Aus Anlass der katalanischen Krise habe ich auf diesem Blog vor
einigen Wochen einen
Artikel geschrieben, in dem ich mich kritisch
mit den diversen Abspaltungsbewegungen in Europa (von Katalonien über
Norditalien und Flandern bis zum Brexit) auseinandersetzte. Mein
Grundgedanke war dabei, dass das separatistische Versprechen von
„Unabhängigkeit“ und „Selbstbestimmung“ meist trügerisch
ist – denn auch wenn es politisch zur Abspaltung kommt, lassen sich
doch die gesellschaftlichen Verflechtungen, die die Region mit dem
Rest des Landes verbinden, nicht so einfach kappen. Und wo es
gesellschaftliche Verflechtungen gibt, entstehen immer auch Fragen,
für die es gemeinsame politische Antworten braucht. Durch die
Abspaltung verändert sich nur der Ort, an dem diese Antworten
zustande kommen: Aus einem gemeinsam gewählten Parlament verlagern
sie sich in den Raum der zwischenstaatlichen Verhandlungen; an die
Stelle des Prinzips „Eine Person, eine Stimme“ treten die
Machtspiele der Diplomatie. A priori bedeuten
Abspaltungen deshalb einen Verlust an Demokratie.
Hinzu kommt, dass es meist die
reicheren Regionen sind, die sich von den ärmeren trennen wollen –
oft mit der Begründung, durch die gemeinsamen Steuer- und
Sozialsysteme „bestohlen“ zu werden. Aus ökonomischer Sicht
lässt sich der Separatismus deshalb auch als Ausdruck einer
Entsolidarisierung verstehen: als Versuch, fiskalische
Umverteilung durch territoriale Eingrenzung zu minimieren.
Katalonien als Chance für ein
„Europa der Regionen“?
Auf
diesen Artikel hat der Rechtsphilosoph Wulf Loh (mit dem ich, full
disclosure, an der Humboldt-Universität zu Berlin mehrere Jahre lang
ein Büro geteilt habe) in
der Berliner
Gazette eine
kritische Antwort verfasst.
Darin geht er sowohl auf die ökonomische als auch auf die politische
Dimension des Separatismus-Problems ein und beschreibt die
katalanische Krise – ganz ähnlich wie jüngst auch die Politikwissenschaftlerin
Ulrike Guérot in einem Beitrag für Die Zeit –
als Chance zu einem postnationalen „Europa der Regionen“.
Ich
finde Wulfs Argumente bedenkenswert, auch wenn ich seine
Schlussfolgerungen nicht teile. An dieser Stelle möchte ich deshalb
meinerseits auf seine Antwort erwidern.
Weniger Kuchen abgeben oder
mehr Kuchen für alle?
Was
die wirtschaftliche Dimension betrifft, hebt Wulf hervor, dass nicht
nur die Separatisten gern auf ökonomische Argumente zurückgreifen.
Auch ihre Gegner (nennen wir sie „Unionisten“ oder, wie in
Großbritannien, „Remainer“) verweisen gerne darauf, dass eine
Abspaltung nur mit großen wirtschaftlichen Kosten möglich sei. Geht
es also beiden Seiten nur ums Geld?
Mir scheint, dass diese Gleichsetzung, die Wulf suggeriert, einen
wichtigen normativen Unterschied verkennt: Während die Separatisten
darauf abzielen, fiskalische Umverteilung zu reduzieren, warnen die
Remainer davor, dass neue Grenzen zu Handelsfriktionen, geringerer
Wirtschaftsleistung und letztlich allgemein weniger Wohlstand führen.
Ersteres Argument bezieht sich also auf den ökonomischen Eigennutz
ihrer Region, letzteres auf den ökonomischen Gemeinnutz. Bildlich
gesprochen: Die Separatisten wollen weniger vom Kuchen abgeben, die
Remainer einen größeren Kuchen für alle.
Weniger Solidarität
destabilisiert den Währungsraum
Wulf argumentiert weiter, dass das ökonomische Argument der Remainer im
Fall von Katalonien ins Leere führe: Schließlich wollen die
katalanischen Separatisten in der EU verbleiben. Sie wären mit
Spanien deshalb weiterhin über den europäischen Binnenmarkt
verbunden und würden mit dem Euro sogar eine gemeinsame Währung
teilen. Anders als etwa beim Brexit seien die von den Remainern
befürchteten Handelsfriktionen in Katalonien deshalb kaum plausibel.
Das ist, was allein den Handel betrifft, vermutlich richtig (jedenfalls
wenn man davon ausgeht, dass ein unabhängiges Katalonien tatsächlich
in der EU verbleiben könnte). Das Bild ändert sich allerdings, wenn
man auch die Funktionsweise der Währungsunion in den Blick nimmt.
Denn für die Stabilität eines Währungsraums ist ein gewisses Maß
an interregionaler Umverteilung von wesentlicher Bedeutung – wie
der
Wirtschaftswissenschaftler Peter Kenen bereits 1969 zeigte
und die
Eurokrise jüngst eindrucksvoll belegte.
Je mehr unabhängige Staaten ohne gemeinsames Steuer- und
Sozialsystem die europäische Währungsunion umfasst, desto
anfälliger ist sie für asymmetrische Schocks. Wenigstens solange es
keine gesamteuropäische Fiskalunion gibt (die sich derzeit
allenfalls in den Kinderschuhen befindet), bleibt das ein starkes
ökonomisches Argument gegen Abspaltungen innerhalb der Eurozone.
Demokratisierung und
Regionalisierung: Was kommt zuerst?
Es bleibt die politische Dimension: Was würde ein unabhängiges
Katalonien aus demokratietheoretischer Sicht bedeuten? In Grundzügen
sind Wulf und ich uns hier einig: Mehr Mitgliedstaaten bedeutet mehr
Veto-Akteure im Europäischen Rat und damit erst einmal weniger
Demokratie. Auch Wulf fordert deshalb „eine Abkehr vom Paradigma
des souveränen Staates als der politischen Grundeinheit auf globaler
Ebene, hin zu einem stärker komplementären ‚Mehrebenen-Regieren‘“, bei dem das gemeinsam gewählte Europäische Parlament im Mittelpunkt aller Entscheidungen stünde und der Europäische Rat an Bedeutung
verlöre: „60 Regionen ohne Vetorecht führten vermutlich zu einer
effizienteren, bürgernäheren und damit auch demokratischeren EU.“
Allerdings eröffnet sich an dieser Stelle eine Frage der Reihenfolge: Aus
meiner Sicht wäre es zuerst notwendig,
die EU zu demokratisieren, nationale Vetorechte abzuschaffen und die
Fiskalunion zu vertiefen, ehe man danach – sofern man das will –
über eine weitere Regionalisierung nachdenken könnte.
Für Wulf könnte die „Regionalisierung“ (also die Aufspaltung
größerer Mitgliedstaaten in mehrere kleine) hingegen auch der erste
Schritt sein, der dann eine weitere Aufwertung des Europäischen
Parlaments und Abschaffung nationaler Vetorechte erleichtert. Denn da
kleine Staaten mit vielen wichtigen Hoheitsaufgaben ohnehin
überfordert seien, stünden sie Kompetenzübertragungen an die EU
generell offener gegenüber.
Sind kleine Staaten
integrationsfreundlicher?
Aber
sind kleinere Staaten wirklich integrationsfreundlicher und eher
bereit, auf nationale Vetorechte zu verzichten? Leider führt Wulf
für diese starke These keine empirischen Belege an. Tatsächlich ist
es sehr schwer, hier zu soliden Befunden zu gelangen: Da sich ein
großer Teil der Verhandlungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten im
Informellen abspielt, müssen Veto-Drohungen nur selten explizit
gemacht werden und sind deshalb für Sozialwissenschaftler schwer
messbar.
Insgesamt aber scheint mir in Sachen Integrationsbereitschaft kein klarer
Gegensatz zwischen großen und kleinen Ländern zu erkennen:
Historisch zählten das große Italien und das kleine Luxemburg meist
zu den Beschleunigern, das große Großbritannien und das kleine
Dänemark zu den Bremsern der Integration. Und betrachtet man vor
allem die letzten Jahre, zeigen gerade die mittelgroßen Staaten (zu
denen mit rund 7,5 Millionen Einwohnern auch ein unabhängiges
Katalonien gehören würde) eine bedrückende Veto-Bilanz: Irland
(4,6 Mio. Einwohner) setzte bei der Ratifikation des Vertrags von
Lissabon 2008 im Alleingang durch, dass bis heute jeder Mitgliedstaat einen eigenen
Kommissar stellt. Die Slowakei (5,4 Mio. Einwohner) drohte 2011 den Euro-Rettungsschirm EFSF platzen zu lassen. Ungarn (9,8 Mio. Einwohner) verhindert
seit 2016 mit seiner Veto-Drohung Sanktionen der EU gegen die polnische Regierung.
Und Ungarn und die Slowakei gemeinsam versuchten zuletzt,
wenn auch vergeblich, sich vor dem EuGH ein Vetorecht gegen den EU-Beschluss zur Umverteilung von
Flüchtlingen zu erstreiten.
„Regionen sind Heimat,
Nationen sind Fiktion“?
Die Vorstellung, dass sich ein „Europa der Regionen“ mit einer
Vielzahl kleiner bis mittelgroßer Staaten zum Selbstläufer in
Richtung europäische Demokratie entwickeln würde, scheint mir
deshalb ein Trugschluss zu sein. Noch
problematischer wird es schließlich, wenn man wie Ulrike Guérot die regionalen
Identitäten als eine Art natürliche Einheit betrachtet, denen ein
grundsätzlicher normativer Vorrang gegenüber den heutigen Nationalstaaten zukomme.
„Regionen sind Heimat, Nationen sind Fiktion“, so zitiert sie in ihrem
Zeit-Artikel den Schriftsteller Robert Menasse – und
unterschlägt dabei, dass auch regionale Identitäten stets so
vielschichtig und widersprüchlich sind, dass sich zwischen ihnen
niemals eindeutige und unumstrittene Grenzen ziehen lassen. Spaltet
sich heute Bayern von Deutschland ab, so wird sich morgen Franken von
Bayern abspalten wollen und übermorgen Oberfranken von Unterfranken.
Auch in einem „Europa der Regionen“ wären die Grenzen zwischen
den politischen Einheiten stets das Ergebnis eines politischen
Aushandlungsprozesses: nicht anders (und wohl auch nicht friedlicher)
als im Europa der Staaten von heute.
Katalonien ist kein Vorbild
Fazit: In einer Mehr-Ebenen-Demokratie muss die Frage, welche
Probleme auf welcher Ebene sinnvoll gelöst werden können, immer
wieder neu diskutiert und ausgehandelt werden. Ohne Zweifel können
dabei auch „Autonomiearrangements“ eine wichtige Rolle spielen,
wie sie Wulf fordert und wie sie, nebenbei gesagt, in Spanien seit
vielen Jahren existieren. Aber zwischen Autonomie und Abspaltung liegt ein gravierender Unterschied,
und wenigstens in der heute existierenden EU würden regionale
Abspaltungen nicht zu mehr, sondern zu weniger Demokratie führen –
selbst wenn sie auf vordergründig demokratische Weise, nämlich per
Referendum, zustande kommen.
Nun mag es angesichts der aufgewühlten Lage in Katalonien sein, dass dort ein solches Referendum (mit
der spanischen Regierung ausgehandelt und auf eine solide Rechtsgrundlage gestellt) mittelfristig
notwendig ist, um eine allgemein akzeptierte Entscheidung herbeizuführen und die polarisierte Gesellschaft zu befrieden. Aber
ein Vorbild für andere Regionen oder gar eine demokratische Chance
für die EU ist der katalanische Separatismus mit Sicherheit nicht.
Bild: Òmnium Cultural [CC BY-SA 2.0], via Flickr.
In der Frage von Guérots ethnokulturellem Regionalismus sind wir uns einig. In einigen anderen Punkten muss ich jedoch, wie du dir vorstellen kannst, widersprechen.
AntwortenLöschenZunächst einmal schreibst du: „Die Separatisten wollen weniger vom Kuchen abgeben, die Remainer wollen mehr Kuchen für alle.“ Das stimmt nur zum Teil: Die Separatisten wollen ihren eigenen Kuchen, genauso wie die Remainer. Es geht also nicht um die Frage, wer was vom Kuchen an wen abgeben muss, sondern, darum, was denn eigentlich der Kuchen umfasst. Wie der Brexit zeigt, wollen die Nationalisten ihren Kuchen eben auch nicht mit einem vermeintlichen „Außen“ teilen, nur dass dieses Außen in diesem Fall die EU ist.
Weiter verweist du darauf, dass mehr Mitgliedsstaaten ohne gemeinsames Steuer- und Sozialsystem die Anfälligkeit „asymmetrische Schocks“ erhöhe. Das mag sein, aber die Schocks werden überschau- und handhabbarer, je kleiner die Volkswirtschaften sind, die sie betreffen. Irland und Malta sind eben einfach leichter zu retten als Griechenland oder gar Italien.
Schließlich bezweifelst du, dass „kleinere Staaten wirklich integrationsfreundlicher und eher bereit [seien], auf nationale Vetorechte zu verzichten“. Als Begründung dafür führst du empirische Verhaltensweisen einzelner EU-Mitglieder in der Vergangenheit an. In diesen Fällen gebe ich dir recht: Kleinere Staaten verhalten sich vermutlich nicht sonderlich solidarischer und kompromissbereiter als große. Bei den sezessionswilligen Regionen handelt es sich jedoch um ein anderes Phänomen. Auch nach einer Sezession sind sie zunächst keine Staaten im Vollsinn, da sie viele der Hoheitsaufgaben, die klassischerweise Staaten übernehmen –auch die kleinen –, an den Mutterstaat abgegeben hatten (insbes. Sicherheits-, Außen-, Fiskal-, Sozialpolitik). Nun haben sie zwei Möglichkeiten: Sie können diese Aufgaben an sich ziehen, was einen hohen Aufwand bedeutet, oder diese Aufgaben verbleiben beim Mutterstaat. Letzteres ist direkt nach einer Abspaltung erstens meist in hohem Maße ungewünscht, und kann, je nach Politikfeld, auch faktisch unmöglich sein. Aus diesem Dilemma könnte sie die EU befreien. Was liegt da näher, als sich verstärkt dafür einzusetzen, dass diese Hoheitsaufgaben von der supranationalen Ebene übernommen werden.
Nur ganz kurz zum steigenden Risiko asymmetrischer Schocks: Klar, kleine Staaten sind leichter zu "retten" als große - die Zypern-Krise 2013 wirbelte deutlich weniger Staub auf als die Griechenland-Krise 2015. Aber das macht die Sache doch nicht wirklich besser, denn eigentlich sollte es solche "Rettungsaktionen" in einer Währungsunion überhaupt nicht geben müssen. Nicht nur, weil sie alle Beteiligten teurer zu stehen kommen als eine funktionierende Fiskalunion, sondern auch wegen den damit verbundenen demokratischen Legitimationsproblemen. Die Herrschaft der Troika (oder wie auch immer "die Institutionen" in Zukunft heißen mögen) kann ja wohl kaum das Ideal der Währungsunion sein.
LöschenUnd zweitens zur angenommenen Bereitschaft frisch abgespaltener Staaten, Kompetenzen an die EU abzugeben: Das würde voraussetzen, dass die EU zu dem Zeitpunkt der Abspaltung die Möglichkeit besitzt, diese Kompetenzen auch anzunehmen. Das mag für die Außenpolitik zum Teil zutreffen: Katalonien müsste nicht in der ganzen Welt Botschaften eröffnen, sondern könnte sich auf die Vertretungen des Europäischen Auswärtigen Dienstes stützen. Im Fall der Sicherheits-, Fiskal- und Sozialpolitik aber fehlen der EU derzeit die entsprechenden Kompetenzen. Und wenn es zum Zeitpunkt der Abspaltung keine europäische Armee und kein europäisches Steuersystem gibt, würde ein unabhängiges Katalonien – Aufwand hin oder her – natürlich seine eigene Armee und sein eigenes Steuersystem aufbauen. (Zu Letzterem gab es in den vergangenene Wochen übrigens bereits konkrete Vorbereitungen.) Und damit wäre die von dir angenommene Dynamik schon wieder vorbei.