Das
rechtswidrige Referendum in Katalonien und die Polizeigewalt beim
Versuch, die Abstimmung zu unterbinden, haben die Aufmerksamkeit der
europäischen Medien wieder auf das Thema Separatismus gelenkt. Nicht
nur in Katalonien, auch in zahlreichen anderen Gegenden Europas gibt
es mehr oder weniger klar definierbare Bewegungen, die ihre Region
von ihrem jeweiligen Land abspalten wollen: vom Baskenland über
Schottland und Flandern bis Norditalien, um nur einige der
bekanntesten und heißesten Fälle zu nennen. Und natürlich findet,
auf einer höheren Ebene, gerade eine weitere Abspaltung tatsächlich
statt: nämlich die des Vereinigten Königreichs von der Europäischen
Union.
In
der politischen Debatte wird die Europäische Union immer
wieder aufgefordert, zu den verschiedenen regionalen Konflikten
Stellung zu beziehen. In der Praxis vermeidet sie dies weitgehend
dadurch, dass sie diese Konflikte (wenigstens nach außen) jeweils
als interne Angelegenheiten abtut, die die einzelnen Staaten selbst
zu lösen hätten. Aber dieses Argument ist nicht allzu überzeugend.
Denn selbstverständlich würde eine Abspaltung Kataloniens oder
Flanderns von Spanien oder Belgien politische Wellen schlagen, die
auch weit jenseits der jeweiligen nationalen Grenzen zu spüren
wären.
Es
ist also nur legitim, auch von der EU zu verlangen, dass sie sich
eine Meinung zum Thema Separatismus bildet – und die EU, das sind
in diesem Fall wir alle. Was also ist zu halten von jener Forderung
nach Unabhängigkeit, die in immer mehr europäischen Regionen zu
hören ist?
Region
als scheinbare Zuflucht vor der Globalisierung
Zunächst
einmal sind all diese Konflikte natürlich auf ihre eigene Weise
gewachsen, sie haben ihre jeweils eigene Geschichte, ihre eigenen
Motive und ihre eigenen Logiken. In gewisser Hinsicht folgen sie
jedoch auch gemeinsamen Mustern, die sich zunächst in einem
Widerspruch zeigen: In allen betroffenen Staaten existieren nicht nur
längst demokratische Institutionen, sondern fanden in den letzten
Jahrzehnten auch teils drastische Dezentralisierungsmaßnahmen statt.
Von einer irgendwie gearteten „Unterdrückung“ regionaler
Identitäten kann heute keine Rede mehr sein. Dennoch haben die
Regionalbewegungen kaum an Virulenz verloren, sondern sind eher noch
stärker geworden als zuvor. Wie lässt sich das erklären?
Ein
möglicher Erklärungsansatz scheint mir die fortschreitende
Globalisierung zu sein. Die zunehmende staatenübergreifende
Verflechtung der Gesellschaften stellt frühere kulturelle
Gewissheiten in Frage und lässt politische Handlungsspielräume
kleiner werden. Viele Menschen haben deshalb das Gefühl, politischen
und wirtschaftlichen Entscheidungen ausgeliefert zu sein, auf die sie
selbst keinen Einfluss mehr nehmen können. Demgegenüber steht die
Region für das Vertraute: die Menschen, die man kennt, die Sprache,
die man selbst spricht. Sie bietet eine scheinbare Zuflucht vor all
den kulturellen und wirtschaftlichen Zumutungen der globalen
Integration und weckt ein Versprechen menschlichen und sozialen
Zusammenhalts.
Entsolidarisierung
und Selbstbestimmung
Gleichzeitig
steht der Separatismus allerdings oft auch für eine
Entsolidarisierung: So sind es auffallend häufig die reicheren
Regionen, die sich abspalten wollen, und die Vorstellung, vom
Zentralstaat „bestohlen“ zu werden, ist ein regelmäßig
vorzufindender Topos in der separatistischen Rhetorik. (Das
katalanische „Espanya ens roba“
entspricht in diesem Sinn dem norditalienischen „Roma
ladrona“ oder auch dem
350-Millionen-Pfund-Versprechen
des berüchtigten Brexit-Busses.) Regionalistische
Unabhängigkeitsbewegungen
haben damit politische
Anknüpfungspunkte sowohl zu
einer identitären Rechten und einer kommunitaristischen,
globalisierungsfeindlichen
Linken als auch zu einem
eigennutzorientierten
Liberalismus,
der soziale Umverteilung zu minimieren versucht, indem er sie
territorial stärker
eingrenzt.
Zusammen
fügt sich beides schließlich meist unter dem Schlagwort der
„Selbstbestimmung“ –
dem katalanischen „dret a decidir“ oder
dem britischen „take back control“.
Die Zugehörigkeit zu einer
größeren politischen Einheit wird dabei unmittelbar
mit Fremdbestimmung gleichgesetzt,
sodass Demokratie letztlich
nur durch regionale „Unabhängigkeit“
möglich erscheint.
Die
Idee der Unabhängigkeit ist trügerisch
Wie problematisch diese Idee ist, müssen die britischen Befürworter
einer Abspaltung von der Europäischen Union indessen gerade
schmerzhaft
bei den Brexit-Verhandlungen lernen. Denn der emotional
aufgeladene Begriff der politischen „Unabhängigkeit“ erweist
sich schnell als trügerisch, sobald man konkret über die Zeit nach
dem Austritt nachzudenken beginnt – und all die gesellschaftlichen
Verflechtungen sichtbar werden, die die Region, die sich abspalten
will, mit dem Land verbinden, von dem sie sich abspaltet.
Wer es ernst meint mit der „Unabhängigkeit“, der müsste auch
diese Verflechtungen kappen. Das aber wäre in aller Regel nicht nur
mit wirtschaftlichen Kosten, sondern auch mit menschlichem Leid in
einem so großen Ausmaß verbunden, dass die ganze Idee schnell an
Attraktivität verliert.
Die Abspaltung nur auf politischer Ebene durchzuführen und die
gesellschaftlichen Verflechtungen im Wesentlichen intakt zu lassen
(etwa durch die Anerkennung von Freizügigkeitsrechten für die
Bürger oder die weitere Mitgliedschaft in einem gemeinsamen Markt),
schafft hingegen nicht mehr, sondern weniger Demokratie. Denn
wo es gesellschaftliche Verflechtungen gibt, entstehen auch Probleme,
für die politische Antworten nötig sind. Durch die Abspaltung
können diese Antworten nicht mehr in gemeinsam gewählten
Institutionen gefunden werden, sondern nur noch in Form von
zwischenstaatlicher Diplomatie: ein aus demokratischer Sicht weitaus
unzureichenderes und unbefriedigenderes Modell.
Separatismus
ist für die Demokratie mehr Gefahr als Versprechen
Auch in Sachen Separatismus behält das in diesem Blog schon
wiederholt
erwähnte
Rodrik-Trilemma seine Gültigkeit, demzufolge man nicht gleichzeitig
eine grenzüberschreitend integrierte Wirtschaft, demokratische
Selbstbestimmung und nationale (oder, in diesem Fall: regionale)
Souveränität haben kann. Anders formuliert: Wo es einen gemeinsamen
Markt gibt, gibt es entweder eine gemeinsame Demokratie oder
überhaupt keine.
Die separatistische Idee von der „Unabhängigkeit“, die
gemeinsame politische Institutionen ablehnt, ist deshalb aus
demokratischer Sicht kein Versprechen, sondern eine Gefahr – und
zwar nicht nur für die „anderen“, von denen die Separatisten
sich abspalten wollen, sondern auch und in erster Linie für die
Menschen in der Region der Separatisten selbst.
Und
wenn Katalonien in der EU bliebe?
In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich der Brexit allerdings
von den regionalistischen Unabhängigkeitsbewegungen auf dem
Kontinent. Die Briten nämlich werden mit dem EU-Austritt tatsächlich
alle demokratischen Institutionen verlassen, die sie mit den übrigen
EU-Mitgliedstaaten teilen. Großbritannien und der Rest von Europa
wären zwar in verschiedenen internationalen Organisationen – der
WTO, der NATO, den Vereinten Nationen – weiterhin miteinander
verbunden. Doch keine dieser Organisationen bietet über die
multilaterale Diplomatie hinausgehende, effektive demokratische
Strukturen.
In Katalonien hingegen wollen selbst die überzeugtesten regionalen
Nationalisten nach einer Abspaltung von Spanien nach Möglichkeit
Mitglied der Europäischen Union bleiben. Die Katalanen wären den
übrigen Europäern – einschließlich den übrigen Spaniern –
also auch weiterhin über die politischen Institutionen der EU
verbunden. Spanier und Katalanen würden weiterhin ein gemeinsames
Parlament wählen, um ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu regeln; nur
wäre das eben nicht mehr der Congreso de los Diputados in
Madrid, sondern das Europäische Parlament in Brüssel.
(Ob es in der Praxis dazu käme, ist eine andere Frage: Bei einer
Abspaltung von Spanien müsste Katalonien die EU-Mitgliedschaft erst
wieder neu beantragen, und die spanische Regierung hat wiederholt
deutlich gemacht, dass sie gegen einen solchen Beitrittsantrag ihr
Veto einlegen würde. Aber wenigstens wenn es darum geht, die
Absichten der katalanischen Separatisten zu bewerten, macht der
Wunsch zu einem Verbleib in der EU einen Unterschied.)
Mehr
nationale Vetorechte beschädigen die EU-Demokratie
Wäre die Europäische Union heute bereits vollständig demokratisch,
so könnte eine solche Form der Abspaltung bei bleibender
Verbundenheit auf höherer Ebene wohl ohne allzu große demokratische
Verluste funktionieren. Schließlich werden die Gesetze, die den
gemeinsamen europäischen Markt regeln, ohnehin in Brüssel und nicht
in der nationalen Hauptstadt gemacht; und auch für viele andere
praktische Zwecke ist die Unionsbürgerschaft heute wichtiger als die
Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Mitgliedstaat. Wäre die EU also
eine voll ausgeprägte, eigenständige demokratische Ebene, so würde
die katalanische Frage (wenigstens aus demokratischer Sicht)
drastisch an Bedeutung verlieren.
Allerdings scheint mir die Demokratisierung der EU dafür noch nicht
weit genug vorangeschritten zu sein. Denn anders als die WTO oder die
Vereinten Nationen hat die EU zwar gewählte Organe, insbesondere das
Europäische Parlament. Doch auch in der EU spielen die nationalen
Regierungen bei wesentlichen Entscheidungen weiterhin die zentrale
Rolle: So nominiert bekanntlich jede nationale Regierung ein Mitglied
der Europäischen Kommission, und auch in vielen Fragen der
europäischen Steuer-, Sozial- und Haushaltspolitik oder des
europäischen Wahlrechts besitzt nach wie vor jede nationale
Regierung ein Vetorecht.
Diese nationalen Vetorechte machen die europäische
Entscheidungsfindung nicht nur schwerfälliger, sondern beschädigen
auch ihre demokratische Qualität – und je mehr Akteure darüber
verfügen, desto problematischer werden sie. Würde Katalonien ein
eigenständiges Mitglied der Europäischen Union, so müsste nicht
nur ein eigenständiger katalanischer EU-Kommissar versorgt werden;
es gäbe auch ein Land mehr, das im Ministerrat aus Eigennutz
wichtige Entscheidungen blockieren könnte.
Entsolidarisierung
destabilisiert die Währungsunion
Und
nicht nur das: Wie die
Wirtschaftswissenschaft seit vielen Jahren weiß, ist eine
Währungsunion ohne ein gemeinsames Steuer- und Sozialsystem anfällig
für asymmetrische Schocks und damit instabil. In der EU fehlen
solche Stabilisatoren bis
heute, was in der Eurokrise
fatale Folgen zeigte.
Seitdem wird über
verschiedene Möglichkeiten
dafür diskutiert,
ohne dass bislang eine ganz
konkrete Lösung in Sicht
wäre. Immerhin können aber
die nationalen Solidarsysteme
asymmetrische Schocks
wenigstens auf nationaler
Ebene abfedern.
Für die Eurozone insgesamt ist das nicht genug –
aber ohne sie wäre der Euro noch instabiler.
Auch
hier gilt also: Wäre die
europäische Währungsunion
bereits tief genug integriert, so würde
es keine große Rolle spielen, ob Spanien
allein oder Spanien und Katalonien jeweils einzeln darin Mitglied
sind. Doch so,
wie die Dinge heute stehen, würde eine Abspaltung Kataloniens vom
gesamtspanischen Steuer- und Sozialsystem die
Anfälligkeit der Eurozone für asymmetrische Schocks weiter
erhöhen. Ohne ein Minimum interregionaler Transfers kann eine Währungsunion nicht funktionieren. Der
katalanische Versuch, sich gegenüber Spanien zu entsolidarisieren,
würde deshalb zu
einem Problem, das weit über
die spanisch-katalanischen Grenzen hinausragt.
Mit einer vollen EU-Demokratie verlöre Separatismus an Bedeutung
Wie
also sollte sich die EU gegenüber
den regionalen Abspaltungsbewegungen in zahlreichen ihrer
Mitgliedstaaten positionieren? Die
Lage in Katalonien ist in den letzten Wochen und
Tagen so heftig aufgekocht,
dass das Wichtigste heute
sicher das Schlichten ist –
und wahrscheinlich wäre mittelfristig ein allseitig
abgesprochenes Referendum mit hinreichenden Verfahrensgarantien und
Schutzrechten das beste Mittel, um den Konflikt zu befrieden und
weitere Gewalt zu verhindern.
Zugleich
aber scheint mir, dass die EU
nach dem heutigen Stand der
Dinge kein Interesse daran haben kann, dass sich Regionen
von ihren Mitgliedstaaten „unabhängig“ machen und damit die
demokratische Qualität der
politischen Entscheidungen beschädigen, die alle
gemeinsam angehen. Nur wenn
die EU selbst zu einer voll ausgeprägten Demokratie würde, könnte
es uns
(weitgehend)
gleichgültig sein, wie genau
die darunter liegende Ebene
im Einzelnen gegliedert ist.
Bild: Núria [CC BY-SA 2.0], via Flickr.
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