unfair
und unerklärlich gewesen sind. Selbst ein flüchtiger Beobachter
kann erkennen, dass die Zahl der Parlamentsmandate Gegenstand von
Aushandlungsprozessen waren, oft während den letzten Stunden einer
Regierungskonferenz, um durch ein Koppelgeschäft eine Einigung in
scheinbar wichtigeren Fragen zu ermöglichen. Es ist deshalb
nützlich, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem
Lissabon-Urteil
vom 30. Juni 2009
(v.a. Rn. 279-297) die derzeitige wahllose Sitzverteilung
kritisiert hat.
In der letzten Wahlperiode hat das Europäische Parlament eine
Untersuchung durchgeführt, um die beste Methode zur Sitzverteilung
zwischen den Staaten zu ermitteln, die zugleich transparent,
nachvollziehbar, gerecht und dauerhaft sein sollte. Das Ergebnis ist
als „Cambridge
Compromise“ (CamCom) bekannt geworden und allgemein auf
positive Reaktionen gestoßen.
Die
CamCom-Methode
Die
CamCom-Methode verteilt die nationalen Sitzkontingente im Parlament
nach einer festen arithmetischen Formel. Demnach werden jedem Staat
ein Grundstock von fünf Sitzen plus so viele weitere Sitze
zugeteilt, wie ihm nach seiner Bevölkerungszahl proportional
zustehen (wobei aufgerundet und bei der Maximalsitzzahl von 96
gekappt wird). Ein Divisor (d) passt das Ergebnis so an, dass es der
Gesamtgröße des Parlaments (derzeit 751 Sitze) entspricht. Die
Sitzzahl jedes Landes (A) lässt sich damit in Abhängigkeit von der
Bevölkerungsgröße (p) über die folgende mathematische
Zuteilungsfunktion darstellen:
A(p) = min{⌈5+p/d⌉, 96}
Eine
Variante des Vorschlags würde die vollständige CamCom-Formel in
zwei Stufen einführen, damit kein Staat bei den nächsten Wahlen
2019 gegenüber der jetzigen Verteilung mehr als zwei Sitze verlieren
würde.
Die
steigende Mobilität unter den Einwohnern der Union (vor allem die
Arbeitnehmermigration in Westeuropa), demografische Veränderungen
(so wie die abnehmende Zahl der Deutschen) und die Möglichkeit nicht
nur des Beitritts neuer Länder, sondern auch der Aufspaltung
existierender Mitgliedstaaten: Das alles macht es erforderlich, dass
das Parlament seine Aufgabe, die Sitzkontingente in jeder Wahlperiode
neu zu überprüfen, sehr ernst nimmt. Nach einem Streit über die
Sitzzahl des Neumitglieds Kroatiens hat auch der Europäische Rat
sich
dazu verpflichtet,
gemeinsam mit dem Parlament eine arithmetische Formel für die
künftige Sitzzuteilung zu ermitteln.
Reform
der Stimmgewichtung im Rat
Wenn
die Sitzzuteilung im Parlament proportionaler werden soll, dann
bedeutet dies aber auch, dass auch die Stimmgewichtung in der zweiten
Kammer der europäischen Legislative, dem Rat, überdacht werden
muss. Seit dem 1. November 2014 gilt hier das System des
Vertrags von Lissabon, bei dem für einen Beschluss in der Regel eine
qualifizierte Mehrheit aus 55% der Staaten nötig ist, die zugleich
65% der Bevölkerung repräsentieren müssen.
Dieses
Verfahren begünstigt sowohl große Staaten (hinsichtlich des
Bevölkerungskriteriums) als auch kleine Staaten (hinsichtlich der
Anzahl an Staaten, die für eine Mehrheit nötig sind). Die
mittelgroßen Staaten, die durch die CamCom-Formel ihr derzeitiges
Übergewicht im Parlament verlieren würden, sollten deshalb zum
Ausgleich eine weitere Reform bei den Stimmverfahren des Rates
anstreben.
Dies
legt es nahe, den Vorschlag einer Stimmgewichtung nach der
Quadratwurzel der Bevölkerungszahl wiederzubeleben, durch den das
Stimmgewicht der Staaten degressiv-proportional von ihrer Größe
abhängig ist. Ein entsprechender Entwurf
von Krakauer Akademikern,
bekannt als „Jagiellonischer Kompromiss“ (JagCom), wurde 2004 dem
Europäischen Verfassungskonvent vorgelegt, aber nicht aufgegriffen
(siehe auch Pukelsheim
2014).
Er verdient es, erneut bedacht zu werden. Eine Kombination aus CamCom
und JagCom würde die Machtverteilung zwischen den Mitgliedstaaten in
Legislative der Europäischen Union in ein gerechtes, transparentes
und dauerhaftes Gleichgewicht bringen.
Ein
neuer Europäischer Konvent
Das
Europäische Parlament ist weit über den Punkt hinaus, an dem es nur
eine Aggregation der verschiedenen nationalen Parlamentskulturen der
Mitgliedstaaten war. Im letzten Jahrzehnt hat es den
Erweiterungsschock überstanden, ist ein glaubwürdiger und
effizienter Gesetzgeber geworden und hat sich selbst zu einem
unverzichtbaren Akteur bei der konstitutionellen Weiterentwicklung
gemacht. Nach innen gelangen dem Parlament erfolgreiche Neuerungen.
Was ihm fehlt, ist jedoch die Nähe zu der Bevölkerung, der zu
dienen sein Existenzgrund ist. Dies führt zu Zweifeln an seiner
demokratischen Legitimität und zu Symptomen einer
Midlife-Identitätskrise. Eine Wahlreform würde für das öffentliche
Profil und Selbstvertrauen des Parlaments Wunder wirken.
Die
Reform des Wahlrechts, des Systems der Sitzkontingente im Parlament
und der Stimmgewichtung im Ministerrat sind Angelegenheiten des
EU-Primärrechts. Dies bedeutet eine Änderung des Vertrags von
Lissabon, die nur im Rahmen eines neuen Konvents möglich ist. Auch
andere wichtige Verfassungsentwicklungen sind ausstehend, besonders
die Vollendung der Fiskalunion und eine Lösung für die britische
Frage. Dieses Mal aber muss die Parlamentsreform einen zentralen
Platz in der Agenda des Konvents erhalten.
Andrew
Duff (@AndrewDuffEU) war von 1999 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments und von 2008 bis 2013 Präsident der Union Europäischer Föderalisten. Als Europaabgeordneter war er 2011 Berichterstatter für den Bericht über einen Vorschlag zur Änderung des Direktwahlakts, der als „Duff-Bericht“ bekannt wurde. Im Januar 2015 ist sein Buch Pandora, Penelope, Polity: How to Change the European Union bei John Harper erschienen.
|
Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten, wie sollte es dann aussehen? – Artikelübersicht
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
Bilder: By helsinki51 [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr; by Diliff (Own work) [CC BY-SA 3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons.
Wenn es schon Reformen gibt bei den EU-Verträgen, dann sollte man wenigstens die richtigen Änderungen vornehmen: es darf keine Stimmenungleichheit mehr herrschen! Stimmenungleichheit kann man nur abschaffen, wenn man transnationale Wahlkreise erlaubt und den Nationalstaaten das Recht wegnimmt, über das Wahlrecht für die EU zu entscheiden. Es muss ländergrenzenüberschreitende Wahlkreise geben, weil die Unterschiede bei der Bevölkerungsanzahl zu groß sind.
AntwortenLöschen