23 Oktober 2017

Katalonien, die Demokratie und das „Europa der Regionen“: Eine Antwort auf Wulf Loh

Wäre ein unabhängiges Katalonien eine Chance für die Demokratisierung der EU?
Aus Anlass der katalanischen Krise habe ich auf diesem Blog vor einigen Wochen einen Artikel geschrieben, in dem ich mich kritisch mit den diversen Abspaltungsbewegungen in Europa (von Katalonien über Norditalien und Flandern bis zum Brexit) auseinandersetzte. Mein Grundgedanke war dabei, dass das separatistische Versprechen von „Unabhängigkeit“ und „Selbstbestimmung“ meist trügerisch ist – denn auch wenn es politisch zur Abspaltung kommt, lassen sich doch die gesellschaftlichen Verflechtungen, die die Region mit dem Rest des Landes verbinden, nicht so einfach kappen. Und wo es gesellschaftliche Verflechtungen gibt, entstehen immer auch Fragen, für die es gemeinsame politische Antworten braucht. Durch die Abspaltung verändert sich nur der Ort, an dem diese Antworten zustande kommen: Aus einem gemeinsam gewählten Parlament verlagern sie sich in den Raum der zwischenstaatlichen Verhandlungen; an die Stelle des Prinzips „Eine Person, eine Stimme“ treten die Machtspiele der Diplomatie. A priori bedeuten Abspaltungen deshalb einen Verlust an Demokratie.

Hinzu kommt, dass es meist die reicheren Regionen sind, die sich von den ärmeren trennen wollen – oft mit der Begründung, durch die gemeinsamen Steuer- und Sozialsysteme „bestohlen“ zu werden. Aus ökonomischer Sicht lässt sich der Separatismus deshalb auch als Ausdruck einer Entsolidarisierung verstehen: als Versuch, fiskalische Umverteilung durch territoriale Eingrenzung zu minimieren.

Katalonien als Chance für ein „Europa der Regionen“?

Auf diesen Artikel hat der Rechtsphilosoph Wulf Loh (mit dem ich, full disclosure, an der Humboldt-Universität zu Berlin mehrere Jahre lang ein Büro geteilt habe) in der Berliner Gazette eine kritische Antwort verfasst. Darin geht er sowohl auf die ökonomische als auch auf die politische Dimension des Separatismus-Problems ein und beschreibt die katalanische Krise – ganz ähnlich wie jüngst auch die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot in einem Beitrag für Die Zeit – als Chance zu einem postnationalen „Europa der Regionen“.

Ich finde Wulfs Argumente bedenkenswert, auch wenn ich seine Schlussfolgerungen nicht teile. An dieser Stelle möchte ich deshalb meinerseits auf seine Antwort erwidern.

Weniger Kuchen abgeben oder mehr Kuchen für alle?

Was die wirtschaftliche Dimension betrifft, hebt Wulf hervor, dass nicht nur die Separatisten gern auf ökonomische Argumente zurückgreifen. Auch ihre Gegner (nennen wir sie „Unionisten“ oder, wie in Großbritannien, „Remainer“) verweisen gerne darauf, dass eine Abspaltung nur mit großen wirtschaftlichen Kosten möglich sei. Geht es also beiden Seiten nur ums Geld?

Mir scheint, dass diese Gleichsetzung, die Wulf suggeriert, einen wichtigen normativen Unterschied verkennt: Während die Separatisten darauf abzielen, fiskalische Umverteilung zu reduzieren, warnen die Remainer davor, dass neue Grenzen zu Handelsfriktionen, geringerer Wirtschaftsleistung und letztlich allgemein weniger Wohlstand führen. Ersteres Argument bezieht sich also auf den ökonomischen Eigennutz ihrer Region, letzteres auf den ökonomischen Gemeinnutz. Bildlich gesprochen: Die Separatisten wollen weniger vom Kuchen abgeben, die Remainer einen größeren Kuchen für alle.

Weniger Solidarität destabilisiert den Währungsraum

Wulf argumentiert weiter, dass das ökonomische Argument der Remainer im Fall von Katalonien ins Leere führe: Schließlich wollen die katalanischen Separatisten in der EU verbleiben. Sie wären mit Spanien deshalb weiterhin über den europäischen Binnenmarkt verbunden und würden mit dem Euro sogar eine gemeinsame Währung teilen. Anders als etwa beim Brexit seien die von den Remainern befürchteten Handelsfriktionen in Katalonien deshalb kaum plausibel.

Das ist, was allein den Handel betrifft, vermutlich richtig (jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass ein unabhängiges Katalonien tatsächlich in der EU verbleiben könnte). Das Bild ändert sich allerdings, wenn man auch die Funktionsweise der Währungsunion in den Blick nimmt. Denn für die Stabilität eines Währungsraums ist ein gewisses Maß an interregionaler Umverteilung von wesentlicher Bedeutung – wie der Wirtschaftswissenschaftler Peter Kenen bereits 1969 zeigte und die Eurokrise jüngst eindrucksvoll belegte. Je mehr unabhängige Staaten ohne gemeinsames Steuer- und Sozialsystem die europäische Währungsunion umfasst, desto anfälliger ist sie für asymmetrische Schocks. Wenigstens solange es keine gesamteuropäische Fiskalunion gibt (die sich derzeit allenfalls in den Kinderschuhen befindet), bleibt das ein starkes ökonomisches Argument gegen Abspaltungen innerhalb der Eurozone.

Demokratisierung und Regionalisierung: Was kommt zuerst?

Es bleibt die politische Dimension: Was würde ein unabhängiges Katalonien aus demokratietheoretischer Sicht bedeuten? In Grundzügen sind Wulf und ich uns hier einig: Mehr Mitgliedstaaten bedeutet mehr Veto-Akteure im Europäischen Rat und damit erst einmal weniger Demokratie. Auch Wulf fordert deshalb „eine Abkehr vom Paradigma des souveränen Staates als der politischen Grundeinheit auf globaler Ebene, hin zu einem stärker komplementären ‚Mehrebenen-Regieren‘“, bei dem das gemeinsam gewählte Europäische Parlament im Mittelpunkt aller Entscheidungen stünde und der Europäische Rat an Bedeutung verlöre: „60 Regionen ohne Vetorecht führten vermutlich zu einer effizienteren, bürgernäheren und damit auch demokratischeren EU.“

Allerdings eröffnet sich an dieser Stelle eine Frage der Reihenfolge: Aus meiner Sicht wäre es zuerst notwendig, die EU zu demokratisieren, nationale Vetorechte abzuschaffen und die Fiskalunion zu vertiefen, ehe man danach – sofern man das will – über eine weitere Regionalisierung nachdenken könnte.

Für Wulf könnte die „Regionalisierung“ (also die Aufspaltung größerer Mitgliedstaaten in mehrere kleine) hingegen auch der erste Schritt sein, der dann eine weitere Aufwertung des Europäischen Parlaments und Abschaffung nationaler Vetorechte erleichtert. Denn da kleine Staaten mit vielen wichtigen Hoheitsaufgaben ohnehin überfordert seien, stünden sie Kompetenzübertragungen an die EU generell offener gegenüber.

Sind kleine Staaten integrationsfreundlicher?

Aber sind kleinere Staaten wirklich integrationsfreundlicher und eher bereit, auf nationale Vetorechte zu verzichten? Leider führt Wulf für diese starke These keine empirischen Belege an. Tatsächlich ist es sehr schwer, hier zu soliden Befunden zu gelangen: Da sich ein großer Teil der Verhandlungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten im Informellen abspielt, müssen Veto-Drohungen nur selten explizit gemacht werden und sind deshalb für Sozialwissenschaftler schwer messbar.

Insgesamt aber scheint mir in Sachen Integrationsbereitschaft kein klarer Gegensatz zwischen großen und kleinen Ländern zu erkennen: Historisch zählten das große Italien und das kleine Luxemburg meist zu den Beschleunigern, das große Großbritannien und das kleine Dänemark zu den Bremsern der Integration. Und betrachtet man vor allem die letzten Jahre, zeigen gerade die mittelgroßen Staaten (zu denen mit rund 7,5 Millionen Einwohnern auch ein unabhängiges Katalonien gehören würde) eine bedrückende Veto-Bilanz: Irland (4,6 Mio. Einwohner) setzte bei der Ratifikation des Vertrags von Lissabon 2008 im Alleingang durch, dass bis heute jeder Mitgliedstaat einen eigenen Kommissar stellt. Die Slowakei (5,4 Mio. Einwohner) drohte 2011 den Euro-Rettungsschirm EFSF platzen zu lassen. Ungarn (9,8 Mio. Einwohner) verhindert seit 2016 mit seiner Veto-Drohung Sanktionen der EU gegen die polnische Regierung. Und Ungarn und die Slowakei gemeinsam versuchten zuletzt, wenn auch vergeblich, sich vor dem EuGH ein Vetorecht gegen den EU-Beschluss zur Umverteilung von Flüchtlingen zu erstreiten.

„Regionen sind Heimat, Nationen sind Fiktion“?

Die Vorstellung, dass sich ein „Europa der Regionen“ mit einer Vielzahl kleiner bis mittelgroßer Staaten zum Selbstläufer in Richtung europäische Demokratie entwickeln würde, scheint mir deshalb ein Trugschluss zu sein. Noch problematischer wird es schließlich, wenn man wie Ulrike Guérot die regionalen Identitäten als eine Art natürliche Einheit betrachtet, denen ein grundsätzlicher normativer Vorrang gegenüber den heutigen Nationalstaaten zukomme.

„Regionen sind Heimat, Nationen sind Fiktion“, so zitiert sie in ihrem Zeit-Artikel den Schriftsteller Robert Menasse – und unterschlägt dabei, dass auch regionale Identitäten stets so vielschichtig und widersprüchlich sind, dass sich zwischen ihnen niemals eindeutige und unumstrittene Grenzen ziehen lassen. Spaltet sich heute Bayern von Deutschland ab, so wird sich morgen Franken von Bayern abspalten wollen und übermorgen Oberfranken von Unterfranken. Auch in einem „Europa der Regionen“ wären die Grenzen zwischen den politischen Einheiten stets das Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses: nicht anders (und wohl auch nicht friedlicher) als im Europa der Staaten von heute.

Katalonien ist kein Vorbild

Fazit: In einer Mehr-Ebenen-Demokratie muss die Frage, welche Probleme auf welcher Ebene sinnvoll gelöst werden können, immer wieder neu diskutiert und ausgehandelt werden. Ohne Zweifel können dabei auch „Autonomiearrangements“ eine wichtige Rolle spielen, wie sie Wulf fordert und wie sie, nebenbei gesagt, in Spanien seit vielen Jahren existieren. Aber zwischen Autonomie und Abspaltung liegt ein gravierender Unterschied, und wenigstens in der heute existierenden EU würden regionale Abspaltungen nicht zu mehr, sondern zu weniger Demokratie führen – selbst wenn sie auf vordergründig demokratische Weise, nämlich per Referendum, zustande kommen.

Nun mag es angesichts der aufgewühlten Lage in Katalonien sein, dass dort ein solches Referendum (mit der spanischen Regierung ausgehandelt und auf eine solide Rechtsgrundlage gestellt) mittelfristig notwendig ist, um eine allgemein akzeptierte Entscheidung herbeizuführen und die polarisierte Gesellschaft zu befrieden. Aber ein Vorbild für andere Regionen oder gar eine demokratische Chance für die EU ist der katalanische Separatismus mit Sicherheit nicht.

Bild: Òmnium Cultural [CC BY-SA 2.0], via Flickr.

2 Kommentare:

  1. In der Frage von Guérots ethnokulturellem Regionalismus sind wir uns einig. In einigen anderen Punkten muss ich jedoch, wie du dir vorstellen kannst, widersprechen.

    Zunächst einmal schreibst du: „Die Separatisten wollen weniger vom Kuchen abgeben, die Remainer wollen mehr Kuchen für alle.“ Das stimmt nur zum Teil: Die Separatisten wollen ihren eigenen Kuchen, genauso wie die Remainer. Es geht also nicht um die Frage, wer was vom Kuchen an wen abgeben muss, sondern, darum, was denn eigentlich der Kuchen umfasst. Wie der Brexit zeigt, wollen die Nationalisten ihren Kuchen eben auch nicht mit einem vermeintlichen „Außen“ teilen, nur dass dieses Außen in diesem Fall die EU ist.

    Weiter verweist du darauf, dass mehr Mitgliedsstaaten ohne gemeinsames Steuer- und Sozialsystem die Anfälligkeit „asymmetrische Schocks“ erhöhe. Das mag sein, aber die Schocks werden überschau- und handhabbarer, je kleiner die Volkswirtschaften sind, die sie betreffen. Irland und Malta sind eben einfach leichter zu retten als Griechenland oder gar Italien.

    Schließlich bezweifelst du, dass „kleinere Staaten wirklich integrationsfreundlicher und eher bereit [seien], auf nationale Vetorechte zu verzichten“. Als Begründung dafür führst du empirische Verhaltensweisen einzelner EU-Mitglieder in der Vergangenheit an. In diesen Fällen gebe ich dir recht: Kleinere Staaten verhalten sich vermutlich nicht sonderlich solidarischer und kompromissbereiter als große. Bei den sezessionswilligen Regionen handelt es sich jedoch um ein anderes Phänomen. Auch nach einer Sezession sind sie zunächst keine Staaten im Vollsinn, da sie viele der Hoheitsaufgaben, die klassischerweise Staaten übernehmen –auch die kleinen –, an den Mutterstaat abgegeben hatten (insbes. Sicherheits-, Außen-, Fiskal-, Sozialpolitik). Nun haben sie zwei Möglichkeiten: Sie können diese Aufgaben an sich ziehen, was einen hohen Aufwand bedeutet, oder diese Aufgaben verbleiben beim Mutterstaat. Letzteres ist direkt nach einer Abspaltung erstens meist in hohem Maße ungewünscht, und kann, je nach Politikfeld, auch faktisch unmöglich sein. Aus diesem Dilemma könnte sie die EU befreien. Was liegt da näher, als sich verstärkt dafür einzusetzen, dass diese Hoheitsaufgaben von der supranationalen Ebene übernommen werden.

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    1. Nur ganz kurz zum steigenden Risiko asymmetrischer Schocks: Klar, kleine Staaten sind leichter zu "retten" als große - die Zypern-Krise 2013 wirbelte deutlich weniger Staub auf als die Griechenland-Krise 2015. Aber das macht die Sache doch nicht wirklich besser, denn eigentlich sollte es solche "Rettungsaktionen" in einer Währungsunion überhaupt nicht geben müssen. Nicht nur, weil sie alle Beteiligten teurer zu stehen kommen als eine funktionierende Fiskalunion, sondern auch wegen den damit verbundenen demokratischen Legitimationsproblemen. Die Herrschaft der Troika (oder wie auch immer "die Institutionen" in Zukunft heißen mögen) kann ja wohl kaum das Ideal der Währungsunion sein.

      Und zweitens zur angenommenen Bereitschaft frisch abgespaltener Staaten, Kompetenzen an die EU abzugeben: Das würde voraussetzen, dass die EU zu dem Zeitpunkt der Abspaltung die Möglichkeit besitzt, diese Kompetenzen auch anzunehmen. Das mag für die Außenpolitik zum Teil zutreffen: Katalonien müsste nicht in der ganzen Welt Botschaften eröffnen, sondern könnte sich auf die Vertretungen des Europäischen Auswärtigen Dienstes stützen. Im Fall der Sicherheits-, Fiskal- und Sozialpolitik aber fehlen der EU derzeit die entsprechenden Kompetenzen. Und wenn es zum Zeitpunkt der Abspaltung keine europäische Armee und kein europäisches Steuersystem gibt, würde ein unabhängiges Katalonien – Aufwand hin oder her – natürlich seine eigene Armee und sein eigenes Steuersystem aufbauen. (Zu Letzterem gab es in den vergangenene Wochen übrigens bereits konkrete Vorbereitungen.) Und damit wäre die von dir angenommene Dynamik schon wieder vorbei.

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