Das Spitzenkandidaten-Verfahren sollte die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten demokratischer machen, aber unumstritten war es nie. Woran ist es 2019 gescheitert? Und wie ließe es sich reformieren? Auf diese Fragen antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Heute: Julian Rappold. (Zum Anfang der Serie.)
- „Dass diesmal keiner der Spitzenkandidaten zum Zuge kam, bedeutet keineswegs, dass das Verfahren gleich wieder aufgegeben werden muss. Doch seine Mängel sollten entschlossen behoben werden.“
Die Europawahl 2019 hat dem
Spitzenkandidatenverfahren einen herben Dämpfer versetzt. Die Empörung im
Europäischen Parlament war groß, als der Europäische Rat Ursula von der
Leyen nach einem langen Machtpoker als Kandidatin für das Amt der
Kommissionspräsidentin aus dem Hut zauberte. Schließlich war sie nicht als
Spitzenkandidatin einer der europäischen Parteienfamilien im Europawahlkampf
ins Rennen gegangen.
Doch das Verfahren sollte
keineswegs zu Grabe getragen werden. Gerade weil das Parlament als einzig
direkt gewähltes EU-Organ durch die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung von den
Bürgern Europas gestärkt wurde, sollte der Prozess in fünf Jahren wieder
Anwendung finden. Es geht weiterhin darum, dass sich die parlamentarische
Mehrheit an der Führungsspitze der zukünftigen Europäischen Kommission
widerspiegeln sollte – ein modifiziertes Spitzenkandidatenverfahren ist hierfür
ein zentraler Baustein.
Bleibender interinstitutioneller Schaden
Ursula von der Leyen wurde vom
Europäischen Parlament mit einer Mehrheit von nur neun Stimmen an die Spitze
der Europäischen Kommission gewählt, nachdem der Europäische Rat das
Spitzenkandidatenverfahren ignoriert und sie zur Kandidatin gekürt hatte. Das knappe
Ergebnis trotz offizieller Unterstützung der konservativen EVP, der
sozialdemokratischen S&D und der liberalen Renew-Europe-Fraktion (vormals
ALDE) spiegelte die Frustration und Empörung vieler Abgeordneter über den
intransparenten Machtpoker wider.
Seither hat es von der Leyen
nicht vermocht, den interinstitutionellen Schaden, der durch die Ausbremsung
der Spitzenkandidaten durch den Europäischen Rat entstanden ist, zu beheben. Das
Verfahren fiel am Ende der dreifachen Schlacht zwischen Parteienfamilien,
Institutionen und Mitgliedstaaten zum Opfer. Das Verhältnis zwischen dem
Parlament einerseits und Kommission und Europäischem Rat andererseits scheint seither
nachhaltig belastet zu sein. Dies wurde auch in den Anhörungen der zukünftigen
Kommissare und der Ablehnung der Französin Sylvie Goulard durch das Europäische
Parlament deutlich.
Das Spitzenkandidatenverfahren ist gekommen, um zu bleiben
Dass diesmal keiner der
Spitzenkandidaten zum Zuge kam, bedeutet jedoch keineswegs, dass das nun zum
zweiten Mal erprobte Verfahren gleich wieder aufgegeben werden muss. Die
unterschiedlichen politischen Umstände, in denen sich das Verfahren bewähren
musste, zeigen jedoch die Mängel und den damit verbundenen notwendigen
Anpassungsbedarf deutlich auf. Diese sollten entschlossen behoben werden, ohne
jedoch die politischen Realitäten außer Acht zu lassen.
Von der Leyen kündigte in ihrer Vorstellungsrede vor den Abgeordneten bereits an, in ihrer Amtszeit gemeinsam mit Kommission und Parlament an einer Reform des
Spitzenkandidatenverfahrens arbeiten zu wollen. Eine Reform bedarf jedoch nicht
nur des Dialogs mit dem Europäischen Parlament, sondern auch des
Einverständnisses des Europäischen Rates. Der große Wurf – sprich: eine
Vertragsänderung – ist in der aktuellen europapolitischen Gemengelage nicht
durchsetzbar. Dennoch gibt es genug Spielraum für Reformen im Rahmen der
bestehenden Verträge, die mit ausreichend Vorlaufzeit vor den Europawahlen 2024
verabschiedet werden sollten.
Eine wirkungsvolle Reform muss dabei
den vollständigen Prozess von der Nominierung der Spitzenkandidaten durch die
Parteienfamilien über die Rolle der Spitzenkandidaten in der Europawahl bis hin
zu einem zwischen Parlament und Europäischem Rat abgestimmten Verfahren für den
Nominierungsprozess im Blick behalten.
Spitzenpersonal als Spitzenkandidaten
Bereits die Kür der
Spitzenkandidaten durch die europäischen Parteienfamilien deutete darauf hin,
dass es zum Konflikt zwischen Parlament und Europäischem Rat kommen würde.
Gerade die EVP unterschätzte die offensichtliche Kritik an der fehlenden
Exekutiverfahrung ihres Spitzenkandidaten Manfred Weber und die damit
verbundenen Widerstände im Europäischen Rat – allen
voran vonseiten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Gerade das Beispiel Jean-Claude
Junckers hat gezeigt, dass die Staats- und Regierungschefs „einem der ihren“
mit mehr Respekt und Anerkennung begegnen und damit einen solchen Spitzenkandidaten
eher für das Amt des Kommissionspräsidenten in Erwägung ziehen würden. Auch
Ursula von der Leyen konnte sich als langjährige Bundesministerin in diversen
Ressorts auf europäischer Ebene einen Namen machen und sich über die
Zusammenarbeit im Rahmen des Ministerrats ein weit verzweigtes Netzwerk in den
Hauptstädten Europas aufbauen.
Exekutiverfahrung und Mehrsprachigkeit als Schlüsselkriterien
Deshalb sollten alle Parteienfamilien
nur richtiges Spitzenpersonal mit Exekutiverfahrung für das Amt des
Kommissionspräsidenten ins Rennen schicken, um das Spitzenkandidatenverfahren
langfristig aufzuwerten. Die Parteienfamilien sollten Erfahrung als
Regierungschef, Minister oder Kommissar in der Europäischen Kommission zum
zentralen Kriterium der Spitzenkandidatenkür machen. Denn der Kandidat muss
nicht nur in der Lage sein, im Parlament eine Mehrheit auf sich zu vereinen,
sondern auch im Europäischen Rat bestehen und dort Ansehen genießen. Im Vorfeld
der in Erklärung 11 zu Art. 17 Abs. 6 und 7 EU-Vertrag festgeschriebenen Konsultationen
zwischen dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament zur Nominierung eines
Kandidaten nach der Europawahl könnten beide Institutionen bereits vorab
einvernehmlich Eigenschaften und Qualifikationen der Kandidaten als festen
Rahmen festlegen.
Auch Mehrsprachigkeit sollte in
diesem Zusammenhang als notwendige Profileigenschaft festgehalten werden. Dies
würde die Sichtbarkeit des Spitzenkandidatenverfahrens im Wahlkampf und damit
auch dessen Legitimation deutlich stärken. Gerade der amtierende
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, aber auch der niederländische
Sozialdemokrat Frans Timmermans haben vorgemacht, wie hilfreich
Sprachkenntnisse in der Ansprache möglichst vieler Europäer sind.
Mit transnationalen Listen die Spitzenkandidaten stärken
Auch im Zuge des Wahlvorgangs der
Europawahl sollte das Spitzenkandidatenverfahren weiter gestärkt und zusätzlich
legitimiert werden. Bisher können die von Parteienfamilien nominierten
Spitzenkandidaten allenfalls in ihrem eigenen Land, aber nicht europaweit, gewählt
werden. Mit transnationalen Listen wäre hingegen der Grundstein für eine Europäisierung
nationaler Wahlkämpfe gelegt, da jede europäische Parteienfamilie automatisch
einen Spitzenkandidaten hätte, der für alle Europäer wählbar wäre. Damit würde
das Spitzenkandidatenverfahren auf einem festen Fundament stehen, zumal es auch
unmittelbar im Wahlrecht verankert wäre.
Während transnationale Listen
insbesondere im französischen Präsidenten Emmanuel Macron einen prominenten
Fürsprecher haben, war jedoch das Europäische Parlament – und hier insbesondere
die konservative EVP – selbst dafür verantwortlich, dass die Diskussion um
transnationale Listen im Vorfeld der Europawahl 2019 im Keim erstickt wurde. Im
Februar 2018 stimmte eine Mehrheit der Abgeordneten
gegen die Einführung transnationaler Listen. Deren Fehlen war dann auch
ein Grund, weshalb sich die liberale ALDE überraschenderweise weigerte, am
Spitzenkandidatenverfahren teilzunehmen, und stattdessen ein Projektteam
bestehend aus sieben Mitgliedern ins Rennen schickte – ein weiterer Beitrag zur
Delegitimation des Spitzenkandidatenverfahrens bei dieser Europawahl.
Vor dem Hintergrund der
diesjährigen Nominierungserfahrung sollte Ursula von der Leyen die Einführung
transnationaler Listen noch einmal auf der politischen Agenda platzieren und
gemeinsam mit dem Parlament einen Vorschlag erarbeiten, der bisherige
Vorbehalte ausräumt.
Die parlamentarische Mehrheit zählt
Zuletzt muss der Blick auf den
Nominierungsprozess im Anschluss an das Wahlergebnis gerichtet werden. Nach der
Europawahl 2014 herrschte insbesondere in der EVP die Sicht vor, dass die
größte Fraktion im Parlament automatisch Anrecht auf den Kommissionspräsidenten
habe. Gerade die liberale Renew-Europe-Fraktion und mit ihr vor allem
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kritisierten diese Lesart, da sie die
beiden großen europäischen Parteienfamilien strukturell bevorzuge.
Das Wahlergebnis von 2019 zeigt
nun deutlich, dass der Anspruch der EVP in seiner Klarheit und seinem
Automatismus nicht durchzuhalten ist. In der neuen Legislaturperiode bedarf das
neue Parlament der Kooperation dreier Fraktionen, um eine parlamentarische
Mehrheit zu bilden. Auf dieser Grundlage kann die Fraktion mit relativer
Mehrheit nur schwerlich den Wahlsieg und damit den Anspruch auf den Posten des
Kommissionspräsidenten für sich reklamieren.
Der Zeitplan nach der Wahl muss verbessert werden
Im Umkehrschluss bedeutet dies: Die
parlamentarische Mehrheit muss sich an der Spitze der Europäischen Kommission
widerspiegeln. Nur ein Spitzenkandidat, der vorab in der Wahlkampagne sichtbar
war und der eine Mehrheit im Europäischen
Parlament organisieren kann, sollte Kommissionspräsident werden. Das Parlament
und der Europäische Rat sollten deshalb in einen Dialog darüber eintreten, wie
die Prozesse und der Zeitplan im Nachgang zur Europawahl optimiert werden
können, um den Abgeordneten mehr Zeit einzuräumen, eine solche Mehrheit zu
organisieren. Zwar war allen Beteiligten im Parlament die enge Taktung der
Entscheidungsfindung nach der Europawahl bekannt. Doch die komplexe
Ausgangslage mit der bisher nicht dagewesenen Notwendigkeit, im Dreier- oder
Viererrahmen Koalitionsgespräche führen zu müssen, verlangsamte die internen
Entscheidungsfindungsprozesse deutlich.
Die Erfahrung 2019 zeigt jedoch auch: das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates hat weiterhin Bestand. Für den
Fall, dass das Parlament wie 2019 keine Mehrheit organisieren kann, obliegt es weiterhin
dem Europäischen Rat, einen Kandidaten vorzuschlagen. Doch dass das Parlament wie
im Fall von Ursula von der Leyen eine Kandidatin des Europäischen Rates in
kürzester Zeit abnicken soll, die sich zu entscheidenden Zukunftsfragen der EU
öffentlich nicht positioniert hatte, ist nicht tragbar.
Deshalb muss es auch für diesen Fall eine Regelung geben, in der der vorgeschlagene Kandidat mehr Zeit
eingeräumt bekommt, ein detailliertes Programm zu erarbeiten, welches dann im Rahmen einer parlamentarischen Anhörung vorgestellt und vom Parlament geprüft
wird. Die Nachwehen im Nachgang von von der Leyens Wahl mit Blick auf die Zusammenstellung ihres Teams und die damit einhergehende Verschiebung ihres Amtsbeginns zeigen deutlich auf, was passiert, wenn ein Kandidat es nicht vermag, eine nachhaltige, pro-europäische parlamentarische Mehrheit hinter sich zu versammeln.
Ohne Reformen droht ein dauerhaft schwelender Machtkampf
Das Spitzenkandidatenverfahren wurde durch die diesjährige Europawahl mit einem intransparenten Machtpoker und der Nichtberücksichtigung der angetretenen Spitzenkandidaten massiv in Frage
gestellt. Nun ist es an der Nicht-Spitzenkandidatin und neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, gemeinsam mit dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat pragmatische Reformen zu erarbeiten, um das Verfahren an neue politische Realitäten anzupassen und als bleibende institutionelle Praxis zu etablieren.
Sollte dies nicht gelingen, riskieren beide Institutionen einen dauerhaft schwelenden Machtkampf, der sich auf die Funktionsweise der EU nachhaltig negativ auswirken würde. Sollte das Spitzenkandidatenverfahren zudem ein weiteres Mal keine Anwendung finden, würde es wohl endgültig zur institutionellen Eintagsfliege und in der Versenkung verschwinden.
Julian Rappold ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Alfred-von-Oppenheim-Zentrum für europäische Zukunftsfragen der
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
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Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens – Artikelübersicht
- Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
- Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
- Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
- Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
- Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
- Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
- Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten [FR / DE] ● Charles Goerens
- Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller
Bilder: Spitzenkandidaten-Debatte: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Porträt Julian Rappold: Per Jacob Blut [alle Rechte vorbehalten].
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